Die Inschriften der Stadt Hildesheim

6. Die Sprache der Inschriften

6. 1. Latein

Bis zum Jahr 1350 sind die 326110) Inschriften des Hildesheimer Bestands ausnahmslos in lateini­scher Sprache verfaßt, davon 63 in Versen. Bei den Versinschriften handelt es sich mit wenigen Ausnahmen, die aus anderen Quellen übernommen sind, um eigenständige Kleindichtungen von unterschiedlicher Qualität. Die vorherrschenden Versformen sind der daktylische Hexameter und das elegische Distichon (daktylischer Zweizeiler aus Hexameter und Pentameter). In den Hildes­heimer Inschriften dieses Zeitraums ist der Hexameter häufiger belegt, hin und wieder steht auch ein Pentameter neben mehreren hexametrischen Versen (Nr. 35 u. 88). Hexameter und elegische Distichen sind häufig mit Reimen verziert, wobei der zwei Versenden verbindende Reim seltener verwendet wurde als der Binnenreim, der sogenannte leoninische Reim, der zwischen der Versmitte (Zäsur) und dem Versende eine Reimbindung herstellt. Leoninische Verse können ent­weder in der einsilbig gereimten Form vorkommen, bei der die dritte Hebung mit der Schlußsilbe überein­stimmt, oder in der höchstentwickelten Form des reinen zweisilbig gereimten Leoniners, bei dem die letzte Silbe des zweiten und die erste Silbe des dritten Versfußes mit den beiden Endsilben reimen. Eine dritte Form stellen die Trinini salientes dar, in denen drei Teile des Hexameters durch den Reim verbunden sind: cuncta regens / adversa premens / inimica coercens (Nr. 36). In den sicher datierten Inschriften des 11. Jahrhunderts sind mit der charakteristischen Ausnahme einzelner Verse auf dem kleinen Radleuchter (Nr. 22) ausschließlich einsilbig gereimte leoninische Verse überliefert (Nr. 12 u. 25). Die unsicher datierten Beispiele (Nr. 19, 20, 28 u. 58) müssen aus metho­dischen Gründen außer acht bleiben. Sie enthalten einzelne, überwiegend unrein gereimte zwei­silbige Leoniner. Die einsilbig gereimte Form wird nicht durch den zweisilbigen Leoniner abgelöst, sondern bleibt als Reimform neben den artifizielleren zweisilbig gereimten Versen, deren Entwick­lung erst im 12. Jahrhundert zum Abschluß kommt,111) nach wie vor bestehen. Beispiele für voll ausgebildete zweisilbige Leoniner bieten u. a. die Inschriften Nr. 35f., 40 u. 60f. Aber auch die anderen Formen wie Endreim und Zäsurreim einzeln und in Kombination sowie Trinini salientes sind neben reimlosen Versen den Verfassern der Hildesheimer Inschriften geläufig. Rhythmische Verse, wie sie in der christlichen Hymnik üblich waren, haben in den Inschriften bis 1350 hingegen keine Verwendung gefunden.

Die anspruchsvolleren Versformen korrespondieren mit der qualitätvollen künstlerischen Aus­führung der Objekte wie auch mit den ausgeklügelten Inhalten und der einfallsreichen Rhetorik der Texte. Einige Beispiele dazu wurden bereits im Rahmen der exegetischen Tituli (vgl. S. 50f.) vorgestellt. Exemplarisch sind hier die aus asyndetisch gereihten Gliedern bestehenden Hexameter [Druckseite 56] zu nennen: Hec parit hec credit obit hic fugit hec hic obedit (Nr. 52) und Ista flet hec surgit obit hic cadit hec dolet iste (Nr. 54). Diese deuten, dem Ideal der Brevitas verpflichtet, in knappster und äußerst pointierter Form den Fall des Judentums als eine der Konsequenzen aus der Kreuzigung Christi. In ähnlicher Form versuchen die vier leoninisch gereimten Hexameter auf der Ende des 12. Jahrhunderts entstandenen „Kleinen Madonna“ mit dem rhetorischen Mittel der Paradoxie das Geheimnis der Menschwerdung Christi in Antithesen zu fassen (Nr. 58): Christus einerseits vom Vater vor aller Zeit gegeben, andererseits in der Zeitlichkeit von der Mutter geboren. Auch in den metrischen Grabinschriften dieser Zeit sind außergewöhnliche metrische und reimtechnische Phänomene kombiniert mit sprachlichen Spielereien, wie die paronomastische Kombination der Homophone es (für aes ‚Erz’) und es (2. Singular Indikativ Präsens von esse) in dem für Bischof Otto I. (Nr. 70) verfaßten Grabgedicht. Nach dem Prinzip singula singulis ist das Grabgedicht auf dem Epitaph für Bischof Adelog (Nr. 45A) gebaut, in dem auf drei Substantive im ersten Halbvers des Hexameters im zweiten drei Adjektive folgen, zu denen drei Prädikate im Pentameter gehören. Auch die Inschriften auf der Domtaufe zeigen mit ihrer Kombination von Wörtern gleichen Stamms und gleichen Klangs (Nr. 67: S, T4, U2), daß die Verfasser die raffiniertesten Mittel der hochmittelalter­lichen lateinischen Poesie beherrschten.

