Die Inschriften des Landkreises Northeim

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7. Die Sprache der Inschriften129)

Von den 331 Inschriften des Bestands sind 111 in deutscher, 112 in lateinischer Sprache verfasst.130) Auf 27 inschriftentragenden Objekten sind deutsche und lateinische Texte kombiniert. Bloße Namen, Zahlen, durch Einzelbuchstaben abgekürzte Inschriften oder Kreuzestituli sind in dieser Zählung unberücksichtigt geblieben. Kombinationen von Deutsch und Latein können zum einen in der Form vorliegen, dass ein lateinisches Element in eine ansonsten deutschsprachige Textumgebung integriert wird, wie zum Beispiel (Nr. 76) das Prädikat fecit in einer niederdeutschen Bauinschrift aus dem Jahr 1500: Anno xvc fecit mester clawes in de gulden iare (Nr. 76). Weitaus häufiger sind jedoch diejenigen Fälle,131) in denen auf demselben Objekt eine lateinische und eine deutsche Inschrift nebeneinander stehen, wie auf der Grabplatte des Heinrich Rotermund von 1625, auf der neben einem umlaufenden deutschsprachigen Sterbevermerk eine um die Wörter mors und moritur kreisende Reflexion über Tod und Sterben im Innenfeld angebracht ist (Nr. 258). Besonderes Interesse kann in diesem Zusammenhang die kopial überlieferte Grabinschrift für den 1595 verstorbenen Pastor Johannes Strube beanspruchen (Nr. 193). Sie besteht aus einer deutsch-lateinischen Parallelversion, in der 16 elegischen Distichen 32 deutsche Reimverse gegenüberstehen. Verglichen mit den Nachbar-Landkreisen überrascht im vorliegenden Bestand der mit ungefähr der Hälfte der längeren Inschriften hohe Anteil des Lateinischen, während in den Nachbarlandkreisen Göttingen, Holzminden und Hildesheim das Deutsche mit etwa zwei Dritteln dominiert.

Es wäre jedoch verfehlt, aus der relativ starken Präsenz des Lateinischen zu schließen, dass der Sprachwechsel, der normalerweise um die Mitte des 16. Jahrhunderts dem Deutschen eine Vorrangstellung verschafft,132) nicht stattgefunden hätte. Vielmehr ist es offenbar dem Zufall der inhomogenen Überlieferung und einer besonderen Entwicklung bei den Grabschriften (dazu s. u.) geschuldet, dass dieser Sprachwechsel im vorliegenden Bestand erst im 17. Jahrhundert mit 67 deutschsprachigen zu 44 lateinischen Inschriften klarer zu fassen ist.

Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts findet man das Lateinische erwartungsgemäß besonders in Inschriften, die in die Nähe liturgischer Aktionen gehören, also zum Beispiel Weiheformeln (Nr. 1), oder markante Gebetstexte aufnehmen wie im Fall des hochmittelalterlichen Glockengebets o rex gloriae veni cum pace (Nr. 16) bzw. des universell verfügbaren Ave maria (Nr. 8, 9, 23). Selbstverständlich sind in diesem Zeitraum auch die wenigen, oft zu apotropäischen Formeln erstarrten Bibelzitate lateinisch (Nr. 5, 6, 18). Bewahrende Räume für das Latein waren generell die Klöster und Stifte,133) lediglich die kopial überlieferte Beischrift zu einem Totentanz im Gandersheimer Barfüßerkloster aus dem ersten Viertel des 16. Jahrhunderts (Nr. 108) war in deutschen Reimversen ausgeführt. Auch die Inschriften aus dem herzoglichen Umkreis sind bis in diesen Zeitraum lateinisch (Nr. 20, 21, 22, 31, 32, 39). Erst eine Bauinschrift aus dem Jahr 1530 leitet den sprachlichen Wechsel zum Hochdeutschen ein (Nr. 109).

Nach 1550 bleibt das Lateinische besonders bewahrt in normierten Formeln, wie in der Devise Verbum domini manet in aeternum, die im Landkreis Northeim im Unterschied zur Stadt Einbeck nur in dieser lateinischen Form auftritt.134) Auch persönliche Devisen und Sprichwörter sind, vor allem dann, wenn ihre Auftraggeber eine akademische Ausbildung absolviert haben, überwiegend lateinisch (Nr. 126, 190, 254). Die Tradition des lateinischen Bibelzitats wird auch – anders als beispielsweise [Druckseite 50] im benachbarten Landkreis Hildesheim135) – mit dem Erscheinen von Luthers Deutscher Bibel nicht beendet; vielmehr zitiert man vor allem in lateinischer Textumgebung weiterhin die lateinische Bibel in der Version der Vulgata (Nr. 190, 194, 241, 279, 291). In einem Fall hat sich der Verfasser allerdings vom Wortlaut der Vulgata entfernt und wahrscheinlich die Lutherbibel als Grundlage für seine ins Lateinische übersetzte Inschrift gewählt (Nr. 290).

