Die Inschriften des Landkreises Hildesheim

7. Die Sprache der Inschriften91)

Von den 464 Inschriften des Bestands sind 180 durchgängig in deutscher Sprache abgefasst, 124 in Latein;92) 33 Inschriften kombinieren Deutsch und Latein, eine einzige hat einen hebräischen Text. Bloße Namen, Zahlen oder Kreuzestituli sind in dieser Zählung unberücksichtigt geblieben. Kombinationen von Latein und Deutsch können in der Form vorliegen, dass beispielsweise ein lateinisches Prädikat innerhalb eines ansonsten deutschen Texts steht: Her Adam Pfaffendof Parner Tho Borchtorp dedit to dissem Kelche 1 Daler (Nr. 179), oder dass auf ein und demselben Grabdenkmal eine lateinische Grabschrift neben einem deutschen Bibelzitat angebracht ist (Nr. 178). Sprachsoziologisch liegt ein Schwerpunkt der Inschriften im Landkreis Hildesheim bei den sehr homogen strukturierten deutschsprachigen Grab- und Stiftungsinschriften des landsässigen Adels, die ab 1550 den Bestand dominieren. Einen starken Anteil an den deutschsprachigen Inschriften haben daneben die kurzen Vermerke der Älterleute auf den von ihnen, stellvertretend für die Gemeinde, in Auftrag gegebenen oder gestifteten Objekten der Kirchenausstattung.

Die früheste Inschrift in deutscher Sprache stammt aus der Zeit um 1300 (Nr. 8). Sie ist auf einer Glocke angebracht, die aber erst zu Anfang des 17. Jahrhunderts in das Bearbeitungsgebiet gelangt ist. Damit ist sie zwar überregional als früher Beleg für die Verwendung der deutschen Sprache von Bedeutung, hat aber für das Einsetzen des Deutschen in der Region um Hildesheim keine Relevanz.93) Die nächstjüngere deutsche Inschrift befindet sich auf der 1353 für Sibbesse gegossenen Glocke (Nr. 9). Sie kombiniert eine lateinische Datumsangabe mit einer sehr kurzen Namensansage Maria bin ich ghenant, die statt des im Hildesheimer Raum erwartbaren autochthonen Niederdeutsch überraschend früh hochdeutsche Formen aufweist. Hochdeutsche Varietäten dieser Art sind bei Glockeninschriften nicht selten anzutreffen, wahrscheinlich weil die Gießer überregional tätig waren und ihnen hochdeutsche Formen deshalb gerade bei formelhaften Textbestandteilen wie hilf gott (Nr. 129) vertraut sein mussten.94) Die früheste Inschrift, die tatsächlich die niederdeutsche Schreibsprache des Bearbeitungsgebiets, also des Ostfälischen, abbildet, stammt aus dem Jahr 1423 und datiert den Bau der Steinbergkapelle an der Alfelder St. Nikolai-Kirche (Nr. 15). Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts folgen ihr weitere 15 deutschsprachige Texte, denen 40 lateinische gegenüber-[Druckseite 36]stehen. Drei Inschriften kombinieren deutsche und lateinische Elemente. Erweitert man den Zeitraum bis 1550, so verschieben sich die Verhältnisse nur unwesentlich: 12 Inschriften sind in der Volkssprache abgefasst, 34 in Latein, wiederum drei teils in Deutsch, teils in Latein.

Die Position des Lateinischen blieb bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts bemerkenswert konstant. Das gilt, wie nicht anders zu erwarten, für die Inschriften aus Klöstern und Stiften, die mit wenigen Ausnahmen (Nr. 151, 153) bis zum Ende des Erfassungszeitraums lateinisch sind (z. B. Nr. 326, 333, 334, 340, 371). Auch die unmittelbar der Messfeier dienenden spätgotischen Altäre tragen keine deutschen Inschriften (Nr. 136, 137), sieht man einmal ab von einer einzigen Gebetsformel byt got (Nr. 114) in einem ansonsten lateinischen Inschriftenprogramm. Auf vielen Glocken stehen weiterhin die dem hochmittelalterlichen Formular verpflichteten Gebete o rex gloriae veni cum pace und ave maria (Nr. 160) bzw. der traditionelle Spruch vivos voco defunctos plango (Nr. 132, 133, 134), der allerdings einmal auch in niederdeutscher Sprache verwendet wurde: den levendighen roep ick, den dooden ouer luy ick (Nr. 147 ‚den Lebenden rufe ich, den Toten läute ich aus‘). Andere Glocken, wie die des Harmen Koster, nehmen die ebenfalls in der Liturgie lebendig gebliebenen lateinischen Marienhymnen auf. In deutscher Sprache hingegen sind vorwiegend solche Inschriften abgefasst, die unabhängig vom Zwang der Vorlagen und Formulare sprachlich freier verfahren, weil sie Personennamen, Patrone oder Standortbezüge einbinden müssen. Beispiele dafür sind die Inschrift auf der Glocke in Rössing von 1429: in den achten daghen petri et pauli dvsser kerken patronen (Nr. 18) oder der Besitzvermerk auf einem Kelch in Möllensen aus dem Jahr 1518: dvsee kelck hort svnte lvcyen to melsen (Nr. 108).

Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts gewinnt die deutsche Sprache deutlich die Vorrangstellung vor dem Lateinischen: Von 1550 bis 1650 sind nur noch 46 Inschriften lateinisch und 143 deutsch, 24 sind aus lateinischen und deutschen Elementen kombiniert. Einen späthumanistischen „Rückfall“ ins Lateinische, wie er in manchen städtischen Beständen, etwa Hameln oder Hildesheim, infolge der reformatorischen Bildungsbemühungen gegen Ende des 16. Jahrhunderts eingetreten ist, hat es im Hildesheimer Land, abgesehen von der Alfelder Lateinschule (Nr. 311), nicht gegeben. Verantwortlich für diesen konsequenten Sprachwechsel waren in erster Linie die Angehörigen des ländlichen Adels, die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts die Inschriftenproduktion im Hildesheimer Land quantitativ bestimmt haben. Ihre bevorzugte Sprache war bereits im späten Mittelalter das Deutsche, wie die schon erwähnte Bauinschrift an der Steinbergkapelle der Alfelder Nikolaikirche von 1423 zeigt (Nr. 15). Auch ein 1518 von Aschwin von Bortfeld gestifteter Bildstock trägt ausschließlich Texte in deutscher Sprache (Nr. 107). Entscheidend für die in der Überlieferung so klar zutage tretende Ablösung des Lateinischen ist, dass nach der Mitte des 16. Jahrhunderts etwa die Hälfte der Inschriften auf das Konto des demonstrativ selbstbewusst auftretenden Adels geht. Nun häufen sich zum einen die reich ausgestatteten adeligen Grabdenkmäler, die Sterbevermerke und deutsche Bibelverse tragen, zum anderen die ebenfalls volkssprachigen Inschriften auf Bauten und vor allem auf kirchlichen Ausstattungsstücken, mit denen die Adeligen nach der Reformation ihre Patronatskirchen bedacht haben. Auch diese Objekte tragen neben den Stiftervermerken, wie oben bereits näher ausgeführt, vielfach Zitate aus der Lutherbibel. Natürlich ist mit dem Druck der Lutherbibel auch auf dem Feld der Inschriften der Sieg des Deutschen über das Lateinische vorentschieden. Das Lateinische hält sich nach wie vor in literarisch normierten Formeln wie in der Devise Verbum domini manet in aeternum, die im Landkreis Hildesheim nur in dieser lateinischen Form überliefert ist (Nr. 150, 170, 268, 310, 347), dem Sprichwort Fiat pro ratione voluntas (Nr. 257) oder dem aus Jesus Sirach abgeleiteten Hodie mihi cras tibi (Nr. 338). Einigermaßen sichere Refugien der lateinischen Sprache blieben bis auf weiteres die anspruchsvollen Grabschriften, deren Auftraggeber und vermutlich auch Verfasser aus dem gebildeten Kreis der evangelischen Pastoren kamen (Nr. 253 C, 255, 263 B, 329, 324, 339, 365, 423).

Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts weisen, mit Ausnahme der wenigen oben näher beschriebenen hochdeutschen Formen hilff gott oder bin ich ghenant auf einzelnen Glocken, alle deutschsprachigen Inschriften niederdeutschen Lautstand auf. Die erste hochdeutsche Form ist in der Fürbittformel am Schluss der 1550 entstandenen Grabschrift für Sieverdt von Steinberg belegt. Dort wird statt des bis dahin üblichen dem godt gnedich sij – so noch die zwei Jahre vorher entstandene Grabschrift [Druckseite 37] Henning von Steinbergs (Nr. 151) – die hochdeutsche, diphthongierte Form dem godt gnedich sei gebraucht. Der übrige Text ist niederdeutsch.

Die fast ausschließlich in Prosa abgefassten Grabschriften des Bestands sind gattungstypisch recht homogen und gewähren einen guten Einblick in das langsame Vordringen des Hochdeutschen. Man kann diese Entwicklung an den Verben ‚sterben‘ und ‚entschlafen‘ ablesen: Die bis etwa 1550 übliche niederdeutsche Form starff (Nr. 144 is gestoruen, Nr. 151, 153: starff) wird um 1570 durch das ebenfalls niederdeutsche Äquivalent is entslapen ersetzt (Nr. 183). Im Jahr 1576 kommt zum ersten Mal die Übergangsform entslaffen vor. Je nach der sprachlichen Kontextualisierung wird teilweise die niederdeutsche Form, teilweise die Übergangsform benutzt. So zeigt die Grabplatte für Schwan von Steinberg aus diesem Jahr neben sines alters und gnedig si zum letzten Mal die Form entslapen in niederdeutscher Umgebung. In hochdeutschem Kontext wird die Übergangsform noch bis 1602 (Nr. 282) verwendet, nun in Konkurrenz zu der von jetzt an verwendeten Form entschlaffen, die 1585 zum ersten Mal belegt ist (Nr. 211).

