Die Inschriften der Stadt Hildesheim

5. Inschriften und Inschriftenträger

5. 1. Grabinschriften81)

Von den 204 Grabinschriften des Hildesheimer Bestands sind 100 erhalten und 104 kopial überlie­fert. 15 davon stammen aus dem 11. und 12. Jahrhundert, eine weitere (Nr. 70) aus dem 13. und 62 aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Der größte Teil mit 126 Grabinschriften entfällt auf die Zeit von 1500 bis 1650. Diese angesichts des großen Überlieferungszeitraums geringe Zahl – für die Stadt Braunschweig sind allein aus den Jahren 1529 bis 1671 332 Grabinschriften überliefert – ist bedingt durch die früh einsetzende Entfernung der Grabdenkmäler aus den Kirchen, die durch Abschriften und Zeichnungen nur in sehr geringem Maße ausgeglichen wurde. Abgesehen von den Grabdenk­mälern für die Domkanoniker aus dem 16. und 17. Jahrhundert ist der überlie­ferte Bestand durch­aus uneinheitlich und ohne historische Kontinuität. Doch weist er einige Einzelstücke auf, die im Hinblick auf die Texte wie auf die künstlerische Gestaltung der Denkmäler Beachtung verdienen.

Bei den Hildesheimer Grabdenkmälern handelt es sich überwiegend um Platten, mit denen die Gräber bedeckt waren. Epitaphien und Totenschilde, deren Anbringung nicht an den Begräbnis­platz gebunden ist,82) sind in geringerer Zahl bezeugt. Für die Zeit vor 1300 sind nahezu aus­schließlich hochrechteckige Grabplatten überliefert, die, wie ihre Ausführung mit abgeschrägten Rändern zeigt, ursprünglich wohl überwiegend als Deckplatten von Hochgräbern gedient haben. Zwei davon bilden den Verstorbenen ab (Nr. 27 u. 45), eine weitere (Nr. 46) zeigt den Toten als in Tücher gehüllten Leichnam, während seine Seele als „Eidolon“ von Engeln in den Himmel getra­gen wird. Die übrigen Grabplatten sind mit verschiedenartigen Darstellungen versehen wie etwa den Symbolen der vier Evangelisten (Nr. 12 u. 29), einem Kreuz des arbor vitae-Typs (Nr. 12) oder der Dextera Dei (Nr. 29). Auf dem Deckel des Bernward-Sarkophags stehen neun Engel zwischen Wolken als Bild für den Himmel mit den himmlischen Engelchören (Nr. 11). Die übrigen Grab­platten (Nr. 8, 23 u. 39), wie auch die zwei ursprünglich in das Innere des Grabes gelegten Stein­tafeln (Nr. 35 u. 43), tragen keine bildlichen Darstellungen.

Die auf den Grabdenkmälern angebrachten Sterbevermerke entsprechen bis zum Ende des 12. Jahrhunderts der Form eines Nekrologeintrags: Sie bestehen aus dem Namen des Verstorbe­nen, dem Prädikat obiit und der Angabe des Todestages (Nr. 8, 23, 27 u. 35B). Damit enthalten sie die wichtigsten Daten für eine eindeutige Identifizierung der Grabstätte und für die Feier der [Druckseite 44] liturgi­schen Memoria. Das vollständige Todesdatum, das auch das Todesjahr einschließt, ist im Hildes­heimer Bestand zum ersten Mal auf der Sargtafel Bischof Bernhards († 1153) belegt, die im Inneren des Grabes lag.83) Das erste sichtbare komplette Todesdatum befindet sich auf der Grab­platte des 1190 verstorbenen Bischofs Adelog (Nr. 45). Unsicher bezeugt ist ein älterer Beleg für die Nen­nung eines Todesjahrs auf der angeblichen Grabplatte des Bischofs Godehard (Nr. 21). Außer den individuellen Daten enthalten die frühen Grabinschriften meist bibel- und liturgienahe Texte, die sich auf das Himmelreich (Nr. 39), das Jüngste Gericht (Nr. 46D) und die Auferstehung (Nr. 12) beziehen. Den originellsten Text dieser Art bilden die sechs kämpferischen Hexameter (Nr. 39), die dem Menschen die Eroberung des Himmels durch ernsthafte christliche Pflichterfül­lung empfeh­len. Die drei aus diesem Zeitraum überlieferten verlorenen Versepitaphien für die Hildes­heimer Bischöfe Bernward (Nr. 19) und Bernhard (Nr. 35C) sowie für Bischof Benno von Oldenburg (Nr. 20) binden nur die biographischen Daten in die üblichen Grabschriftentopoi ein. Vor dem Hinter­grund dieser drei konventionellen Versepitaphien hebt sich das individuell formu­lierte Grabgedicht Bischof Bernwards (Nr. 12 Pars hominis... ) deutlich ab als ein wirkliches Selbst­zeugnis, das von christlicher Demut wie von menschlichem Stolz gleichermaßen geprägt ist.

Aus dem 13. Jahrhundert ist nur die Grabplatte für den 1279 verstorbenen Bischof Otto I. überliefert (Nr. 70). Sie setzt mit der ganzfigurigen Darstellung des Verstorbenen und der Erwäh­nung seiner wichtigsten Erwerbung die bereits an der Adelog-Grabplatte zu beobachtenden Ele­mente eines bischöflichen Grabdenkmals fort. Andere Charakteristika wie die Anbringung der Inschrift als vierseitige Umschrift, die Verwendung des Formulars Anno Domini, der Verweis auf die hohe Abkunft des Verstorbenen und die Ausführung des Textes auf einer hochwertigen Metall­grabplatte stellen die Grabplatte Bischof Ottos I. an den Anfang einer schmalen Tradition des bis in das späte Mittelalter fortgesetzten typischen Hildesheimer Bischofsgrabdenkmals (Nr. 77, 97 u. 169). Das einzige frühneuzeitliche Grabmal für einen Bischof (Nr. 424) ist von anderer Art.

Die einigermaßen kontinuierliche Überlieferung der Grabinschriften für die Angehörigen der geistlichen Institutionen setzt mit dem Beginn des 14. Jahrhunderts ein. Aus der ersten Jahrhun­derthälfte sind überwiegend fragmentarische Inschriften überliefert, die aber bereits die bis zum Ende des Erfassungszeitraums nahezu konstante Textstruktur der üblichen Grabschriften für Kanoniker erkennen lassen: Sie sind in lateinischer Prosa formuliert und bestehen meistens aus einem schlichten Sterbevermerk – Begräbnisvermerke sind deutlich seltener – mit Angabe des Todestages nach dem Heiligen- und Festkalender, der Nennung der wichtigsten Ämter und des Weihegrades sowie einer seit 1375 (Nr. 100) meistens in der Form requiescat in pace ausgedrückten Fürbitte. Im 16. Jahrhundert wird dieses Formular erweitert um die erworbenen akademischen Grade (z. B. Nr. 262, 307 u. 319) oder um ausführlicher registrierte Ämter (z. B. Nr. 319). Detail­liertere Angaben zur Biographie der Verstorbenen sind diesen Grabinschriften nicht zu entnehmen. Dieser Form entsprechen etwa 75 Grabinschriften aus dem Zeitraum von 1400 bis 1650. Da sie überwiegend kopial überliefert sind, könnte der Verdacht aufkommen, daß die Abschreiber die Inschriften auf die bloßen Sterbevermerke reduziert haben. Der Vergleich mit den wenigen erhaltenen Grabdenkmälern für Kanoniker aus dieser Zeit (z. B. Nr. 211 u. 484) zeigt aber, daß die Grabinschriften tatsächlich in diesem schlichten Formular gehalten waren. Devisen und Bibelzitate sind offenbar nur in Ausnahmefällen auf den Denkmälern angebracht gewesen und werden dem­entsprechend auch in der kopialen Überlieferung berücksichtigt (Nr. 148 u. 527).

Neben den Prosatexten sind für einige wenige Angehörige der kirchlichen Institutionen auch Versgrabschriften überliefert. Im 14. und frühen 15. Jahrhundert sind diese Texte mit ihren umständlichen, müh­sam in das hexametrische Versmaß gepreßten Umschreibungen des Todesjahrs (Nr. 78, 88, 97, 104, 126 u. 136) der Struktur nach meistens nichts anderes als metrisch gefaßte Sterbe- und Begräbnisvermerke. Ausführlichere Versinschriften mit biographischen Informationen sind die Ausnahme (Nr. 126 u. 159). Isoliert steht das 22 Verse umfassende, nicht näher datierte Grabge­dicht für Lippold von Stöckheim (Nr. 89). In der frühen Neuzeit wird die Tradition des [Druckseite 45] lateinischen Versepitaphs für die Angehörigen der geistlichen Institutionen mit Ausnahme der Grabschrift für den 1546 verstorbenen Domkanoniker Arnold Freitag (Nr. 354) nicht fortgesetzt.