Refugien des Lateinischen wurden nach der Mitte des 16. Jahrhunderts auch die anspruchsvollen, oft in Versform gefassten Grabschriften, deren Auftraggeber überwiegend gelehrte Juristen und Theologen waren. In erster Linie waren es die evangelischen Pastoren, die nicht selten prospektiv für sich selbst, in der Regel aber für Angehörige und Freunde ambitionierte lateinische Epitaphien verfasst haben (z. B. Nr. 153, 182, 187, 193, 290, 291, 294). Auch die in herzoglichen Diensten stehenden, juristisch gebildeten Räte haben für sich und ihre Familie lateinische Versepitaphien in Auftrag gegeben (Nr. 167), in einzelnen Fällen dürften sie auch als deren Verfasser anzusehen sein (Nr. 226, 245). Auffallend oft waren es darüber hinaus die Angehörigen der städtischen Führungsschicht, die solche gelehrten, in der Manier des Späthumanismus verfassten Memorialtexte als Form der Selbstdarstellung attraktiv fanden (z. B. Nr. 142, 156).136) Hintergrund für diese Form der Selbstdarstellung waren die um die Mitte des 16. Jahrhunderts in den Städten virulenten reformatorischen Bildungsbemühungen, wie sie in Martin Luthers Ratsherrenschrift von 1524 anklingen und, vermittelt durch Philipp Melanchthon, etwas später in den Kirchenordnungen normativ wirksam wurden. Dieser „Rückfall“ ins Lateinische, der sich auch in Städten wie Einbeck,137) Hameln oder Hannover138) zeigt, dürfte einer der Gründe sein, warum der Sprachwechsel im vorliegenden Bestand kein klares Profil gewinnt.

Die früheste Inschrift in deutscher Sprache wurde im Jahr 1324 im Muthaus der Burg Hardeg angebracht (Nr. 14). Diese weitgehend im Original erhaltene und sicher datierte Bauinschrift gehört überhaupt zu den ältesten Belegen für die Verwendung des Deutschen in den bisher bearbeiteten niedersächsischen Inschriftenbeständen. Üblicherweise tritt die Volkssprache in den Inschriften erst um die Mitte des 14. Jahrhunderts sehr allmählich in Konkurrenz zum Lateinischen.139) Abgesehen von zwei niederdeutschen Textfragmenten (Nr. 23, 24) hat sich aus der Zeit vor 1400 nur die kurze Bitte um Gebetsbeistand bydet vor herman greven vnde tielen scv(t)tsele auf einem Kelch erhalten (Nr. 28). Erst im 15. Jahrhundert wird die volkssprachige Überlieferung etwas dichter, und es finden sich nun neben kurzen Gebetsanrufen (maria got hilp, Nr. 46) oder einer Bauinschrift aus Northeim (Nr. 52) auch umfangreichere deutschsprachige Texte in den Inschriften. Dazu gehört eine Bauinschrift (Nr. 38) aus dem Jahr 1439 an der St. Martinskirche in Greene, die von zwei Angehörigen der Familie von Rauschenplat veranlasst wurde. Eine weitere Inschrift aus dem Jahr 1490 erinnert in einem deutschsprachigen Merkvers an den Neubau der Liebfrauenkirche in Moringen nach einem Brand (Nr. 70). Hinzu kommt eine Ablassinschrift auf einem Altarretabel aus der St.-Martin-Kirche in Greene (Nr. 78, 4. V. 14. Jh.). Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts sind lediglich fünf weitere deutschsprachige Inschriften im Original erhalten (Nr. 86, 98, 109, 110, 115). Sie sind – mit zwei Ausnahmen (Nr. 109, Nr. 113 B) – allesamt in niederdeutscher Sprache verfasst, genauer gesagt: in der regional üblichen Schreibsprache des Ostfälischen.

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Das Hochdeutsche ist zum ersten Mal belegt in der 1530 entstandenen Inschrift (Nr. 109) auf einer Bronzetafel im Schloss Erichsburg, mit dessen Bau Herzog Erich I. von Calenberg 1527 begonnen hatte. Die Inschrift folgt damit der Praxis am Hof von Herzog Erich I. in Hann. Münden, an dem 1501 das Hochdeutsche als Kanzleisprache eingeführt worden war. Im selben Jahr bezeugte eine hochdeutsche Inschrift den Baubeginn des Schlosses in Münden.140) Die auf den ersten Beleg von 1530 nächstfolgende, komplett in hochdeutscher Sprache verfasste Inschrift, ein in deutsche Reimverse gefasster Spruch an einer Hausfassade in Uslar (Nr. 127), liegt erst aus dem Jahr 1565 vor. Die älteste hochdeutsche Grabinschrift stammt erst aus dem Jahr 1576 (Nr. 148). Neben diesen allmählich dominierenden hochdeutschen Inschriftenzeugnissen blieb das Niederdeutsche jedoch bis zum Ende des Erfassungszeitraums weiterhin präsent, und zwar sowohl als konstante Sprachform für den gesamten Inschriftentext (Nr. 124, 127 B, 130, 139 A), wie auch in Gestalt versprengter niederdeutscher Einzelwörter in ansonsten hochdeutschem Kontext: So steht zum Beispiel in der (kopial überlieferten) Grabschrift für Christoph von Plesse die niederdeutsche Varietät dag in rein hochdeutscher Umgebung (Nr. 134); in einem anderen Fall (Nr. 140) folgt dag direkt auf Dinstag.141) Späte Beispiele für längere niederdeutsche Texte bieten eine Hausinschrift aus Gandersheim (Nr. 161) aus dem Jahr 1581, die zwar mit einer hochdeutschen Datumsformel beginnt, dann aber niederdeutsch fortgesetzt wird, und ein längeres Bibelzitat (Nr. 184), das ein Northeimer Bürgermeister 1591 an seinem Haus anbringen ließ. Nach 1600 sind nur noch sehr vereinzelte Reste in hochdeutscher Umgebung zu beobachten, wie zum Beispiel in der Inschrift auf einer Taufe von 1641 (oder 1614?) die niederdeutsche Form Dope. Derartige Einsprengsel lassen sehr gut erkennen, dass die hochdeutsche Schreibsprache der Region auf dem gesprochenen Niederdeutsch aufruht.