In der Zeit vor 1350 werden für den Ausdruck komplexer Glaubensinhalte deutlich häufiger metrische Inschriften benutzt, die Prosa bleibt in dieser Zeit Weiheinschriften, Stiftungs-, Sterbe- und Begräbnisvermerken sowie Reliquienbeischriften und Gebetsaufforderungen vorbehalten. Im folgenden Zeitabschnitt von 1350 bis 1550 bleibt dieses Verhältnis von lateinischen Vers- und Prosainschriften in etwa bestehen, allerdings entfallen jetzt – wie bereits in den Ausführungen zu den exegetischen Tituli dargestellt – diejenigen Inschriften, die komplexe Inhalte in aufwendig gereimten daktylischen Versmaßen ausdrücken. Hexametrische und elegisch distichische Formen werden in dieser Zeit überwiegend für Grabinschriften der höheren Geistlichkeit (Nr. 97, 104, 126, 136, 159, 221 u. 354) eingesetzt und dienen nach wie vor als Bildbeischriften (Nr. 199, 296 u. 353), jedoch ohne exegetische Intention. Die Versform findet außerdem Verwendung in von Geistlichen veranlaßten Bauinschriften, wie z. B. in den Schlußsteininschriften von St. Godehard (Nr. 214) oder in zwei entsprechenden Texten an Kurien (Nr. 219f.). Ebenfalls von zwei Kurien stammen die frühesten Belege für Zitate metrisch gefaßter Sentenzen (Nr. 222 u. 323).

Aus dem bürgerlich privaten Bereich sind für diesen Zeitraum noch keine frei formulierten lateinischen Texte überliefert, lediglich der Rat benutzte das Lateinische (Nr. 199, 339 u. 352) bis zum Ende des Erfassungszeitraums für repräsentative Inschriften (z. B. Nr. 442 u. 445). Eine besondere Vorliebe für den gereimten Vers, wenn auch wenig dichterisches Talent, lassen die Inschriften auf dem prachtvollen turmförmigen Reliquiar des Lippold von Steinberg (Nr. 131) erkennen, in denen nicht nur die Stiftungsinschrift in Versen formuliert, sondern auch die Reli­quieninhalte in ein- und zweisilbig gereimten leoninischen Hexametern und Pentametern bezeichnet werden. Mit dem Vers Ecce panis angelorum auf einem Ziborium (Nr. 165) ist zum ersten Mal ein mittelalterliches Hymnenversmaß nachzuweisen, allerdings nur im Zitat. Abgesehen von zwei Inschriften in Stabat-mater-Strophen (Nr. 254 u. 701) und einer ambrosianischen Strophe (Nr. 747), bei denen es sich möglicherweise um eigenständige Dichtungen handelt, sind die klassischen Formen des mittelalterlichen Hymnus nirgends verwendet worden.

Von der Mitte des 16. Jahrhunderts an sind außer einem elegischen Distichon für Bischof Burchard von Oberg (Nr. 424) keine lateinischen Versepitaphien für Geistliche mehr nachzuwei­sen. Die Grabschriften für die Domkapitulare sind insgesamt in Prosa gefaßt. Hingegen lassen zwei zufällig überlieferte Epitaphien für Angehörige der städtischen Oberschicht erahnen, daß um diese Zeit auch in Hildesheim das späthumanistische Grabgedicht für Mitglieder dieser Gesellschafts­schicht üblich gewesen sein muß (Nr. 463 u. 476). Erfreulicherweise kennt man die Verfasser bei­der Gedichte, es handelt sich zum einen um den Professor für Poetik, griechische Sprache und Ethik in Erfurt Anton Moeker und zum anderen um den ehemaligen Marburger Professor poetices Johann Reiche.