Über die Ausführung der Grabdenkmäler lassen sich aufgrund der sehr knappen Beschreibun­gen in der kopialen Überlieferung und der zudem geringen Zahl erhaltener Beispiele nur wenige Angaben machen. Im 14. Jahrhundert stehen Umschriftplatten, in deren Innenfeld ein Scheiben­kreuz auf einem Bogensockel angebracht ist (Nr. 81, 86, 92 u. 93), neben figürlichen Dar­stellungen des Verstorbenen als Stand- oder Liegefigur. Hinsichtlich der Qualität sowohl der Darstellungen wie auch der Inschriften sind die ursprünglich im Alten Paradies des Doms ange­brachten Metall­grabplatten für die Kanoniker aus der Familie von Hanensee (Nr.126, 174 u. 211) aus dem 15. Jahrhundert und für die Domherren Dietrich von Alten (Nr. 262), Hermann Berkenfeld (Nr. 293) und Levin von Veltheim (Nr. 319) aus dem 16. Jahrhundert besonders hervorzuheben. Die zuletzt genannte, 1531 gegossene Metallplatte ist die letzte dieser Art im Bestand. Die Überlieferungssitua­tion läßt vermuten, daß nach dem ersten Drittel des 16. Jahrhunderts die Ganz-Metallplatte von Grabplatten aus Stein mit eingelegten Metallteilen abgelöst wurde. Bei diesen befand sich üblicher­weise in der Mitte eine Metalltafel mit einem Wappen und der Grabschrift (z. B. Nr. 287) sowie in den meisten Fällen eine vierteilige Ahnenprobe in den Ecken der Platte (z. B. Nr. 515 u. 590). In einzelnen Fällen wird die Grabschrift auch als vierseitige Umschrift auf einem Metallrahmen ausge­führt gewesen sein. Von solchen Platten hat sich aus der Zeit vor 1650 aller­dings kein Exemplar erhalten. Sie dürften in Form und Ausführungstechnik etwa den späteren Grabdenkmälern für Franz Anton von Wissocque († 1665) oder für Theodor von Kettler († 1668) entsprochen haben.84) Eine Sonderform innerhalb der Hildesheimer Grabdenkmäler bilden die im Kreuzgang des Stifts Heilig Kreuz erhaltenen querrechteckigen Steintafeln mit zeilenweise angebrachten Inschriften (z. B. Nr. 100, 104 u. 106f.).

Für Angehörige des städtischen Bürgertums und für Adelige sind bis zur Reformation nur 19 Grabinschriften überliefert, insgesamt 14 davon sind im Original erhalten. Die Inschriften, deren älteste sich auf der Grabplatte der Offenia von 1301 (Nr. 67) befindet, sind überwiegend als schlichte Sterbevermerke mit einer Fürbitte formuliert, lediglich für zwei im Rahmen der Hildesheimer Stiftsfehde Gefallene (Nr. 300 u. 303) sind Grabschriften in deutschem Reimvers bezeugt. Über die Ausführung der Grabdenkmäler sind aus der sporadischen Überliefe­rung kaum generelle Erkenntnisse zu gewinnen. Die vier für bürgerliche Ehepaare angefertigten Grabplatten (Nr. 193, 195, 229 u. 235) aus dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts sind mit flacherhabenen Figuren der Verstorbenen versehen. Die Adeligen Burchart von Steinberg († 1379, Nr. 103) und Schonetta von Nassau († 1436, Nr. 150) sind auf ihren Grabdenkmälern als Ganzfiguren dargestellt: Burchart von Steinberg in Rüstung, zu seinen Füßen ein Hund, zu Füßen der Schonetta von Nassau ein Löwe.

In der nachreformatorischen Zeit sind die Grabinschriften für Bürgerliche und für Angehörige des Adels im Unterschied zu denen der Geistlichkeit überwiegend in deutscher Prosa abgefaßt, lediglich die Devisen einzelner Familien bleiben lateinisch (z. B. Nr. 448, 480 u. 716). Für lateini­sche Grabinschriften, wie sie in einigen anderen niedersächsischen Städten durchaus reprä­sentativ für die Angehörigen der städtischen Führungsschicht oder für evangelische Pastoren sind,85) gibt es in Hildesheim aufgrund der bereits beschriebenen Überlieferungssituation nur einige wenige Bei­spiele: Zwei lateinische Versepitaphien sind für Angehörige der Familien Kniphoff (Nr. 463) und Brandis (Nr. 476) bezeugt, hinzu kommen insgesamt vier lateinische Prosagrabschriften (Nr. 525, 535, 659 u. 696). Ein besonderes Bildungsbewußtsein demonstriert das viersprachige Epitaph für das Ehepaar Alexander Blecker und Katharina Farken (Nr. 619) aus der Neustädter St. Lamberti-Kirche. Über die Formen der Grabdenkmäler für Bürgerliche und Adelige läßt sich wegen der lückenhaften Überlieferung nur wenig Sicheres sagen. Das mehrteilige Renaissance-Epi­taph ist lediglich in zwei Exemplaren (Nr. 535 u. 661) nachzuweisen. Die meisten der erhaltenen Denkmäler sind als hochrechteckige Grabplatten mit einer Darstellung der Verstorbenen im Innen­feld ausgeführt (z. B. Nr. 480, 507, 649 u. 708). Ausschließlich mit dem Text der Grabschrift und [Druckseite 46] dem Wappen des Verstorbenen versehen ist die Grabplatte für Hans Wildefüer (Nr. 666) aus dem Jahr 1625. Eine Ahnenprobe für bürgerliche Verstorbene findet sich nur auf dem für den Bürger­meister Henni Arneken und seine Ehefrau errichteten Grabdenkmal (Nr. 535).

5. 2. Hausinschriften

Von den 166 Inschriften an privaten Wohnbauten und Kurien sind nur noch 23 erhalten, davon befinden sich acht Inschriften zumindest teilweise noch an ihrem originalen Standort, die übrigen werden im Roemer-Museum aufbewahrt oder sind als Spolien vermauert. Hinzu kommen noch etwa 90 Initialen und Baudaten, die auf den Seiten 869–900 zusammengefaßt sind. Trotz der hohen Verluste infolge der Abrißmaßnahmen des 18. und 19. Jahrhunderts und der Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg bilden die Hausinschriften dank günstiger Überlieferungsumstände (vgl. S. 42f.) einen einigermaßen geschlossenen Teilbestand, der etwa das Bild wiedergibt, das sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts präsentiert hat.

Die bürgerlichen Wohnbauten und die Kurien waren überwiegend in Fachwerk,86) zum Teil mit massivem Untergeschoß gebaut, Steinhäuser waren die Ausnahme (Nr. 226, 379 u. 467). Die teils giebelständig, teils traufenständig zum Straßenverlauf stehenden Fachwerkhäuser hatten in der Regel ein hohes Untergeschoß, das oft von einer Durchfahrt zu den hinteren Gebäudeteilen unter­brochen war, ein niedriges Zwischengeschoß und mehrere vorkragende, durch Konsolen (Knaggen) gestützte Obergeschosse. Seit dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts wurden die Fassaden der Hildesheimer Fachwerkhäuser analog zu den Steinbauten (Nr. 379, 444 Stein u. Fachwerk u. 467) durch Erker plastisch gestaltet. Der älteste inschriftentragende Erker aus dem Jahr 1577 ist im Brühl 7 erhalten (Nr. 437). Die Inschriften der Fachwerkfassaden waren üblicher­weise auf den Schwellbalken und den Türstürzen sowie meist in Kombination mit figürlichen Darstellun­gen in den Brüstungstafeln der einzelnen Geschosse angebracht. Der durch Erkervor­bauten cha­rakterisierte Zeitraum von 1575 bis 1625 ist in Hildesheim die produktivste Zeit des privaten Wohnbaus. Entsprechend reich und vielfältig ist auch der Inschriftenbestand dieser Jahre,87) zumal die Erker dank ihrer exponierten Position bevorzugte Orte für die Anbringung von Inschriften waren. Nach dem ersten Viertel des 17. Jahrhunderts läßt sich in Folge der Belagerungen und der hohen Kontributionszahlungen während des Dreißigjährigen Kriegs ein Stillstand in der Bautätig­keit beobachten.