Auf zwei Inschriften, deren Schreibsprache bairische Einflüsse zeigt, ist abschließend besonders hinzuweisen, weil sie den interessanten Fall von Sprachimport durch Ortswechsel dokumentieren: Nr. 132 und 133. Auftraggeberin beider Inschriften war die aus Augsburg stammende Ehefrau des herzoglichen Sekretärs Johann Fuchs, Ursula, die selber zumindest das Epitaph für beide Eheleute (Nr. 133) zu ihren Lebzeiten entworfen hat.

Zitationshinweis:

DI 96, Northeim, Einleitung, 7. Die Sprache der Inschriften (Jörg H. Lampe, Christine Wulf), in: inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di096g017e004.

  1. Zur Sprache von Inschriften s. Christine Wulf, Wann und warum sind Inschriften niederdeutsch?, in: Niederdeutsches Jahrbuch 136 (2013), S. 7–20. Ingrid Schröder, Niederdeutsche Inschriften als Zeugnisse regionaler Kultur, in: Inschriften als Zeugnisse kulturellen Gedächtnisses. 40 Jahre deutsche Inschriften in Göttingen, hg. von Nikolaus Henkel, Wiesbaden 2012, S. 101–114. »
  2. Anno domini bleibt, da es sprachlich „neutral“ verwendet wird, unberücksichtigt. »
  3. Vgl. z. B. Nr. 68, 117, 118, 127, 190, 213, 224, 251, 254, 275, 280, 282, 292»
  4. Vgl. DI 66 (Lkr. Göttingen), S. 24. DI 83 (Lkr. Holzminden), S. 33. DI 88 (Lkr. Hildesheim), S. 36»
  5. Vgl. Nr. 54, 57, 58, 59, 60, 66, 73, 87, 89, 90, 92, 111, 116»
  6. Lateinische Belege im Katalog Northeim: Nr. 117, 118, 121, 122, 141, 152, 157, 229; deutschsprachige Belege in Einbeck: DI 42 (Stadt Einbeck), Nr. 71 u. 74»
  7. Vgl. DI 88 (Landkreis Hildesheim), S. 36»
  8. Näheres dazu s. Christine Wulf, Bürgerlicher Späthumanismus in Inschriften, in: Acta Conventus Neo-Latini Upsaliensis. Proceedings of the Fourteenth International Congress of Neo-Latin Studies (Uppsala 2009), hgg. von Astrid Steiner-Weber u. a., Leiden/Boston 2012, S. 1207–1217. Helga Giersiepen, Städtisches Bürgertum der frühen Neuzeit im Spiegel der Inschriften, in: Epigraphik 2000, Neunte Fachtagung für mittelalterliche und neuzeitliche Epigraphik, Klosterneuburg 9.–12. Oktober 2000, hgg. von Gertrud Mras u. Renate Kohn, Österreichische Akademie der Wissenschaften Phil.-Hist. Klasse, Denkschriften Bd. 335. Wien 2006, S. 173–184, hier S. 175 mit Verweis auf die Inschriftenbestände in Hameln und Osnabrück. »
  9. Vgl. DI 42 (Stadt Einbeck), S. XX und Nr. 85, 90, 102, 107, 114, 137»
  10. Vgl. DI 28 (Stadt Hameln), S. XXIVf.; DI 36 (Stadt Hannover), S. XXIVf. Vgl. auch DI 58 (Stadt Hildesheim), S. 45 u. 56»
  11. Beispiele für im Original überlieferte deutschsprachige Inschriften vor der Mitte des 14. Jahrhunderts in südniedersächsischen Beständen: DI 19 (Stadt Göttingen), Nr. 5 (1342); DI 66 (Landkreis Göttingen), Nr. 11 (1343?). »
  12. Vgl. DI 66 (Lkr. Göttingen), Nr. 110 und S. 25»
  13. Weitere (mit Ausnahme von Nr. 207) kopial überlieferte Beispiele für niederdeutsche Einzelformen in hochdeutscher Umgebung: Nr. 138 (Frv), Nr. 173 (entslapen), Nr. 207 (van allen svnden), Nr. 211 (Stet uf ihr Doten …). »