Die Inschriften der Stadt Jena bis 1650

5. Die frühneuzeitlichen Inschriften

5. 1. Antikerezeption

Erst mit den vierziger Jahren des 16. Jh. tritt in Jena der neue Typ von Grabinschriften im Zuge von Renaissance und Reformation in Erscheinung. Es fehlen also Inschriften humanistischen Gepräges aus der Blütezeit dieser Geistesströmung in Deutschland selbst. Jena war bis zur Reformation von humanistischem Gedankengut kaum berührt, sind doch Mittelpunkte des Humanismus vor allem die Universitäten und Fürstenhöfe sowie einige wenige große Reichsstädte gewesen; schon in der unmittelbaren Nähe dieser Zentren und in den Landkreisen setzen humanistisch geprägte Inschriften erst bedeutend später ein (im Ldkr. Naumburg z. B. 1546, DI IX, Nr. 429; im badischen Main- und Taubergrund um 1543, DI I, Nr. 214). Ein weiterer Grund für das Fehlen vorreformatorischer Inschriften in Jena liegt, wie bereits gesagt, in der Radikalität der Einführung der Reformation und der stark gnesiolutherischen Ausrichtung der späteren Universität. Von bilderstürmerischen Aktionen ist im Zusammenhang mit dem Wirken Martin Reinhards die Rede, aber noch bis in das letzte Viertel des 16. Jh. hinein werden “Säuberungen” der Kirche erwähnt.

Die nachreforrnatorischen Grabinschriften setzen mit dem Jahre 1548 ein (Nr. 62). Ihre Zahl nimmt nach 1550 ständig zu und erreicht im zweiten Dezennium des 17. Jh. den Höhepunkt mit 28 Inschriften. In den folgenden Jahrzehnten geht sie, zunächst noch allmählich, zurück. Für die Jahre nach 1648 ist wegen der ungünstigen indirekten Überlieferung keine sichere Aussage möglich. Unter Berücksichtigung der Gesamtzahl, des Verhältnisses lateinischer/deutscher und Prosa-/Versinschriften läßt sich feststellen, daß von 1550 bis ca. 1610 vorherrschend lateinische Versinschriften, von ca. 1610 bis 1650 lange, mehrteilige lateinische Prosainschriften sowie eine steigende Zahl deutscher, auch gereimter Texte anzutreffen sind.140)

Für die Kenntnis antiker Inschriften in der Zeit des Späthumanismus kommen sowohl die literarische Überlieferung als auch Autopsie lateinischer epigraphischer Zeugnisse in Frage. Speziell auf dem Gebiet der metrischen Grabinschriften hatte sich schon in der Antike eine eigene literarische Tradition herausgebildet. Neben Grabepigrammen, die tatsächlich für ein Monument bestimmt waren und daher nur durch den Fund der Steine selbst bekannt sind, gab es auch eine rein literarische Produktion. In dieser gewissermaßen “pseudoepigraphischen” Tradition steht das humanistische Grabgedicht.

Die Erweckung des Interesses an den Überresten der Antike durch die italienischen Humanisten im 14./15. Jh. kam auch den Inschriften, zunächst den in Italien selbst befindlichen, vornehmlich lateinischen Prosainschriften zugute. Aber erst die gedruckten Sammlungen des späten 15. und des 16. Jh. konnten auch unter den deutschen Gelehrten dieses Sachgebiet stärker bekannt machen und einzelne Humanisten zur Bearbeitung der antiken Inschriften ihrer Vaterstadt anregen. Es zeigt sich, daß die frühen Inschriftencorpora141) ziemlich vollständig in der Jenaer Universitätsbibliothek vorhanden sind.

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Drei Momente prägten die humanistischen Inschriften in Italien, dem Mutterland der Renaissance: Die lebendige Kenntnis antiker Inschriften, die seit Poggio Bracciolini (1403) mehr oder minder systematisch gesammelt wurden; die Übernahme der römischen Monumentalschrift;142) und die Wiederentdeckung der antiken nichtchristlichen Autoren in den mittelalterlichen Klosterbibliotheken.143) Diese Bedingungen waren entscheidend für die Art der Rezeption der antiken Denkmäler. Die imitatio fand als Stilprinzip Eingang in die Epigraphik. Es ist z. B. bezeichnend, daß unter dem Eindruck der monumentalen Überlieferung des antiken Rom die Grabinschriften der Päpste seit Pius II. (Enea Silvio, 1458–1464) nur in Prosa ausgeführt sind.