Die Hausinschriftenüberlieferung setzt mit einem am ehemaligen Haus Alter Markt 54 im Jahr 1418 angebrachten Baudatum ein (JZ 1418). Eine weitere, ausführlichere Bauinschrift, in der auch der Name des Bauherrn genannt ist, stammt aus dem Jahr 1463 (Nr. 177). Bis etwa 1525 bieten die wenigen überlieferten Inschriften an Privatbauten nicht mehr als Erbauernamen und Baudaten.88) Auch die aus diesem Zeitraum von den Kurien überlieferten Texte gehen inhaltlich nicht wesent­lich darüber hinaus, präsentieren diese Informationen aber textlich breiter entfaltet und im Einzel­fall sogar in Versform. Zusätzlich erwähnen sie hin und wieder die Vorbesitzer (Nr. 222 u. 309) und weisen ausdrücklich darauf hin, daß der Bauherr sein Werk aere suo (Nr. 220, 380 u. 428), also aus eigenen Mitteln, finanziert habe. Seit dem zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts finden sich an den Häusern neben den reinen Bauinschriften die ersten Sprüche und sprichwörtlichen Texte (z. B. Nr. 200 u. 222). Thematisch sind sie um die Mitte des 16. Jahrhunderts vor allem von einer alge­meinen Klage über die Zeit bestimmt (Nr. 323), die im einzelnen den Verlust an Einheit im Glauben (Nr. 351), die Erschütterung der Kirche (Nr. 222) oder den Verlust zuverlässiger und [Druckseite 47] einheitlicher Maße (Nr. 351) zum Gegenstand hat. Besondere Betroffenheit durch die Zeitum­stände bringen die Inschriften an der Kurie des Dechanten an Heilig Kreuz, Johannes Oldecop, zum Ausdruck, der 1549 seine eigene Zeit als tempus persecutionis bezeichnet (Nr. 222). Am Haus Neustädter Markt 15 wird die Zeitklage in das antike Bild von den aus der Welt auswandernden Tugenden (Nr. 368) gefaßt. Die übrigen sprichwörtlichen Texte, die nach der Mitte des 16. Jahr­hunderts reichlich belegt sind, beziehen sich zu einem großen Teil auf das Bauen selbst, wie z. B. der seit 1559 (Nr. 386) insgesamt 13mal belegte Spruch Wer Gott vertraut hat wohl gebaut – in der Hildesheimer Version Wol Gott vortruwet hefft woll gebuwet dat ohme nich geruwet (Nr. 597) – oder die den Anfang von Psalm 126/127 paraphrasierende Sentenz Wenn Gott nicht selbst bauet das Haus (Nr. 596). Das Thema des „irdischen“ Bauens gibt öfter Gelegenheit, im Sinne der Bibel an die nötige Sorge um die künftige Wohnung im Himmel zu gemahnen (Nr. 591, 644 u. 653). Die übrigen Haus­sprüche nehmen im weitesten Sinn das menschliche Leben in den Blick (z. B. Nr. 207, 438 u. 669), wobei die deutschsprachigen zu einem großen Teil aus mehrfach überlieferten, festgefügten Texten bestehen, die lateinischen hingegen meist nur einmal im Bestand auftreten und individuell ausge­wählt, in vielen Fällen sogar eigenständig formuliert sind. Dies läßt sich an den zahlreichen Neid­inschriften zeigen: Die Version des deutschen Sprichworts Abgunst der lude kann dich nich schaden, was Gott will das muß geraden ist in Hildesheim elfmal belegt, während die lateinischen Neid­sprüche (z. B. Nr. 380, 415, 416G u. 768) sich in keinem einzigen Fall wiederholen. Bibelzitate lassen sich etwa seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in deutscher (Nr. 177C und F, 203 u. 396), lateinischer (Nr. 341 u. 383) und in einem Fall auch in hebräischer Sprache (Nr. 342) nach­weisen. Die protestantischen Devisen Si deus pro nobis quis contra nos und Dat Wort Gottes blift ewig, die man aus dieser Zeit in ande­ren südniedersächsischen Städten wie Einbeck, Duderstadt und Goslar89) häufig an den Fassaden findet, kommen nur einmal vor (Nr. 367). Gegen Ende des Erfas­sungs­zeitraums sind neben den kurzen Sprüchen religiösen Inhalts auch strophisch erweiterte, meistens sechs Verse umfassende Formen zu beobachten, die, ohne daß ihre Quelle90) im einzelnen nachgewie­sen werden konnte, an Gesangbuchstrophen erinnern (z. B. Nr. 736 u. 755).

Um 1600 treten zum ersten Mal die für den Hildesheimer Renaissance-Fachwerkbau charakteri­stischen, auf den Brüstungstafeln der Geschosse angebrachten figürlichen Bildprogramme mit Beischriften auf. Sie können bis zu 36 Einzelbilder (Nr. 658) umfassen und zeigen in farbig gefaß­tem Flachrelief allegorische Darstellungen der jeweils mit ihren Attributen91) versehenen Musen, der Tugenden und Laster, der Sieben Freien Künste, der fünf Sinne, der Elemente sowie die Planeten­götter, die neun guten Helden und andere Figurenreihen. Personen des Neuen Testaments sind im Unterschied beispielsweise zum Eickeschen Haus in Einbeck92) in Hildesheim nicht in diese Reihen aufgenommen worden, auch die beiden Ortsheiligen Bernward und Godehard sowie histo­rische Figuren aus der Gründungszeit des Bistums sind nur am Haus des stiftshildesheimischen Regierungs­sekretärs Philipp Werner (Nr. 578) und am Haus des Domvikars Lucas Amelung (Nr. 632) zu finden. Grundlage für die allegorischen Darstellungen sind die bereits in der spätantiken Literatur zusam­mengestellten Kataloge von Tugenden und Lastern sowie der Sieben Freien Künste, die vermittelt durch zeitgenössische Druckgraphik und Musterbücher (u. a. die 1593 in Rom erschienene Iconologia des Cesare Ripa) in der Renaissance wiederaufgegriffen wurden. Ins­gesamt sind aus dem Zeitraum von 1598 bis zum ersten Viertel des 17. Jahrhunderts für etwa 40 Hildesheimer Häuser derartige mehr oder weniger umfangreiche Text-Bild-Programme überliefert.

Neben den in ihrem Grundbestand gleichförmig gestalteten Beischriften zu den Allegorien wurden in Hildesheim in der Spätrenaissance auffallend viele individuell ausgesuchte Zitate aus Werken der klassischen Antike (z. B. Nr. 528 u. 774) oder einzelne mit antiker Metaphorik durch­setzte, oft in ungewöhnlichen Versmaßen abgefaßte Texte an den Fassaden angebracht. Sie stehen zum Teil im Zusammenhang mit Darstellungen aus der antiken Medizin, Historiographie und [Druckseite 48] Mythologie bzw. aus der Emblematik. Die meisten dieser gelehrten Inschriftenprogramme dürften ihre direkte Vorlage nicht in den antiken Schriften selbst, sondern in zeitgenössischen Sprichwör­tersammlungen (z. B. Nr. 450), in der Druckgraphik, in Emblembüchern (Nr. 397) und in neulatei­nischen Bearbeitungen antiker Werke haben. Andere Beispiele erlauben die Vermutung, daß sie als Gelegenheitsdichtungen von den jeweiligen Bauherren selbst stammen oder in Auftrag gegeben worden sind, wie z. B. die in verschiedenen Metren verfaßten Sprüche am Haus des Sebastian Trescho (Nr. 416 D–H) oder das anspruchsvolle Text-Bild-Programm am Haus des Professor poetices Johann Reiche (Nr. 452). Das aufwendigste Beispiel für derartige Inschriften hat der Syn­dikus des Domkapitels Kaspar Borcholt für seine von 1585–1587 errichtete Hofanlage im Langen Hagen entworfen. Die heute am Haus Alter Markt 1 rekonstruierte Fassade zeigt in münzähnlichen Medaillons 46 römische Kaiser mit Beischriften und allegorische Darstellungen der vier Jahres­zeiten, die in je einem Hexameter erklärt werden (Nr. 467). Zu dieser Hofanlage gehörte ein Brun­nen mit Szenen aus den Metamorphosen des Ovid (Nr. 478), die sich auf die „Tetrasticha in Ovidii Metamorphoseon libros“ des neulateinischen Autors Johannes Posthius von Germersheim zurück­führen lassen, dessen Ausgabe mit Holzschnitten des Virgil Solis ausgestattet ist. Auf dieselbe Quelle geht ein Text-Bild-Programm am Haus Rathausstr. 24 (Nr. 598) zurück. Als Urheber dieser gelehrten Inschriftenprogramme lassen sich nicht nur in Hildesheim nahezu ausschließlich Absol­venten der höheren Fakultäten Theologie, Medizin und vor allem der Jurisprudenz nachweisen, ein Personen­kreis, der sich in den neueren Forschungen als die eigentliche Trägerschicht des bürgerli­chen Späthumanismus erwiesen hat.93) Der Bildungsgang dieser Personen begann in der Regel in einem Gymnasium illustre bzw. einem Jesuitenpädagogium, wo den Schülern neben der Kenntnis der Heiligen Schrift vor allem der antike Lektürekanon und der aktive Umgang mit der lateinischen Sprache vermittelt wurde. Die wesentliche Lernform bestand im Sammeln und Aus­wendiglernen von loci communes aus den antiken Schriften.94) An dieses schulische Propädeutikum schloß sich in der Regel ein Studium an mehreren deutschen, italienischen und französischen Uni­versitäten an, das im günstigsten Fall mit einem Examen, normalerweise dem doctor utriusque iuris, abgeschlossen wurde. Diese universitäre Ausbildung führte – meist außerhalb der Heimatstadt – zu einer Karriere in der Verwaltung des Landes, der Stadt oder der Kirche. Vor diesem Hintergrund darf es nicht verwundern, daß gerade die Juristen mit Vorliebe selbstgefertigte lateinische Epigramme und Sprichwörter entlegener Quellen an ihren Hausfassaden angebracht haben, um so ihre Bildung zu demonstrieren. In Hildesheim gehörten zum Kreis dieser späthumanistischen Gelehrten – zumindest soweit die aus der Inschriftenüberlieferung zu gewinnenden Informationen reichen – der Arzt Joachim Middendorf (Nr. 177), der ehemalige herzogliche Rat Johann Reiche (Nr. 452) sowie die Syndici Kaspar Borcholt (Nr. 467), Sebastian Trescho (Nr. 416) und Christian Kegel (Nr. 585).