In dieser Zeit werden auch an Bürgerhäusern neben lateinischer Spruchweisheit frei konzipierte Hausinschriftenprogramme in lateinischer Sprache angebracht, einzelne auch in metrischer Form (Nr. 452, 467F–I u. 478B), wobei auffällt, daß nach wie vor bildliche Darstellungen sowohl [Druckseite 57] religiöser als auch weltlicher Thematik bevorzugt von metrisch gefaßten Texten begleitet werden (Nr. 452, 467F–I, 478B, 495, 510, 516 u. 589). Dem bildlichen Schmuck entsprach in den Vorstellungen der Zeit die „geschmückte Rede“ offenbar eher als die schlichte Prosa. So sind die Bildbeischriften zu dem Gemäldezyklus des Doms in elegischen Distichen, die ebenfalls unter den Bildern angebrachten Stiftungs- bzw. Sterbeinschriften aber in Prosa gefaßt (Nr. 495, 510, 516, 520, 527, 589 u. 618). Die verwendeten Versmaße bleiben bis zum Ende des 16. Jahrhunderts auf den Hexameter und das elegische Distichon beschränkt, erst im 17. Jahrhundert werden einzelne Inschriften auch in selteneren antiken Metren zitiert oder verfaßt. Beispiele dafür sind das Inschriftenprogramm des Joachim Middendorf von 1609, der an seinem Haus Zitate in vier ver­schiedenen Metren anbringen ließ (Nr. 177), oder auch die wahrscheinlich von dem juristisch gebil­deten Bauherrn Sebastian Trescho selbst verfaßten Inschriften in jambischen Trimetern und verschieden gereimten Hexametern, deren zahlreiche Wortspiele insgesamt eine virtuose Sprachbe­herrschung und ein beträchtliches Bildungsbewußtsein erkennen lassen (Nr. 416). In diese Reihe gehört auch die in fünf Phaläkeen verfaßte Inschrift am Syndikus-Haus (Nr. 585). Die Verwendung entlegenerer Versmaße bleibt auf wenige Einzelfälle beschränkt, insgesamt dominiert in den lateinischen Texten des Hildesheimer Bestands in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts klar die Prosa.

6. 2. Niederdeutsch und Hochdeutsch

Die deutschsprachigen Inschriften bleiben in der Hildesheimer Überlieferung während des gesamten Erfassungszeitraums quantitativ deutlich hinter der lateinischen Überlieferung zurück.112) Dies ist in einer durch den Bischofssitz geprägten Stadt zwar nicht verwunderlich und stimmt auch mit den Beständen anderer Bischofsstädte aus dem niederdeutschen Raum wie Osnabrück und Minden überein, dürfte aber im vorliegenden Fall auch und zu einem nicht geringen Teil auf die fehlende Überlieferung für die Pfarrkirchen der Stadt und auf die frühen Verluste an Hausin­schriften während des Dreißigjährigen Kriegs zurückzuführen sein (vgl. oben S. 40). Die erste niederdeutsche Inschrift des Hildesheimer Bestands stammt aus dem Jahr 1350, es ist die Meister­inschrift des Gießers Jan van Halberstadt auf einer Glocke im deutschen Reimvers (Nr. 91). Sie steht geradezu idealtypisch für die von Renate Neumüllers-Klauser mit reichem Material belegte Kombination der Merkmale Meisterinschrift, frühe Verwendung der Volkssprache und früheste Belege der gotischen Minuskel.113)

Bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts sind nur acht weitere volkssprachige Inschriften zu verzeich­nen. In der Folgezeit nimmt die Zahl der deutschen Texte kontinuierlich zu, von 155 der in der Zeit zwischen 1450 und 1525 bezeugten Inschriften sind immerhin 41 in deutscher Sprache über­liefert. Unter ihnen können die aus dem Jahr 1451 stammenden umfangreichen Texte des Vater­unsers, des Ave Maria und des Glaubensbekenntnisses auf der Cusanus-Tafel (Nr. 167), wenn es um Belege für regionalsprachliche Formen geht, besonderes sprachhistorisches Interesse bean­spruchen. Bei den übrigen Texten handelt es sich meistens um knappe Bauinschriften (Nr. 177A, 190, 208, 263 u. 310). Ähnlich geringe Textmengen bieten einzelne niederdeutsche Grabinschriften (Nr. 193, 195 u. 297), von denen zwei im deutschen Reimvers verfaßt sind (Nr. 300 u. 303), außer­dem die Beischriften auf dem Katharinenteppich (Nr. 233) und eine Ablaßinschrift (Nr. 248). Aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts kommen an deutschsprachigem Material noch wenige nieder­deutsche [Druckseite 58] Stiftungs- und Meisterinschriften (Nr. 291 u. 301f.) sowie ein einzelner metrisch gefaßter Geschützspruch (Nr. 295) hinzu.