In Jena haben die humanistischen Inschriften durch die völlig andersartigen Gegebenheiten eine auch ganz andersartige Gestaltung erfahren. Zunächst treten sie erst bedeutend später auf als in den italienischen, aber auch den süddeutschen Zentren des Humanismus.144) Die räumliche Distanz der deutschen Städte von den Antiken, für die – mit Ausnahme der noch bis auf die Römerzeit zurückgehenden Gründungen in der Nähe des Rheins – die Möglichkeit unmittelbarer Autopsie145) entfiel, schränkte die direkte Antikekenntnis weitgehend ein. Die Rezeption erfolgte daher nur mittelbar. In viel stärkerem Maße ist dementsprechend für den deutschen Renaissancehumanismus eine Aufarbeitung der literarischen als der monumentalen Überlieferung der Antike charakteristisch. Die lateinischen Inschriften Jenas sind vor allem literarische imitatio und wollen auf dem Hintergrund der römischen Dichtung gewürdigt sein. Diesem Antikeverständnis entsprach am besten das Buchepigramm. Bei der Inschrift auf dem Epitaph für Johann Stigel (Nr. 78) ist nachweisbar ein solches Buchepigramm, ein epicedion, zur Inschrift geworden.

Außerhalb der Zentren des Humanismus nahm dieser weitgehend erst in Verbindung mit der Reformation Einfluß, und seine schriftlichen Zeugnisse und Selbstdarstellungen waren dementsprechend stark christlich motiviert.146) Anleihen aus antiker Literatur geschahen nach 1530 in Thüringen stets unter christlichen Vorzeichen und blieben daher wesentlich formale Übernahmen. Über diese Tendenz hinaus war dem deutschen Humanismus immer auch eine antirömische Polemik aus betont nationaler Haltung heraus eigen, die sich in den offenen Glaubensauseinandersetzungen nach 1517 nur noch verschärfte (vgl. Nr. 87).

Zu diesen allgemeinen Bedingungen kam in Jena bestimmend hinzu, daß die Tradierung humanistischen Formen- und Gedankengutes an eine Universität gebunden war, die sehr spät (1558) und im Gefolge der lutherischen Reformation und territorialstaatlicher Politik gegründet worden war.

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5. 2. “Akademische” Epigraphik

Die Verbreitung der frühneuzeitlichen Inschriften wird maßgeblich durch die Herausbildung einer stabilen bürgerlichen Intelligenz- und Beamtenschicht bestimmt. Für die protestantischen Länder hatte hierbei die Melanchthonsche Bildungskonzeption, die von der Vereinbarkeit der Antike und des Christentums, von pietas und eruditio, ausging, eine weittragende Bedeutung. Inschriftliche Zeugnisse erhalten mehr denn je öffentlichen Charakter durch ihre Verbindung mit der evangelischen Kirche und dem Gottesdienst. Das Latein spielt seine Rolle als Gelehrten- und Repräsentationssprache bis in das 18. Jh. hinein. All diese Faktoren treffen in den frühneuzeitlichen Inschriften der Universitätsstadt Jena zusammen. Sie werden weitgehend von den Professoren und Studenten der hier 1548 gegründeten Salana bestimmt.