5. 3. Kirchliche Ausstattungsstücke

Mit 226 Nummern stellen die Inschriften auf kirchlichen Ausstattungsstücken den größten und auch den besonders für die mittelalterliche Überlieferung inhaltlich bedeutendsten Teilbereich der Hildesheimer Inschriften dar. Sie gliedern sich nach ihrer Funktion in Stiftungsinschriften und Beischriften zu bildlichen Darstellungen. Hinzu kommen die zahlreichen Reliquienbezeichnungen, die aufgrund ihrer Kürze und Gleichförmigkeit keiner eingehenden Darstellung bedürfen.

Stiftungsinschriften

Am Anfang der Hildesheimer Inschriftenüberlieferung steht die bedeutende Stiftermemorie Bischof Bernwards,95) zu der neben dem Bau von St. Michaelis vor allem eine eigenwillig konzi­pierte, künstlerisch bedeutende Kirchenausstattung gehört. Nahezu alle seine Stiftungen hat der konsequent und entschieden um seine Memoria bemühte Bernward mit Inschriften versehen. Sie stellen ihn, indem sie das klassische Formular einer Künstlerinschrift fecit hoc (Nr. 14) bzw. me fudit oder me fecit (Nr. 17f.) benutzen, weniger als einen den Objekten fernen Mäzen dar, sondern rücken ihn in die unmittelbare Nähe zu den ausführenden Künstlern (vgl. den Kommentar zu Nr. 14). Damit bestätigen sie die in seiner Vita kontrastierend zu seinem hohen Amt besonders betonten Fertigkeiten in den mechanischen Künsten. Wie Bernward sich dieses Zusammenwirken von bischöflichem Auftraggeber und dem ausführenden Künstler dachte, bringen die Inschriften auf den beiden Silberleuchtern (Nr. 5) zum Ausdruck: Während der Auftraggeber Bernward das, was der Betrachter sieht – conflare iubebat (sc. Bernwardus) ut cernis –, also die figürliche und ornamentale Gestaltung der Leuchter und damit ihre spirituelle Aussage verantwortete, oblag dem hier als puer bezeichneten Ausführenden dessen materielle Realisierung (Nr. 5). Auch in der Stiftungsinschrift auf dem Kostbaren Evangeliar (Nr. 4) verweist Bernward darauf, daß seine Kunst dieses Werk hervorgebracht habe opus eximium ... factum praesulis arte und bittet als Gegenleistung für seine Stif­tung um die Gnade Gottes Sis pia quaeso tuo Bernwardo trina potestas. Die Kombination von Verweis auf die Stiftung mit einer Bitte um den entsprechenden himmlischen Lohn ist charakteristisch für das mittelalterliche Stiftergebet,96) wie auch die Inschriften auf den beiden Radleuchtern Thietmars und Hezilos (Nr. 22 u. 25) und auf der Kleinen Madonna zeigen: Die Stifter hoffen auf ein dauer­haftes Leben in der Ewigkeit (infinitam vitam per saecula) bzw. auf die Anschauung Gottes (hunc regat ad speciem [Dei]) im ewigen Leben (Nr. 25) oder darauf, daß Maria bei der Seelenwägung den vom Stifter erbrachten Leistungen etwas hinzufügt (Nr. 56).

Insgesamt ist die Mehrzahl der Stiftungsinschriften durch formale und inhaltliche Homogenität gekennzeichnet. In ihrer knappsten Form bestehen sie aus reinen Namen (Nr. 269, 480, 622 u. 704), aus dem Namen und der bildlichen Darstellung eines seine Gabe überreichenden Stifters (Nr. 53) oder aus dem Namen und einem den Vorgang des Stiftens bezeichnenden Prädikat (Nr. 59, 449, 564 u. 665). Andere Inschriften nennen auch die Kirchen- oder Altarpatrone, denen die Stiftung zugedacht ist (Nr. 62, 67, 131, 180, 225, 263 u. 327). Eine genaue Darlegung der Kosten und die Aufzählung aller an der Stiftung Beteiligten findet sich auf dem 1489 entstan­denen Magerkol-Kelch (Nr. 204). Unter den frühneuzeitlichen Beispielen fällt die Stiftungsinschrift des Arnold Freitag auf dem Domlettner von 1546 (Nr. 353) dadurch auf, daß sie nicht nur auf den Lettner als konkretes Objekt der Stiftung, sondern auch auf die umfangreichen karitativen Wohltaten des Domherrn verweist.97) Dieser präsentiert sich ganz im Sinne der Werkgerechtigkeit durch seine guten Taten als mit Gott versöhnt und rechnet fest, nämlich im Indikativ, mit dem entsprechenden himmlischen Lohn: In coelo precium, qui benefecit, habet. Ganz für sich stehen auch die in der Funktion von Stiftungsinschriften zu sechs Ölgemälden im Dom angebrachten Texte, die als Sterbevermerke mit einer Fürbitte formuliert sind (Nr. 516, 520, 589, 558 u. 618). Auch auf der evangelischen Seite ist, obwohl mit einer Stiftung keine Heilserwartung mehr verbunden war, das Stiftungswesen keineswegs zum Erliegen gekommen: Ähnlich wie im benachbarten Braunschweig haben die Hildesheimer Bürger nach wie vor Ausstattungsstücke für ihre Kirchen gestiftet (z. B. Nr. 465, 595 u. 642) und diese inschriftlich bezeichnet. Diese Stiftungen erfolgten, wie es auf der von dem Ehepaar Storre für St. Andreas gestifteten Kanzel heißt, zur Ehre Gottes vndt Christlicher Gedechtnus (Nr. 717).