Ähnlich homogen wie die für Adelige angefertigten Grabschriften, allerdings sprachsoziologisch von anderer Herkunft, sind diejenigen Inschriften, in denen sich die Auftraggeber von kirchlichen Ausstattungsstücken mit Namen und Amt nennen. Im Jahr 1569 bezeichnen sich die Kirchenvorsteher Bertelt Hecel vn Iakop Frese mit der niederdeutschen Form Olderlude. Diese Form wird erst 1610 zum ersten Mal durch Alterleute ersetzt, 1614 ist eine Mischform Olderlute belegt (Nr. 328) und 1616 noch einmal die niederdeutsche Form Olderlvde (Nr. 336). Im zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts fällt dann die sprachliche Entscheidung quantitativ klar zugunsten des achtmal belegten hochdeutschen Alterleute aus, nur Siverdt Hagemann nennt sich 1648 in Giesen noch einmal niederdeutsch als Oldermann.

Die Befunde dieser beiden Belegreihen zeigen, dass auch in der dörflich geprägten Region um Hildesheim der Sprachwechsel vom Mittelniederdeutschen zum (Früh)neuhochdeutschen im Wesentlichen in den Jahren zwischen 1575 und 1600 erfolgt ist.95) Die Einzelbelege deuten aber im Vergleich mit anderen Beständen eine leichte zeitliche Verschiebung an. So sind die Grabinschriften nicht schon bald nach 1550 – wie im Landkreis Holzminden96) – hochdeutsch dominiert, sondern erst, mit wenigen Ausnahmen, im vierten Viertel des 16. Jahrhunderts. Einzelne Texte, die nicht so klar vom Formular her bestimmt sind wie die Grabschriften, zeigen auch nach 1600 noch niederdeutsche Formen; so hat Hermann Rauschenplatt 1614 dvsse kron in de Kerke voreret (Nr. 323). Die Kirchenältesten in den Dorfgemeinden haben erst um 1625 durchgängig hochdeutsche Formen in den Inschriften verwendet. Diese längere Bewahrung des Niederdeutschen entspricht der Verwendung des Niederdeutschen in Gesangbüchern und als Unterrichtssprache in den Schulen.97) Nach 1625 sind jedenfalls keine niederdeutschen Texte mehr überliefert, lediglich einzelne Merkmale im Vokalismus und Konsonantismus wie Luchter (Nr. 393 ‚Leuchter‘), Osterdage (Nr. 419) oder auch die Form der Ortsnamen, wie z. B. Lutken Giesen ,Klein Giesen‘ (Nr. 409) lassen noch erkennen, dass die hochdeutsche Schriftsprache auf dem gesprochenen Niederdeutsch aufruht. [Druckseite 38]

Zitationshinweis:

DI 88, Landkreis Hildesheim, Einleitung, 7. Die Sprache der Inschriften (Christine Wulf), in: inschriften.net,  urn:nbn:de:0238-di088g016e008.

  1. Zur Auswertung von Inschriften im Kontext sprachhistorischer Fragestellungen s. Christine Wulf, Wann und warum sind Inschriften niederdeutsch? In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 136 (2013), S. 59–72. »
  2. Anno domini bleibt, da es sprachlich „neutral“ verwendet wird, unberücksichtigt. »
  3. Sofern die Herkunft der inschriftentragenden Objekte nicht eindeutig geklärt werden konnte und sie folglich bei einer Untersuchung der Regionalsprache außer Acht zu lassen sind, steht ein Vermerk am Beginn des Inschriftenartikels. »
  4. Ein ähnliches Phänomen hat Sabine Wehking an Glockeninschriften aus Duderstadt beobachtet, die ebenfalls schon früh hochdeutsche Sprachelemente aufgenommen haben, vgl. DI 66 (Lkr. Göttingen), S. 25»
  5. Vgl. Wulf (wie Anm. 91), S. 62. »
  6. Vgl. DI 83 (Lkr. Holzminden), S. 34»
  7. Vgl. Ingrid Schröder, Niederdeutsche Inschriften als Zeugnisse regionaler Kultur. In: Inschriften als Zeugnisse kulturellen Gedächtnisses, hg. von Nikolaus Henkel. Wiesbaden 2012, S. 102–114, hier S. 106. Zum Schreibsprachenwechsel im norddeutschen Raum s. a. die grundlegenden Arbeiten von Robert Peters, Zur Sprachgeschichte des niederdeutschen Raumes. In: Ders., Mittelniederdeutsche Studien. Gesammelte Schriften 1974 bis 2003, hg. von Robert Langhanke. Bielefeld 2012, S. 443–461. »