Von den 147 Grabinschriften zwischen 1550/1650147) entfallen nicht weniger als 107 (= 73 %) auf die Professoren der Salana und ihre Angehörigen, auf Mitarbeiter (Pedell, Buchdrucker, Protonotar, Director chimicus) und auf Studenten (60); dem stehen 40 für Bürger gegenüber, die in keiner Beziehung zur Universität standen. Unter den Professoren (einschließlich Familien) gehören 13 der Theologischen, 39 der Juristischen, 8 der Medizinischen und 3 der Philosophischen Fakultät an. Demgegenüber verteilte sich die Zahl der Ordinarien, die für die ersten beiden Jahrhunderte auf 18 festgeschrieben war, wie folgt auf die Fakultäten: 3 Theologen, 3 Medziner, 5 Juristen und 7 an der Artistenfakultät. Die geringe Zahl der Philosophengrabmale im Gegensatz zu dem Verhältnis der Professuren findet darin ihre Erklärung, daß jede akademische Laufbahn in der Artistenfakultät begann und nur ein frühzeitiger Tod den Aufstieg in die höheren Fakultäten dort unterbrach.148) Von 1580 bis 1680 hat nur etwa jeder fünfte der in Jena verstorbenen Ordinarii kein Grabmal für sich errichten lassen bzw. für Angehörige in Auftrag gegeben. Dies gilt gerade auch für die Zeit des 30jährigen Krieges. Von 1558 bis 1681 gab es an der Theologischen Fakultät 30 ordentliche Professoren, von denen – wegen der heftigen theologischen Auseinandersetzungen, die die Frühzeit der Salana begleiteten – nur 14 in Jena verstorben sind. Von diesen besaßen acht ein eigenes Grabmal, drei ließen eines für ihre Angehörigen aufstellen, und nur drei besaßen keines.149) Ähnlich in der Medizinischen Fakultät: von den 17 professores publici zwischen 1558 und 1672 sind zwei nicht in Jena verstorben; von den verbleibenden 15 bekamen neun ein eigenes Grabmal gesetzt.150)

Diese bemerkenswerte Dichte der Grabmale belegt deutlich, daß es den Ordinarii der höheren Fakultäten finanziell immer möglich war, sich ein solches errichten zu lassen. Die Gehälter der Professoren lagen am Ende des 16. Jh. zwischen 350/300 Gulden jährlich für die Theologen, 230/150 Gulden für die Mediziner, bei 200 für die Juristen und zwischen 145/100 Gulden für die Philosophen.151) Hinzu kamen Nebeneinnahmen durch Promotions- und Depositionsgebühren, Aufnahme von Tischgästen, Tätigkeit in der Regierung, an Hofgericht und Schöppenstuhl usw.

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Zum Vergleich stehen nur wenige Informationen über die Kosten der Grabdenkmäler zur Verfügung. Für die Bronzeteile der Grabplatte Martin Luthers (Nr. 61), 1548 in Erfurt gegossen, bekam der Gießer 70 Gulden.152) Zwei Joachimstaler wurden der Witwe des Janus Cornarius für die Anfertigung eines gemalten Epitaphs dazugegeben.153) Für den Bildnisgrabstein des Stadthauptmannes Friedrich von Kospoth (Nr. 233) sind mehr als 300 Gulden ausgegeben worden.154) Ebensoviel hat das Messingepitaph des Grafen Christoph von Solms (Nr. 132) gekostet.

Am Ende des 16. Jh. kommt es zu einer bemerkenswerten Angleichung der Grabinschriften Jenaer Bürger an das von den cives Academici vorgegebene Niveau. Die Beziehungen zwischen der Stadt und der jungen Salana waren zunächst sehr intensiv. Die Bürgermeister und “etliche Bürger” ließen sich “in der Professorum matriculam” einschreiben, viele Jenenser besuchten die akademischen Lehrveranstaltungen. Hinzu kamen die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Lehrkörper und städtischer Oberschicht.155) So sind die Epitaphe des Bürgers Leonhart Otto und der Bürgerrneister Christoph und Wolfgang Druckscherf (Nr. 95 und 97) schöne Beispiele neulateinischer Sepulchralpoesie, letzteres von Prof. poes. Paul Didymus verfaßt.