Beischriften zu bildlichen Darstellungen

Beischriften zu bildlichen Darstellungen finden sich im Hildesheimer Bestand auf Wand- und Deckenmalereien, Textilien, an Reliquienschreinen, Taufkesseln, Leuchtern, im Zusammenhang mit Tafelmalerei und auf Vasa sacra. Die Texte dienen zum größten Teil der Identifikation der bildli­chen Darstellungen, außerdem erschließen sie den Sinn von symbolischen und allegorischen Bil­dern bzw. legen als exegetische Tituli die zugehörigen Bilder aus.98)

Bei der ersten Gruppe, den identifizierenden Tituli, handelt es sich überwiegend um Namen oder um knappe überschriftartige Texte, die eine Darstellung unmittelbar benennen (z. B. Nr. 2 u. 496), seltener auch ausführlich beschreiben (Nr. 41A, B). Sie können darüber hinaus insbesondere in szenischen Darstellungen den Blick des Betrachters auf die Hauptfigur lenken, wie z. B. der ins­gesamt dreizehnmal über der zentralen Heiligenfigur angebrachte Titulus margareta in jeder Einzel­szene der in 15 Bildern dargestellten Margareten-Legende auf einem Antependium in St. Michaelis (Nr. 123). Zur Identifizierung von Darstellungen dienen neben den Namen auch Zitate aus den Schriften der abgebildeten Personen (Nr. 48), mit deren Hilfe eine unspezifisch dargestellte Figur beispielsweise als ein ganz bestimmter Prophet erwiesen wird. Diese Beischriften stellen zudem eine Verbindung zwischen der bildlichen Darstellung und der zugrundeliegenden Wortüberliefe­rung her, wie z. B. die Schriftbänder zu den Wandmalereien in der Westvorhalle des Doms (Nr. 33): Sie legen einerseits die Einzelelemente der Darstellung eindeutig fest und strukturieren damit das Gesamtbild, andererseits verdeutlichen sie ihre Herkunft aus der Heiligen Schrift und legitimieren so die Bilder neben dem Wort als Mittel der Verkündigung. Andere bezeichnende Tituli, wie z. B. die Anfänge des Hymnus auf einen bestimmten Heiligen, leisten neben der eindeutigen Festlegung zusätzlich die Verbindung zum gesungenen Wort im Gottesdienst (Nr. 314).

Eine formal anders geartete Form der elementaren Bilderklärung bieten die zumeist mit hic oder in deutschsprachigen Inschriften mit hie beginnenden Texte (Nr. 233), die mit einer deiktischen Geste auf die Darstellung bzw. auf deren Einzelbestandteile hinweisen. Die kunstvollsten Beispiele dieses Typs stellen zwei auf Emailreliquiaren angebrachte Hexameter dar, deren einzelne Aussagen wie Überschriften die Handlungselemente einer Kreuzigungsdarstellung erläutern (Nr. 52 u. 54): Hec parit hec credit obit hic fugit hec hic obedit. Als ein sehr spezieller Fall der bildidentifizierenden Inschriften sind die auf der Taufe in St. Andreas innerhalb der Bilder angebrachten Stellenangaben zu sehen, die nicht selbst das Bild erklären, sondern auf eine außerhalb von Bild und Inschrift liegende Instanz – entsprechend dem lutherischen sola scriptura-Prinzip auf die Bibel – verweisen (Nr. 358, 500 u. 642).

Bildbeischriften, die den Sinn symbolischer oder allegorischer Darstellungen erschließen, sind in ihrer äußeren Form weitgehend mit den identifizierenden Tituli identisch. Sie verweisen nur auf eine andere Ebene, als in der Darstellung sichtbar wird. Auch sie bestehen aus Namen wie etwa den Benennungen der Kardinaltugenden (Nr. 67), aus einem überschriftartigen Titel Dextera Domini über einer entsprechend gestalteten Hand (Nr. 30) oder auch aus Bibelzitaten wie bei den figürlichen Darstellungen der Seligpreisungen (Nr. 44). Im letzten Beispiel werden auf einer zweiten inschriftlichen Deutungsebene die Figuren als Allegorien der Tugenden präsentiert.

Die exegetischen Tituli verzichten weitgehend auf die erzählende Begleitung des Bildes und richten sich vornehmlich auf den spirituellen Gehalt der Darstellungen. Sie stehen entweder als Beischriften zu einzelnen Bildern oder deuten wie im Fall des Hezilo-Leuchters (Nr. 25), des Hezilo-Kreuzes (Nr. 26) und der „Kleinen Madonna“ (Nr. 56) ein insgesamt als Bild gestaltetes [Druckseite 51] Objekt.99) Die Exegese erfolgt selten auf nur einer Ebene, wie bei der christologischen Auslegung von vier alttestamentlichen Medaillonbildern auf dem sogenannten Bernhardkelch (Nr. 64A), son­dern nutzt verschiedene Deutungsebenen mit zum Teil theologisch komplexen Sinnverbindungen. Die herausragenden Beispiele dieses Typs bilden neben den Hexametern auf dem Hezilo-Leuchter (Nr. 25) und auf der „Kleinen Madonna“ (Nr. 56) die gelehrten Inschriften auf der Domtaufe (Nr. 67) aus dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts. Die Texte verbinden z. B. die altestamentlichen Szenen mit der neutestamentlichen Offenbarung und beziehen auf einer wei­teren Ebene Bilder aus dem Neuen Testament auf die glaubenspraktische Erfahrung zumindest des lateinkundigen Christen, indem die Inschriften direkt zum Betrachter sprechen. Dabei unter­stützt ein sinnfällig strukturiertes System der Bildparallelen die in den Inschriften gegebene Text­exegese. Dieser pointiert formulierte Texttyp des exegetischen Titulus ist charakteristisch für die Hildeshei­mer Überlieferung bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. Die Beischriften eines Bildteppichs mit typologischen Darstellungen aus der Zeit um 1400 (Nr. 115) hingegen begleiten die Bilder aus­nahmslos auf der Ebene des Litteralsinns, leisten aber ebenso wie die Inschriften auf einem Ante­pendium (Nr. 139) aus dem Heilig-Geist-Spital keine exegetische Erklärung. Auch die zahlrei­chen Inschriften auf den seit etwa 1400 in größerer Zahl überlieferten Altarretabeln und sonstigen Tafelmalereien (Nr. 122, 137, 138, 141, 276, 296, 311 u. 313f.) bezeichnen nur die dargestellten Figuren. Die Unterschiede zwischen den Tituli der frühen Bildprogramme und denen der spätmit­telalterlichen Darstellungen sind möglicherweise Ausdruck einer grundlegend veränderten Bedeu­tung der Bilder für die Glaubenserfahrung im Rahmen der seit dem 13. Jahrhundert wirksam wer­denden neuen Form von Laienreligiosität. Sie suchte den Zugang zu Religion und religiösem Wis­sen unabhängig von der an die lateinische Sprache gebundenen theologischen Gelehrsamkeit, eine frömmigkeitsgeschichtliche Richtung, die auf anderem Gebiet in einer lebhaften Rezeption der volkssprachigen Erbauungsliteratur Ausdruck fand. Dementsprechend war auch die Bildrezeption von einer stärker sinnlichen, kontemplativen Erfahrung bestimmt,100) die der alten gelehrten, sprach­lich mit den raffiniertesten Mitteln der Rhetorik durchgebildeten Auslegung keinen Raum mehr ließ. Mit dieser religiösen Emanzipation der Laien wandelte sich auch der Kreis der Stifter. Während die frühen Hildesheimer Bildobjekte vornehmlich von Bischöfen oder Angehörigen der hohen Geistlichkeit in Auftrag gegeben und damit auch konzipiert wurden, scheinen die spätmittel­alterlichen Stiftungen von Kirchenausstattung doch eher aus bürgerlichen Familien zu kommen, die sicherlich in ihrem Sinn auf die Gestaltung Einfluß genommen haben.

Auch in der frühen Neuzeit erfahren die gelehrten exegetischen Tituli zunächst keine Wieder­belebung, wie die Inschriften des 1546 gestifteten Domlettners zeigen (Nr. 353). Sein umfangrei­ches typologisches Bildprogramm wird in den beigegebenen Inschriften nur bezeichnet und iden­tifiziert, nicht aber ausgelegt. Exegetische Tituli, die in Hexameter gefaßt sind und dem Betrachter eine vor allem glaubenspraktisch akzentuierte Auslegung der zugehörigen Darstellung bieten, sind erst wieder im Zusammenhang mit Gemälden des späten 16. Jahrhunderts (z. B. Nr. 495, 510 u. 618) überliefert. Sie sind Ausdruck der theologisch-akademischen Bildung der Domherren in der Zeit des Späthumanismus.

5. 4. Glocken und Geschütze

Im Hildesheimer Bestand sind 33 Inschriften von Glocken überliefert, davon sind fünf erhalten (Nr. 68, 94, 305, 324 u. 718). Angesichts der großen Zahl von Kirchen, Kapellen und Hospitälern, die allesamt mit wenigstens einer Glocke ausgestattet gewesen sein dürften, zeichnet sich auch für diesen Inschriftenträger eine große Verlustrate ab. Von den im Inschriftenbestand noch faßbaren Glocken sind nach der Schließung der zugehörigen Pfarrkirchen im 19. Jahrhundert einzelne an [Druckseite 52] andere Orte gekommen (Nr. 68, 73 u. 143), einige sind bei Kratz oder Mithoff in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts,101) weitere sechs in dem 1911 abgeschlossenen Kunstdenkmälerin­ventar Zellers zum letzten Mal nachgewiesen (Nr. 178, 179, 180, 238 u. 330). Die zuletzt genannten können im Rahmen der Glockenabgabe der beiden Weltkriege verloren gegangen sein oder sind den Bombenangriffen des Zweiten Weltkriegs zum Opfer gefallen.