Um die Mitte des 16. Jahrhunderts setzt in den Inschriften der Sprachwechsel vom Nieder­deutschen zum Hochdeutschen ein. Für die Untersuchung dieses Übergangs können prinzipiell nur die im Original erhaltenen Inschriften herangezogen werden, mit Vorbehalt auch diejenigen kopia­len Überlieferungen, die den lautlichen Befund der Inschrift zuverlässig bewahren. Das sind im wesentlichen die Aufzeichnungen von Kratz und Mithoff. Sie bieten zwar die Inschriften weit­gehend in ihrer originalen lautlichen Gestalt, doch lassen sich spontane Abschreibfehler nicht aus­schließen. Andere kopiale Überlieferungen wie die von Oeynhausen aufgezeichneten deutschen Grabinschriften und die eher beiläufig mitgeteilten Inschriften vom St. Godehard-Friedhof114) müs­sen aus der Untersuchung des Sprachwechsels grundsätzlich ausgeklammert werden, weil sie die originale Graphie erkennbar nicht bewahrt haben. Da diese beiden kopialen Quellen den wesentlichen Teil des Bestands an deutschsprachigen Grabinschriften mitteilen, fällt diese Gruppe, die andernorts oft den größten Teil der deutschsprachigen Texte ausmacht, im Hildesheimer Bestand fast völlig aus. Lediglich 18 original erhaltene, davon 13 Fragmente mit nur wenigen Wör­tern, und neun zuverlässig kopial überlieferte deutsche Grabinschriften mit zudem überwiegend geringem Wortbestand stehen für eine sprachhistorische Auswertung im Zeitraum von 1525 bis 1650 zur Verfügung. Neben den wenigen Grabinschriften verbleiben als Träger volkssprachiger Inschriften zum einen die komplett zerstörten Geschütze, zum anderen wenige Stücke der Kirchenausstattung, deren Inschriften zumeist nicht mehr im Original vorliegen, und als dritte Gruppe die große Zahl der nahezu vollständig zerstörten Privathäuser, deren Inschriften allerdings in einigen Fällen in zuverlässigen Photographien bewahrt sind. Insgesamt bietet der Hildesheimer Bestand aus der Zeit von 1525 bis 1650 nur 44 erhaltene deutsche Einzeltexte. Diese problematische Beleglage schränkt die sprachhistorische Auswertung der deutschsprachigen Hildesheimer Inschriften in starkem Maße ein.

Als früheste hochdeutsche Texte sind die im Original erhaltenen Versinschriften auf der 1547 für St. Andreas gegossenen Taufe (Nr. 358) des Braunschweiger Gießers Hans Sievers anzusehen, die nur noch einzelne niederdeutsche Elemente (Rade für ‚Rat’, dorch Cristi Blut) bzw. einzelne hoch­deutsch-niederdeutsche Mischformen aufweisen: besneidunge, Dreifaldicheit. Für diese Inschriften konnte zwar keine Quelle nachgewiesen werden, einzelne sprachliche Formen lassen aber ostmittel­deutschen Charakter erkennen (gedeuffet ‚getauft’, gleubet ‚glaubt’). Vermutlich wurden die Inschriften aus einem mitteldeutsch geprägten Zusammenhang zitiert. Die Inschriften der Folgezeit bis etwa 1575 halten mit Ausnahme der drei in Halle/Saale, also außerhalb des ostfälischen Sprachraums, entstandenen Texten auf den von Jobst Camerer gefertigten Kupferbildnissen (Nr. 365, 381 u. 384) noch am Niederdeutschen fest (Nr. 361, 362, 367, 390A, 398, 405 u. 411). Dabei verwenden sie allerdings auch in andere Quellengattungen früh eindringende hochdeutsche Einzelformen,115) wie z. B. die Nachsilbe -lich in den Wörtern ewichlich und sekerlich in einer Hausinschrift von 1563 (Nr. 396 †), die auch nebeneinander ick und mich aufweist.