Erst im 17. Jh. beginnen sich akademische und stadtbürgerliche Grabinschriften voneinander abzuheben. Das Professorenepitaph hält an der Wissenschaftssprache Latein und an einem religiös-humanistischen Bildungsideal fest. Diese Tradition ist wesentlich den Rezeptionsbedingungen der Jenaer Professoreninschriften geschuldet: In den Jahren nach 1548 hielten Bürger und cives academici gemeinsam ihre Gottesdienste in der Stadtkirche St. Michaelis ab, die der jungen Universität gleichzeitig als Beisetzungsstätte und als Ort ihrer Repräsentation diente. Erst die Wiedereinweihung der Kollegienkirche im Jahre 1595 (vgl. Nr. 123) als templum academicum trennte Stadt- und Universitätsgemeinde. Es ergab sich nun eine tatsächliche Absonderung der Gedächtnismale der Bürger von denen der Professoren und Studenten, die in der Kollegienkirche unter sich waren. Die Verwendung des Lateins war in diesem Kreis selbstverständlich.156) Man wußte antike Metren, Wortspielereien, theologische Belesenheit und antiquarische Gelehrsamkeit ebenso zu schätzen wie die klaren Formen antiker Kapitalis, symbolbeladenen plastischen Schmuck, Sinnbilder, Emblemata, Wappen und Darstellungen des wissenschaftlichen Lebens der Universität.157) So boten die Epitaphe in Chor und Schiff der Kollegienkirche ein Bild selbstgewählter Exklusivität des akademischen Standes, dem Züge von Selbstgefälligkeit und Weltfremdheit nicht fehlten. Ausgeprägtes Standesdenken machte sich auch in der Herausbildung von Professorendynastien und im Nepotismus bei der Besetzung der Professuren deutlich.

Unter die Jenaer Inschriften bis 1650 zählen 33 Studentengrabmale, davon 17 für adlige158) und 15 für bürgerliche.159) Die Zahl der Grabmale adliger Studenten ist im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamtstudentenschaft der Salana viel zu hoch. Von den nichtadligen Studenten160) wird nur eine bestimmte soziale Schicht erfaßt. 1555 waren 47 Stipendien gestiftet worden; jeder Stipendiat [Druckseite XLIV] erhielt jährlich 30 Gulden, Adlige 35 Gulden. In den ersten 15 Jahren kamen neben 19 Adligen 36 Pfarrers-, 96 Bürgers- und 23 Bauemkinder in den Genuß dieser Stipendien. Wenn diesen Zahlen die Struktur der Jenaer Studentenschaft zu entsprechen scheint,161) so gilt dies für die epigraphischen Denkmäler nicht in gleichem Maße. Hauptsächlich Söhne der Intelligenz und der Verwaltungsbeamtenschaft sind in diesen faßbar.162) Interessant ist die Tatsache, daß Studenten aus Thüringen weitgehend fehlen. Die Salana war als emestinische Landesuniversität gegründet worden, aber unter den Studenten der Thüringer Kleinstaaten befand sich stets eine relativ große Zahl von Bauemsöhnen und Angehörigen des Klein- und Mittelbürgertums, denen ein solcher Grabluxus finanziell nicht möglich war.

Die Grabmale, die nicht für cives academici bestimmt waren, entfallen auf vier Gruppen: Adel, Beamte der herzoglichen Regierung, Jenaer Geistlichkeit und Bürger.

Der in der Umgebung Jenas auf den Rittergütern ansässige Landadel hatte in dem in Frage stehenden Zeitraum seine Grablege ausnahmslos in den Kirchen der zu seinen Landgütem gehörigen Dörfer, so daß in Jena nur unmittelbar mit der Stadt in Verbindung stehende Adlige ihre Ruhestätte fanden, z. B. Friedrich von Kospoth als Stadthauptmann (Nr. 232 und 233). Der letzte Schenk von Tautenburg ist, in Frauenprießnitz/Ldkr. Jena begraben, in Jena als ehemaliger Rector magnificentissimus durch ein Kenotaph geehrt worden (Nr. 258). In loser Beziehung zur Universität stand auch Anna von Eberstein (Nr. 257).163) Nach 1650 sind vor allem die Särge der Herzöge zu Sachsen-Jena zu nennen (1668/90).