Die älteste, allerdings unsicher bezeugte Glocke (Nr. 17) stammt aus bernwardinischer Zeit und trägt eine der typischen Stifterinschriften Bischof Bernwards. Vier weitere stammen aus der Zeit vor 1400. Von besonderem Interesse unter diesen mittelalterlichen Glocken ist die 1350 von Jan van Halberstadt für den Dom gegossene „Maria“ (Nr. 91), auf der zum ersten Mal die gotische Minuskel und die deutsche Sprache verwendet worden sind. Die meisten – insgesamt elf – Glocken stammen aus dem 15. Jahrhundert, eine Beobachtung, die sich auch an anderen Beständen bestätigen läßt. Vermutlich haben technische Verbesserungen im Glockenguß und daraus resultierend erhebliche Verbesserungen des Klangs im 15. Jahrhundert zu einer weitgehenden Erneuerung des Glockenbestands geführt.102) Die Glockeninschriften sind mit Ausnahme von Nr. 175 nach wie vor in lateinischer Sprache abgefaßt und bestehen überwiegend nur aus dem Gußdatum und einem knap­pen Gebet zu den Patronen der Glocke. Von zwei metrisch gefaßten Inschriften auf Glocken aus St. Godehard, die im Jahr 1464 gegossen wurden, ist eine als Stif­tungsinschrift formuliert (Nr. 180), die andere (Nr. 179) scheint – ohne daß der Text vollkommen verständlich wäre – mit der Kloster­reform in Beziehung zu stehen. Im 16. Jahrhundert werden die Inschriften ausführlicher und nen­nen in Ich-Form neben den Glckennamen auch klassische Funktionen der Glocke (Nr. 291) sowie die Gießer. Dabei handelt es sich um Meister wie Hermann Koster (Nr. 265 u. 291f.), Brant Helmes (Nr. 324 u. 330), Hans Pelckinck (Nr. 453) und Cord Bargen (Nr. 513), die in der Region auch sonst gut bezeugt sind. Im 17. Jahrhundert sind die Glockeninschriften von größerer inhaltlicher Vielfalt: Neben die Gießervermerke und die zum Teil sehr differenzierten Funktionsbezeichnungen (Nr. 745747) treten jetzt auch Bibelzitate (Nr. 689) oder religiöse Sentenzen (Nr. 636).

Von den Hildesheimer Geschützen sind insgesamt 31 Inschriften überliefert, hinzu kommen acht in der Liste der Jahreszahlen und Initialen S. 869–900 edierte Kurztexte.103) Keine der Inschrif­ten ist in Hildesheim im Original erhalten, da die Geschütze im Jahr 1760 der Kriegskanzlei in Hannover zur Verfügung gestellt und im Laufe der Zeit ausnahmslos eingeschmolzen worden sind. Im Rahmen dieser Überführungsmaßnahme nach Hannover wurde glücklicherweise ein Verzeich­nis mit detaillierten Beschreibungen der auf den Wällen stationierten Kanonen ange­legt, das Kratz (Hochstift) (vgl. S. 37) und später noch einmal Hartmann publiziert haben. Ein älteres Verzeichnis wurde von Doebner ausgewertet. Textfragmente von Geschützinschriften sind darüber hinaus aus dem tabellarisch angelegten Zeughausinventar von 1644 zu gewinnen. Sie sind für die Edition aller­dings nicht berücksichtigt worden, weil keine kohärente Inschrift rekon­struiert werden konnte.104)

Die Überlieferung setzt ein mit einem wahrscheinlich im Jahr 1514 von Hermann Koster gegossenen Geschütz (Nr. 281). Im Jahr 1544 läßt sich mit insgesamt fünf von Cord Mente ange­fertigten [Druckseite 53] Stücken (Nr. 344, 346 u. 348350) eine intensive Produktion an den Inschriften ablesen. Die Texte geben allerdings keinerlei Auskunft über die historischen Hintergründe für diese Erhöhung der Verteidigungsbereitschaft, da sie die Bestimmung der Geschütze nur sehr allgemein benennen: sta den Heren von Hildesheim bei (Nr. 362), sta der gerechtikeit bei (Nr. 361), dvrch meinen snellen schvs vnd sterke / zerbreche ich oft der feinde werke (Nr. 601) oder meinen vleis will ich nit sparen / ihre stadt wol helfen bewaren (Nr. 560). Lediglich zwei allerdings erst aus der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs stammende Inschriften (Nr. 721 u. 723) deuten den historischen Zusammenhang des Gusses an, indem sie auf eine konkrete Entwicklung des Kriegsgeschehens verweisen.

Als Gießer nennen sich in den Inschriften neben Cord Mente (Nr. 344, 346, 348350 u. 361f.) und den auch als Glockengießer inschriftlich bezeugten Hans Pelckinck (Nr. 436, 443 u. 454), Hermann Koster (Nr. 295) und Dietrich Mente (Nr. 601, 606, 608 u. 610?) der sonst in Hildesheim nicht nachzuweisende Hinrich Koch (Nr. 301) sowie Hans Fricke (Nr. 560 u. 582) und Heinrich Quenstedt (Nr. 703, 719, 721, 723, 732 u. 734) mit seinem in mehreren Varianten belegten Gießer­spruch Aus dem Feuer floß ich, Meister Heinrich Quenstedt gos mich. Sofern nicht die lückenhafte Überlieferung für diesen Befund verantwortlich ist, fällt auf, daß es keine zeitlichen Überschnei­dungen in der Tätigkeit der einzelnen Gießer gibt, woraus zu schließen wäre, daß die Stadt nur jeweils einen Stückgießer beschäftigt hat.

Finanziert wurden die Geschütze, wie die Inschriften und ihre Wappen zeigen, in der weit überwiegenden Zahl von den Ämtern und Gilden. Diese hatten einer von Joachim Brandis zitierten Ratsverordnung zufolge ein iglicher na fürmogen und gelegenheit ein gros stücke geschützes up eines idern unkostunge dem rade und gemeiner stat tom besten ... geten und fürfertigen laten wollen, wozu sie willich gefunden worden sin.105) Lediglich einmal ist in den Inschriften ausdrücklich gesagt, daß der Rat der Altstadt selbst ein Geschütz finanziert hat (Nr. 732). Die Bürger der Neustadt dürften für ihre Verteidi­gungsausgaben selbst ohne Mithilfe der Gilden aufgekommen sein (Nr. 346 u. 560).

Ähnlich den Glockeninschriften sind auch die Geschützinschriften überwiegend in Form einer Rede in der 1. Person Singular formuliert worden. Sofern sie aus umfangreicheren Texten bestehen, die nicht nur den Geschütznamen, den Gießer und das Gußjahr nennen, sind sie meistens in der Volkssprache abgefaßt und haben die Form paargereimter Vierheber, wie z. B. Der fleigende Drake het ick fri /vnde sta den heren von Hildensem Bi / Helpe one vordeghen ore feste / wan se krighen fromde geste (Nr. 362). Die lateinische Sprache wurde lediglich von Cord Mente und Hans Pelckinck (Nr. 348350 u. 436) für die Mehrzahl ihrer Gießersignaturen benutzt sowie für zwei Inschriften von 1607 und 1610 (Nr. 582 u. 601), welche die Geschütznamen Salomon und Gabriel etymologisch aus­deuten. In den deutschen Texten begegnet vielfach durch den Reim gebundenes Formular, wie z. B. ... sta ick bi mit sceten, dat et orren Finden wart vordreten (Nr. 348f.), ... hete ick fri, ... sta ick bi (Nr. 348f. u. 361f.), das sich auch in Einbeck auf einem ebenfalls von Cord Mente gegossenen Geschütz wiederfindet.106) In späterer Zeit sind die Inschriften eher individuell formuliert, wie auf einem von der Wollenwebergilde gestifteten Geschütz des Gießers Hans Pelckinck, in dessen Inschrift die Funktion des Geschützes – wenn auch sprachlich sehr unbeholfen – in das Bild tobender Spulen gefaßt wird (Nr. 436).