Die entscheidende Phase für den Übergang zum Hochdeutschen stellt die Zeit von 1575 bis etwa 1600 dar, an deren Anfang die erste hochdeutsche Hausinschrift von 1577 (Nr. 437 original) und zwei im deutschen Reimvers verfaßte Inschriften an der Ratsapotheke von 1579 (Nr. 445 original und Photo) stehen, die mit Wilt du und Olderman in sechzehn Versen lediglich noch zwei niederdeutsche Elemente aufweisen. Auch die einzige aus dieser Zeit erhaltene deutschsprachige Grabschrift für den 1588 verstorbenen Burchard von Landesberg (Nr. 480) ist hochdeutsch, aller­dings läßt die Formulierung ihn Godt den Hern ‚in Gott dem Herrn’ Unsicherheiten eines niederdeut­schen Sprechers in der korrekten Verwendung des Dativs im Hochdeutschen erkennen. Die hier verwendete Form entslafen kann als hochdeutsch-niederdeutsche Mischform gedeutet werden, kommt allerdings auch im Mitteldeut­schen des 16. Jahrhunderts vor. In den Grabschriften ist sie [Druckseite 59] bis ins zweite Viertel des 17. Jahrhunderts anzutreffen (Nr. 619 † u. 731). Für das erste Viertel des 17. Jahrhunderts gestatten die wenigen Belege keine eindeutige Aussage: Die erhaltene Grabschrift für die Wernerschen Kinder (Nr. 553) von 1601 weist keine niederdeutschen Formen mehr auf, während sich in der hochdeut­schen Grabschrift für den Ratsherrn Hans Loges von 1620 (Nr. 649) noch Niederdeutsches findet: van statt von, slege für ‚Schläge’ und wohl auch vorscheiden für ‚verschieden’. Die Hausinschriften weisen nach der Wende zum 17. Jahrhundert ebenfalls noch niederdeutsche Einsprengsel auf, z. B. Nr. 585 †: der deit dich din gut vermehren u. Nr. 626 E: Ach got wie geit das immer zu, wobei besonders die gereimten Haussprüche116) wie: Wol Godt vortruwet der heft woll gebuwet dat ohme nich geruwet (Nr. 597 †) oder der in Hildesheim beliebte Zweizeiler: Affgunst der Lude kann nicht schaden /Wat got wil dat mot geraden117) das Niederdeutsche oft lange bewahren. Ähnlich wie die Hausinschriften verhalten sich die Geschützinschriften zum Hochdeutschen. Die frühesten hochdeutschen Beispiele waren auf den Stücken des Gießers Hans Fricke aus den Jahren 1602 und 1607 angebracht (Nr. 560 † u. 582 †), in den Inschriften der anderen Gießer lassen sich noch einzelne niederdeutsch-hochdeutsche Mischformen erkennen (Nr. 606 Sneider, im Reim bruchn statt ‚brauchen’). Nach 1625 sind keine durchgängig niederdeutschen Inschriften mehr nachweisbar, lediglich einzelne niederdeutsche Relikte treten noch in den nun grundsätzlich hochdeutschen Texten auf (Nr. 738: Creutz und Dodt, Nr. 764 Lob Pris und Ehr).

Eine genauer nach den Inschriftengattungen spezifizierte Analyse der Beobachtungen zum Sprachwechsel gestattet der Bestand nicht. Lediglich im Vergleich mit den Nachbarstädten Hannover und Braunschweig118)gewinnen die Einzelbeobachtungen eine gewisse Kontur: Wie in Hildesheim stellen auch dort die Jahre von 1575 bis 1600 die entscheidende Phase für den Sprach­wechsel dar, wobei die Grabschriften zumindest teilweise schon seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in hochdeutscher Sprache verfaßt worden sind, während sich in den Hausinschriften das Hochdeutsche erst mit der Wende zum 17. Jahrhundert durchsetzt. Diese Phasenverschiebung bei den Haus­inschriften konnte für die Braunschweiger Inschriften darauf zurückgeführt werden, daß die Haus­inschriften überwiegend von den Bauherren selbst konzipiert worden sein dürften, wäh­rend die wahrscheinlich eher akademisch gebildeten und meist von außen in die Stadt gekom­menen Urheber der Grabinschriften wie Schreiber, Pastoren und Lehrer früh mit dem überregional gebräuchlichen Hochdeutsch vertraut waren, das sie auch schreiben konnten. Der relativ späte Zeitpunkt des Übergangs zum Hochdeutschen bei den Hildesheimer Hausinschriften entspricht etwa den am Braunschweiger Material beobachteten Verhältnissen. Ob diese späte Ablösung auch in Hildesheim zeitlich mit dem Übergang der Unterrichtssprache in den städtischen Schulen119) korrespondiert, bedarf noch der vergleichenden Untersuchung an den Hildesheimer Schulordnun­gen und an den im Unterricht eingesetzten Texten.