Von der Jenaer Geistlichkeit waren die Pfarrer und Superintendenten – bis auf Anton Musa (Nr. 76) – stets auch Universitätsprofessoren gewesen. Die niedrigeren Ränge (Diakon, Archidiakon) sind inschriftlich mehrfach vertreten (Nr. 106, 238, 240, 256).

Für das 16. Jh. kann sicher belegt werden, daß die Grabmale der Bürger fast ausnahmslos den reichsten Einwohnern der Stadt gehörten: Philipp von Herden (Nr. 138) steht im Jahre 1585 nach dem Wert des Grundbesitzes (ohne Wohnhaus) mit 4842 Alten Schock an erster Stelle und besitzt 110 Acker. Unter den zwanzig reichsten Jenaer Bürgern des Jahres 1572 besaßen ein Grabmal: Jakob Rudolph (Nr. 118), mit 2683 Schock an vierter; Christoph Druckscherf (Nr. 95) an siebenter und Johann Wolfram (seine Frau: Nr. 105) an zweiter Stelle. Für das Jahr 1557 steht die Frau des Wolfgang Druckscherf (Nr. 97) dem Wert ihres Grundbesitzes entsprechend an zweiter Stelle. Der Amtschösser Günther Heerwagen (Nr. 67) kommt im Jahre 1540 an zwölfter, 1547 an achter Stelle unter den Jenaer Bürgern. 1554 nimmt der Reformationskanzler Gregor Brück (Nr. 70) mit 4738 Gulden die zweite Stelle ein. Christian Fischer, dessen Frau 1573 bestattet worden ist (Nr. 89), steht im Jahre 1585 mit 1438 Alten Schock an 15. Stelle.

Bis zum Jahre 1600 gehört außer der fehlerhaft überlieferten Inschrift für Jakob Zyrold (Nr. 62)164) nur der Stein des Andreas Schrot (Nr. 125) einem nicht unter den zwanzig reichsten aufgeführten Jenaer Bürgern. Schrots Grabmal fällt als Kreuzgrabstein (das Kreuz als Kruzifix gestaltet) überhaupt im Rahmen der Jenaer Grabmale auf; in Schrift (Worttrennung ohne Beachtung der Silben) und in der Anlage als Cippus stellt er sich vielmehr zu den nachmittelalterlichen Grab-Kreuzsteinen im hessisch-thüringischen Raum.

Bemerkenswert ist die hohe Zahl der Bürgermeister mit Grabmal in Jena (Nr. 82, 95, 97, 117 und 118, 138, 200; für Angehörige: Nr. 89, 105). Für die ersten fünf Jahrzehnte des 17. Jh. ist die Überlieferung unscharf. Sieben Grabinschriften sind bekannt, davon nur vier bei Adrian Beier;165) [Druckseite XLV] die anderen drei sind Zufallsfunde jüngerer und jüngster Zeit.166) Dieses Verhältnis läßt vermuten, daß der Stadtchronist den zeitgenössischen stadtbürgerlichen Inschriften weniger Aufmerksamkeit geschenkt hat als den akademischen. Diese Texte verwenden, sieht man von der Inschrift des Buchführers Leonhardt Wipprecht (Nr. 178) ab, der wohl den cives academici zuzurechnen ist, ausschließlich die deutsche Sprache. Mitunter begegnen Reime (Nr. 237, 253). Aufwendige Architekturepitaphe für Jenaer Bürger stammen erst aus dem letzten Jahrzehnt des 17. Jh.

5. 3. Sprache, Formular, Stil

Die epigraphischen Zeugnisse Jenas werden seit 1548 im entscheidenden Maß von der Universität bestimmt. Hieraus erklärt sich zunächst die große Zahl lateinischer Inschriften, denen die folgenden Bemerkungen gelten sollen: Von 265 sind es 171 (= 64 %), die sich auf die einzelnen Zeitabschnitte verteilen: vorreformatorische – 34 von 59 (= 58 %); bis 1600 – 52 von 85 (= 61 %); bis 1650 – 85 von 121 (= 71 %). Gerade in der ersten Hälfte des 17. Jh. ist in den meisten deutschsprachigen Gebieten aber ein genereller Rückgang der Latinität in den Inschriften zu verzeichnen.167)