5. 5. Zitate aus Bibel und Liturgie

Nahezu auf allen Arten von Inschriftenträgern des Hildesheimer Bestands kommen Texte vor, die sich auf die Bibel zurückführen lassen. Ein Teil dieser Texte weicht im Wortlaut jedoch charakteri­stisch von der Vulgata-Fassung der lateinischen Bibel ab und läßt sich eher an Textfas­sungen anschließen, wie sie im liturgischen Gebrauch üblich waren. Das bekannteste Beispiel dieser Art ist der Anfang des Engelsgrußes aus der Verkündigung (Lc. 1,28), der in den mittelalterlichen [Druckseite 54] Inschriften oft in seiner liturgisch gebräuchlichen Form Ave Maria gratia plena belegt ist, während der Bibelwortlaut an der entsprechenden Stelle Ave gratia plena lautet. Die Hildesheimer Beispiele zeigen, daß nicht nur Formelhaftes wie das Ave Maria in der liturgisch üblichen Fassung in die Inschriften übernommen wurde, sondern auch individuell ausgewählte Texte: z. B. die auf der Lipsanotheca (Nr. 1) angebrachte Inschrift Corpora sanctorum in pace sepulta sunt, die auf Sir. 44,14 corpora ipsorum in pace sepulta sunt zurückgeht, aber hier in der Fassung einer liturgienahen spanischen Vulgata-Rezension verwendet ist, die später auch in das Brevier und das Missale übernommen wurde. Ein anderes Beispiel bietet die Inschrift auf dem Bernward-Sarkophag (Nr. 11) nach Iob 19,25–27, deren auf Christus bezogener Zusatz salvator meus signifikant vom Wortlaut der Bibel abweicht und damit einer Fassung entspricht, die später auch im Officium defunctorum des Bre­viers belegt ist. Die Inschriften auf der Bilderdecke in St. Michaelis verwenden, soweit sie bibli­sches bzw. heilsgeschichtliches Geschehen betreffen, zu einem großen Teil nicht den genauen Bibeltext, sondern entsprechende Fassungen aus der Liturgie, vor allem aus Antiphonen (Nr. 65). Auch in den Inschriften der Gewölbemalereien aus der Westvorhalle des Doms (Nr. 33) ist in einer Reihe von Schriftbändern mit Prophetenzitaten dem Propheten Habakuk zwar ein Text aus Hab. 3,3 zugeordnet, aber in einer charakteristisch abweichenden Fassung, die dem Canticum Abacuc aus den Cantica der altlateinischen Bibelübersetzung Vetus Latina entspricht. Diese Cantica hatten als Anhang zum mittelalterlichen Psalter eine breite Tradition und waren jedem Geistlichen ver­traut, da das Brevier für jede Woche einen kompletten Durchgang durch den Psalter einschließlich der Cantica verbindlich machte.107) Diese wenigen, insgesamt aus dem hohen Mittelalter stammenden Beispiele des Hildesheimer Bestands zeigen, daß in der einschlägigen Zeit die Rezep­tion der Bibel zu einem wesentlichen Teil über die im Gottesdienst und in der privaten Rezitation des Priesters gebräuchlichen Fassungen erfolgte.108)

Deutsche Bibelzitate sind in den Hildesheimer Inschriften erst mit dem Erscheinen von Luthers Bibelübersetzung nachzuweisen. Die vorlutherischen Bibelübersetzungen sind wie üblich nicht zitiert worden.109) Das älteste Bibelzitat in deutscher Sprache ist auf dem Epitaph für Christopher von Halle von 1541 angebracht (Nr. 337). Es folgt der niederdeutschen Ausgabe De Biblie vth der vthlegginge Doctoris Martin Luthers yn dyth duedesche vlitich vthgesettet mit svndergen vnd vnderrichtingen alse men seen mach, Lübeck Ludwig Dietz 1533. Hinzu kommen zwei hochdeutsche Bibelzitate am Haus Marktstr. 25/26 von 1609 (Nr. 170). Die etwas reicher bezeugten lateinischen Bibelzitate des 16. und 17. Jahrhunderts bewahren mit einer unspezifischen Ausnahme (Nr. 678) den Wortlaut der Vulgata.

Viele der Inschriften auf kirchlichen Ausstattungsstücken lassen sich als Zitate aus liturgischen Texten erweisen, wie z. B. der Vers Ecce panis angelorum aus dem Hymnus ‚Lauda Sion Salvatorem’ auf einem Ziborium (Nr. 165) oder Tu cibus panisque noster und andere eucharistische Hymnenan­fänge auf der großen Silberpatene des Doms (Nr. 206). In größerem Umfang nehmen die Inschriften auf der Bilderdecke von St. Michaelis (Nr. 65) die Antiphonen aus der Adventszeit auf. Gerade die Decke von St. Michaelis zeigt, wie die aus den Prophetenbüchern abgeleiteten Antiphonen auf der einen Ebene konkrete Figuren bezeichnen, zugleich aber im Ensemble des gesamten Bild­programms auf einer zweiten Ebene den Inschriftenträger in seinen liturgischen Kontext einbin­den. In vielen Fällen bleibt die Verbindung nicht auf die Verknüpfung von gehörtem Wort und parallel oder erinnernd gelesener Inschrift beschränkt, sondern wird durch die gleichzeitig mit der liturgischen Handlung zu erfassende Bildstruktur und -aussage des [Druckseite 55] Inschriftenträgers ergänzt. Eine solche aus Hören, Lesen und Sehen gemischte Rezeption ist sicher für die Domtaufe (Nr. 67) vorauszusetzen, deren Aufbau unmittelbar mit den liturgischen Handlungen bei der Weihe des Taufwassers korrespondiert. Für die Inschriften auf den Vasa sacra konnten – mit Ausnahme der erwähnten großen Silberpatene – keine unmittelbaren Korrespondenzen mit gesungenen oder gesprochenen Teilen der Liturgie nachgewiesen werden. Ihre Inschriften thematisieren das Geheimnis des Altarsakraments, eine Tradition, die offenbar auch im protestantischen Bereich nicht verlorengeht; dies zeigt jedenfalls die Inschrift einer aus St. Andreas stammenden Oblaten­dose (Nr. 567), die mit den Worten Augustins das Sakrament als Sichtbarmachung des Wortes darstellt.

Zitationshinweis:

DI 58, Stadt Hildesheim, Einleitung, 5. Inschriften und Inschriftenträger (Christine Wulf), in: inschriften.net,  urn:nbn:de:0238-di058g010e006.