Zitationshinweis:

DI 58, Stadt Hildesheim, Einleitung, 6. Die Sprache der Inschriften (Christine Wulf), in: inschriften.net,  urn:nbn:de:0238-di058g010e006.

  1. Die Zählung der Inschriften erfolgt nicht nach Editionsnummern, die jeweils einem Inschriftenträger entspre­chen, sondern nach den einzelnen Texteinheiten, die in größerer Zahl unter einer Editionsnummer vereinigt sein können. Unberücksichtigt bleiben bloße Personen- oder Heiligennamen sowie Datumsangaben, die nur aus Anno oder Anno domini und einer Jahreszahl bestehen. »
  2. Vgl. Clemens M. M. Bayer: Zur Entwicklung des Reimes in lateinischen metrischen Inschriften vom Ende des 8. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. In: Arbor amoena comis. 25 Jahre Mittellateinisches Seminar in Bonn 1965–1990, hg. von Ewald Könsgen. Stuttgart 1990, S. 113–132, hier S. 123. »
  3. Zum Verhältnis der lateinischen und deutschen Inschriften im Bestand Hildesheim: vor 1300 Lat.: 216; 1301–1400 Lat.: 69, Ndd.: 3; 1401–1450 Lat.: 50, Ndd.: 4; 1451–1500 Lat.: 76, Ndd.: 25; 1501–1525 Lat.: 38, Ndd.:16; 1526–1550 Lat.: 52, Dt.: 31; 1551–1575 Lat.: 31, Dt.: 24; 1576–1600 Lat.: 101, Dt.: 54; 1600–1625 Lat.: 102, Dt.: 72; 1625–1650 Lat.: 86, Dt.: 34. Für die Zeit nach 1525 wird, um diese Kurzübersicht nicht zu überlasten, zwischen hochdeutschen und niederdeutschen Inschriften nicht differenziert. Zu den Zahlenverhältnissen Latein/Deutsch in den bisher erschienenen Bänden vgl. die Übersichten bei Christine Wulf: Versuch einer Typologie deutschsprachiger Inschriften. In: Epigraphik 1988, hg. von Walter Koch. Wien 1990 (Österreichi­sche Akademie der Wissenschaften, Denkschriften der phil.-hist. Klasse 213), S. 127–137, hier S. 129f.; Walter Hoffmann: Inschriften und Sprachgeschichte: Auswertungsperspektiven der „Deutschen Inschriften“. Zeit­schrift für deutsche Philologie 119 (2000), S. 1–29, hier S. 22–24. »
  4. Vgl. Renate Neumüllers-Klauser: Schrift und Sprache in Bau- und Künstlerinschriften. In: Deutsche Inschriften, S. 62–81, S. 70 u. S. 75. »
  5. Vgl. oben S. 32 u. S. 36, Hannover, Landesbibliothek, Oy-HV, 42 Sammlung Oeynhausen und StaHi, Best. 100-91, Nr. 167. »
  6. Vgl. Artur Gabrielsson: Die Verdrängung der mittelniederdeutschen durch die neuhochdeutsche Schriftsprache. In: Handbuch zur niederdeutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, hg. von Gerhard Cordes und Dieter Möhn. Berlin 1983, S. 119–153, hier S. 127. »
  7. Vgl. auch Nr. 591B–D, 635, 644D u. 672»
  8. Vgl. Nr. 552 † von 1601, Nr. 583 † von 1608, Nr. 603 † von 1611 u. Nr. 645 † von 1619. »
  9. Vgl. DI 36 (Stadt Hannover), S. XXVIf.; DI 56 (Stadt Braunschweig II), S. XXXIV–XXXVII. »