Sepulchralinschriften

Unter den lateinischen Sepulchralinschriften Jenas nach 1550 fällt die große Zahl der Versinschriften auf: Von 177 sind zehn rein metrisch und 33 aus Prosa und Versen gemischt. Hinzu kommen noch fünf Reiminschriften unter insgesamt 21 deutschsprachigen. In Versbau und Metrum reflektieren diese metrischen Inschriften die ganze Breite antiker Lyrik. Am häufigsten tritt das elegische Distichon auf (meist nur ein oder zwei Distichen, aber auch mehr, bis zu fünfzehn, Nr. 78 und 108, und sechzehn, Nr. 79 und 95); daneben Hexameter (Nr. 63, 97, 178) und einmal phaläkeische Elfsilbler (Nr. 181). Von besonderer Raffinesse sind Chronogramme (Nr. 148) und Chronodistichen (Nr. 127). Ihrem Charakter nach ist diese Poesie Gelehrtendichtung in engster Beziehung zu Religion und protestantischer Kirche. Das antike Menschenbild in humanistischer Ausdeutung wird weitgehend auf das Ideal eines homo religiosus reduziert.

In Jena prägen zwei Momente die Entwicklung und Überlieferung der Versinschriften: Die Dominanz der Universität und ihre Absonderung von der Stadt in kirchlicher Hinsicht durch ein eigenes templum academicum (seit 1595) sowie eine primär von akademischem Interesse geprägte indirekte Überlieferung. Eine Ausstrahlung auf die Epigraphik des umliegenden Territoriums läßt sich zwar an einem Beispiel nachweisen,168) ist aber erwartungsgemäß gering. Über den dichterischen Wert dieser Sepulchralpoesie wird man schwerlich ein gerechtes Urteil abgeben können. Es war Gebrauchslyrik aus einer guten, freilich auf die antiken Klassiker hin konservierten Kenntnis des Lateins und aus dem Bewußtsein dieser Tradition heraus. Von “mittelmäßigem Schulmeistertum” wird man allerdings erst zu dem Zeitpunkt sprechen können, als das akademische Latein seine Funktion als internationale Gelehrtensprache verloren und sich zur Sprachbarriere gewandelt hatte, weil es den wachsenden Erkenntnisgewinn nicht mehr adäquat verbal wiedergeben konnte (Ende 17./Anfang 18. Jh.).169) Etwas artifizielles haftet dieser Lyrik selbst bei den besten humanistischen Dichtern an.

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Die Prosainschriften übemehmen aus der römischen Antike den Brauch, eine Weiheformel, meist durch litterae singulares abgekürzt, voranzustellen. Dabei werden die seit augusteischer Zeit üblichen Formeln D(is) M(anibus) – erweitert zu D. M. S(acrum) – und I(ovi) O(ptimo) M(aximo) S(acrum) übernommen. Mit C(hristo) S(acrum) wird die antike Formel deutlich christlich umgedeutet (Nr. 206, 225). Antik sind auch Weiheformeln an das Gedenken der Nachwelt, memoriae oder memoriae sacrum (Nr. 199, 203). Einer philologisch-theologischen Spielerei170) entspringt Beiers Iova iuva (Nr. 240), wie überhaupt Weihungen an Jehova (Jehovae uni et trino, Nr. 147; Jehovae luci et saluti mortalium, Nr. 181) oder die Heilige Dreifaltigkeit (Triadi sacrosanctae, Nr. 192) gelehrt wirken wollen. Ganz vereinzelt steht die hebräische Weihung auf dem Grab des Prof theol. Peter Piscator (Nr. 176) da. Die Weiheformel kann auch zum bloßen nomen sacrum verkürzt erscheinen (Nr. 226: IHS = Jesus).