  1. Der Terminus „Grabinschriften“ meint die Gesamtheit der auf einem Grabdenkmal angebrachten Inschriften, „Grabschrift“ bezeichnet hingegen die verschiedenen Textformen der Sterbe- und Begräbnisinschriften. »
  2. Zur Terminologie der Denkmäler des Totengedächtnisses vgl. DI 36 (Stadt Hannover), S. XXIIIXXIV»
  3. Auch an anderen Orten enthalten die Inschriften auf Sargtafeln früher als die der Grabplatten komplette Anga­ben von Todestag und Todes­jahr, vgl. Maria Glaser, Franz-Albrecht Bornschlegel: Datierungen in mittelalter­lichen Inschriften des deutschen Sprachraums – Ein Zwischenbericht. In: Archiv für Diplomatik 42 (1996), S. 525–556, hier S. 527. »
  4. Vgl. Kat. Ego sum, S. 267 u. S. 270. »
  5. Vgl. u. a. DI 28 (Hameln), S. XXIV mit Verweisen auf die Bestände Osnabrück und Oppenheim; DI 36 (Stadt Hannover), S. XXIVf. »
  6. Der Hildesheimer Fachwerkbau ist mehrfach Gegenstand von Baumonographien gewesen: Carl Lachner: Die Holzarchitektur Hildesheims. Hildesheim 1882; Zeller, Wohnbaukunst; Sonnen, Holzbauten; s. außerdem Kd. Hildesheim, Bürgerliche Bauten. Dem Folgenden liegt im wesentlichen Zeller, Wohnbaukunst zugrunde. »
  7. Vgl. dazu die völlig andere chronologische Struktur der Hausinschriften im benachbarten Braunschweig: DI 56 (Stadt Braunschweig II), S. XXXIIf. »
  8. Die Auswertung der Hildesheimer Hausinschriften basiert auf folgender Studie: Sabine Wehking und Christine Wulf: Hausinschriften. In: Epigraphik 2000. Veröffentlichungen der Österreichischen Akademie der Wissen­schaften (im Druck). »
  9. Vgl. DI 42 (Einbeck), S. XXIf.; DI 45 (Stadt Goslar), S. XXIV. Zu Duderstadt vgl. Akademie der Wissenschaf­ten Göttingen, Inschriftenkommission, Inschriftensammlung Landkreis Göttingen. »
  10. Lediglich Wer Gott vertraut / hat wohl gebaut / im Himmel und auf Erden / wer sich verläßt auf Jesum Christ / dem muß der Himmel werden ist als erste Strophe des gleichnamigen Kirchenlieds, das wahrscheinlich von Johannes Magdeburg stammt, nachzuweisen (vgl. u. a. Nr. 654). »
  11. Zu den Attributen der Einzeldarstellungen vgl. Kd. Hildesheim, Bürgerliche Bauten, S. 129 u. S. 237f. »
  12. Vgl. DI 42 (Einbeck), Nr. 133»
  13. Vgl. Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche, hg. Notker Hammerstein u. Gerrit Walther. Göttingen 2000, hier S. 9–18 (Einleitung); Ernst Schubert: Conrad Dinner. Ein Beitrag zur gei­stigen und sozialen Umwelt des Späthumanismus in Würzburg. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 33 (1973), S. 213–238, hier S. 213; Walther Ludwig: Latein im Leben: Funktionen der lateinischen Sprache in der frühen Neuzeit. In: Germania latina – Latinitas teutonica, hg. von Eckhard Keßler u. Heinrich C. Kuhn. 2 Bde. München 2003 (Humanistische Bibliothek Texte und Abhandlungen Reihe I, Abhandlungen 54), Bd. 1, S. 73–106. »
  14. Vgl. Anton Schindling: Schulen und Universitäten im 16. und 17. Jahrhundert. Zehn Thesen zu Bildungsexpan­sion, Laienbildung und Konfessionalisierung nach der Reformation. In: Ecclesia militans. Studien zur Konzi­lien- und Reformationsgeschichte. Band II Zur Reformationsgeschichte, hg. von Walter Brandmüller, Herbert Immenkötter und Erwin Iserloh. Paderborn 1988, S. 561–570. »
  15. Eine ausführliche Würdigung der Stiftermemorie Bischof Bernwards gibt Ulrike Bergmann: prior omnibus autor – an höchster Stelle aber steht der Stifter. In: Kat. Ornamenta ecclesiae 1, S. 117–147, hier S. 124–126. »
  16. Ähnlich konkret wird auch die erwartete Gegenleistung auf dem Aachener Barbarossaleuchter formuliert. Die Fürbitte der Jungfrau Maria soll hier den Stifter in das durch den Leuchter symbolisierte Himmlische Jerusalem bringen. Vgl. DI 31 (Aachen, Dom), Nr. 28»
  17. Vgl. die in ihrer Verbindung von Armenstiftung und berechnetem himmlischen Lohn ähnlich formulierte Grab­schrift für Lippold von Stöckheim (Nr. 89B). »
  18. Das Folgende schließt an eine speziell auf die Text-Bild-Programme der niedersächsischen Textilien ausgerich­tete Untersuchung an: Christine Wulf: Bild und Text auf den niedersächsischen Textilien des Mittelal­ters. In: Épigraphie et iconographie. Actes du Colloque tenu à Poitiers les 5–8 octobre 1995. Poitiers 1996 (Civilisation Médiévale II), S. 259–272; zum Begriff Titulus vgl. Clemens M. M. Bayer: Essai sur la disposition des inscriptions par rapport à l’image. Ebd., S. 1–25, hier S. 3; Fidel Rädle: Philologische Bemerkungen zu den Inschriften des 12. Jahrhunderts. In: Kat. Abglanz des Himmels, S. 233–235, hier S. 233. »
  19. Eng verwandt mit den exegetischen Tituli sind die Inschriften, die nicht-bildliche Objekte geistlich ausdeuten, wie z. B. die klassischen Texte der Bischofsstäbe. Sie setzen die drei Abschnitte des Pedums, Krümme, Stab und Spitze, in eine Beziehung zu den drei wesentlichen Amtsaufgaben des Bischofs: attrahe per primum, medio rege, punge per imum (Nr. 69). »
  20. Vgl. Klaus Krüger: Die Lesbarkeit von Bildern. Bemerkungen zum bildungssoziologischen Kontext von kirchli­chen Bildausstattungen im Mittelalter. In: Christian Rittelmeyer und Erhard Wiersing (Hg.): Bild und Bildung. Wiesbaden 1991 (Wolfenbütteler Forschungen 49), S. 105–133, hier S. 116f. »
  21. Vgl. Nr. 91, 181, 205, 212, 251, 265, 291, 292, 453, 513, 636, 689, 742 u. 745747»
  22. Vgl. DI 50 (Stadt Bonn), S. XXXIV unter Berufung auf Jörg Poettgen: Glocken der Spätgotik. Werkstätten von 1380 bis 1550. Köln 1977 (Geschichtlicher Atlas der Rheinlande Beiheft XII,4, Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde XII. Abt. 1b NF 6. Lieferung). »
  23. Das bisher größte Corpus an Geschützinschriften in der Göttinger Reihe der DI enthält mit 22 Inschriften der Bestand Einbeck. Die Einleitung zu diesem Band gibt eine ausführliche Charakterisierung dieses Inschriften­typs, vgl. DI 42 (Einbeck), S. XXIIf. »
  24. Vgl. StaHi, Bestand 100-111, Nr. 69, Faszikel: Inventarium Jn E. E. Raths Zeughaus gehörig (14. April 1640). 7 Blätter. Das Zeughausinventar überliefert in sechs Spalten die laufende Nummer, verschiedene Maßangaben, die Wappen, den Geschütznamen, den Namen des Gießers und das Gußjahr. Die Angaben der beiden letzten Spalten sind – wie der Vergleich mit ausführlich überlieferten Geschützinschriften zeigt – Zitate aus den auf den Geschützen angebrachten Inschriften. Aus dem Zeughausinventar lassen sich für folgende Geschütze Text­fragmente von sonst nicht überlieferten Inschriften gewinnen: Nr. 6 Heinrich Mente 1512; Nr. 44 Finke (ohne Gußjahr), Nr. 27 Cord Mente 1549; Nr. 37 S. Peter, Hans Pelckinck 1575; Nr. 35 S. Andres, Hans Pelckinck 1577; Nr. 11 Salvator mundi, Hans Pelckinck 1578; Nr. 26 Judas Thaddäus, Hans Fricke 1580; Nr. 23 König David, Hans Fricke 1606; Nr. 42 Spes, Dietrich Mente 1611; Nr. 9 Emanuell, Dietrich Mente 1612. »
  25. Vgl. Joachim Brandis’ Diarium, S. 133; s. a. Otto Gerland: Die artilleristische Ausrüstung der Stadt Hildesheim. In: Alt-Hildesheim 1 (1919), S. 12–19, hier S. 19. Auch in Einbeck haben die Gilden Geschütze gießen lassen, vgl. DI 42 (Einbeck), Nr. 56, 5864, 66»
  26. DI 42 (Einbeck), Nr. 47»
  27. Vgl. Pierre-Marie Gy: La Bible dans la liturgie au Moyen Âge. In: Pierre Riché, Guy Lobrichon (Hg.): Le Moyen Âge et la Bible. Paris 1984 (Bible de tous les temps 4), S. 537–552, hier S. 546f. »
  28. Im Rahmen der vorliegenden Edition wurden nur die Texte, deren Wortlaut von der Vulgata abweicht, im Hinblick auf eine mögliche liturgische Quelle untersucht. Ergänzend wäre zu prüfen, ob die mit der Vulgata übereinstimmenden Texte auch in den liturgischen Fassungen identisch sind; so ließe sich feststellen, ob die inschriftliche Rezeption der Bibel vorwiegend über die Liturgie vermittelt wird oder ob die liturgischen Fassun­gen neben dem direkten Zitat lediglich eine der möglichen Rezeptionsformen darstellt. »
  29. In den bisher erschienenen Bänden der DI gibt es lediglich ein Beispiel dafür, daß eine der vorlutherischen deutschen Bibelausgaben in einer Inschrift zitiert wird: DI 34 (Bad Kreuznach), Nr. 261. Auch vielfache Suche nach Rezeption der vorlutherischen Bibelausgaben in verwandten Gattungen zeigt, daß die als Hilfsübersetzung zum Studium der lateinischen Bibel angelegte deutsche Bibel des späten Mittelalters keine Verbindlichkeit als eigenständige Textfassung erlangen konnte. »