Die volle Namensforrn des römischen Bürgers bestand seit dem 1. Jh. v. Chr. aus folgenden Bestandteilen: Praenomen (in beschränkter Zahl) – nomen gentile – Filiation – Angabe der Tribus – Cognomen, z. B. M(arcus) Herennius M(arci) f(ilius) Mae(cia tribu) Rufus (CIL I² 827). In den frühneuzeitlichen Inschriften wird dieses Formular auf eine eigenständige Weise wiederbelebt. Die Eigennamen werden, um sie gut flektieren zu können, latinisiert. Im einfachsten Fall geschieht dies durch Hinzufügen einer Endung (z. B. Hilligerus, Legatus), aber auch die “Übersetzung” der Namen ins Lateinische (z. B. Major = Große; Piscator = Fischer) oder Gräko-Lateinische (Chytraeus = Kochtopf; griech.: χυτρεύς, Töpfer) findet sich in akademischen Kreisen häufig.

Die Filiation verstand sich bei minderjährig oder unverheiratet und jung Verstorbenen (vgl. Nr. 86). Häufiger nutzte man diese Gelegenheit aber auch, zu eigenem Ruhm auf berühmte Vorfahren zu verweisen (oder auf die der Gattin bzw. Mutter, vgl. Nr. 240). Relativ selten ist dabei die unmittelbar auf den Namen folgende Filiation vermittels des Vornamens des Vaters, wie in der Antike die Regel (z. B. Nr. 213); vielmehr schob man dazwischen honoris causa dessen Ämter und Titel (z. B. Nr. 243). Beliebter noch sind Konstruktionen mit patre ..., matre ..., wo mit entsprechenden Appositionen oder in ganzen Relativsätzen umfangreiche Angaben zu den Vorfahren mitgeteilt werden können (Nr. 189, 192). Auch die prunkvolle Nennung mehrerer Ahnen ist bereits aus der Antike zu belegen; ähnlich findet der erste Rektor der Salana, Johann Schröter, noch auf dem Grab seines dreijährig verstorbenen Urenkels Erwähnung (Nr. 211).171)

Die Angabe der Tribus, d. h. die Zugehörigkeit zu einem Stimmbezirk, wird durch die Nennung des Geburtsortes und der (Geburts-)Nation ersetzt; die grammatische Form (die Namen der Tribus sind Adjektive, die als Ablativus qualitatis stehen und wozu tribu zu ergänzen ist) wird übernommen: der Geburtsort erscheint im Ablativ, die Angabe der Nation als Adjektiv, z. B. QuedlinburgôSaxo (Nr. 244 u. ö.). Diese origo-Angabe steht immer unmittelbar nach dem Eigennamen.

Für die Aufzählung der Titel und Ämter waren im römischen Altertum Ehreninschriften bestimmt. Daneben war aber bereits in früher Zeit die ursprünglich auf die Namen des Verstorbenen beschränkte Grabinschrift zu einer Art Ehreninschrift erweitert worden. Durch die allmähliche Aufnahme von Ämtern und Würden der Verstorbenen, seiner Verwandtschaftsbeziehungen, der Art seines Todes usw. vermischte sich der Unterschied zwischen diesen beiden Inschriftengattungen, besonders bei aufwendig gestalteten öffentlichen Grabmalen. Auch die frühneuzeitlichen Inschriften kennen im allgemeinen diesen Unterschied nicht. Die Erwähnung der Ämter geschieht nicht selten in Form einer ausführlichen Lebensbeschreibung, meist in Form eines einzigen, langen, verschachtelten und erweiterten Satzes, z. B. Nr. 232. Dabei wird auch mitgeteilt, wie der Verstorbene seinen Amtspflichten nachgekommen ist: summa cum laude (Nr. 163) u. ä.

Deutlich sind die Titel adliger Personen abgehoben von den übrigen. Gleich auf den Namen folgt [Druckseite XLVII] die Adelsbezeichnung (liber baro, Nr. 258; comes, Nr. 129, 132 bzw. eques, und Ländername, Nr. 166, 171), danach die Besitzgüter. Bei den Nichtadligen handelt es sich in der Mehrzahl um Universitätsprofessoren,172) daneben um einige wenige Jenaer Bürger, die durch Nennung ihrer Funktionen ausgezeichnet werden. Dabei entsprechen die munizipalen Ämter der Bezeichnung nach den altrömischen: consul (Nr. 95, 97, 117, 118, 185, 196) = Bürgermeister; senatus = Stadtrat (entsprechend senatus ecclesiasticus = Kirchenrat, Nr. 163); senator (Nr. 82, 95, 97; vgl. Nr. 184: senator oppidanus) = Ratsherr; quaestor (Nr. 67, 116, 229, 245) = Amtschösser; tribunus = Zunftmeister. Allerdings fehlt eine feste Folge dieser Ämter, weil der städtische cursus honorum nicht scharf fixiert war und – zumindest in Jena – nur wenige Stufen hatte. Außerdem wechselten die meisten Beamten turnusmäßig, so daß ein relativ großer Personenkreis zu Ämtern gelangen konnte und damit viel mehr die Angabe der Iteration und der Dauer Wichtigkeit erlangte (vgl. Nr. 97). Zu einer Aufzählung der Ämter, wie sie römischen Ehreninschriften eigen ist, ließ sich nur die Laufbahn der Jenaer Universitätsprofessoren stilisieren, die vergleichsweise fest vorgezeichnet war. Unter den entsprechenden Inschriften gibt es Beispiele für eine chronologische Reihung. Häufiger jedoch sind die Funktionen in absteigender Wertigkeit gegeben, aber unter Voranstellung der Fakultät bzw. des Doktortitels: Mediziner (medicinae doctor, Nr. 119; medicus, Nr. 120), Juristen (iuris utriusque doctor, Nr. 212 u. ö.; iurisconsultus, Nr. 150 u. ö.) und Theologen (sacrosanctae theologiae doctor, Nr. 244). Die Reihenfolge der Titel bei den Juristen war in der Regel die folgende:173) iuris utriusque doctor bzw. iurisconsultus – (comes Palatinus Caesareus) – consiliariusprofessor iuris bzw. antecessorcollegii iuridici ordinariusassessor scabinatus (et dicasterii)(senior academiae). Es ist aber auch eine charakteristische Abweichung festzuhalten: Der Jurist Theodoricus (Nr. 252) fügte vor seinen akademischen Grad den Titel eines Erbgutbesitzers (haereditarius) ein.174) Der feudale Besitzestitel rangierte vor allen akademischen Würden. Unter den Zeitangaben in Sepulchralinschriften ist die Angabe der Lebensdauer den mittelalterlichen Steinen weitgehend fremd. Sie wird nun nach antikem Brauch entweder mit aetate oder vixit wieder eingeführt. Die Zeiträume sind genau bis auf Monate (Nr. 151), Wochen (Nr. 132 für die Dauer der Krankheit), Tage (Nr. 163, 176, 264) und Stunden (Nr. 147) ausgeschrieben.175) Ähnliches gilt für die Dauer gemeinsam gelebter Ehe. In der Ausgestaltung dieses Teiles der Inschrift zeigt sich die vom Mittelalter so ganz verschiedene Neubewertung des irdischen Lebens. Auch das Todesdatum wird in einer Inschrift bis zur Angabe der Sterbestunde genau fixiert (Nr. 227). Als Jahresbezeichnung begegnet weiterhin am häufigsten das einfache anno domini, doch finden sich daneben gesuchtere Wendungen, die auf Christus und seine durch die Reformation neu gewertete Heilstat Bezug nehmen (z. B. Nr. 86, 109, 168, 234).

Gern wird in der humanistischen Grabinschrift der antike Brauch der Akklamation variiert, d. h. die Inschrift als direkte Rede oder als Dialog gestaltet. Texte, die sich an den fiktiven “Wanderer” wenden, sind in Jena relativ häufig (Nr. 114, 173, 189, 196; unter den Versinschriften Nr. 78). Der Aufforderung zum Verweilen schließen sich Angaben zum Toten und allgemeine Reflexionen über den Tod u. ä. Themen an. Am Schluß der Inschrift stehen dann die in der Antike seit hellenistischer Zeit gepflegten Abschiedsformeln an den Toten.

Die Epitheta werden nach der Stellung der Verstorbenen in der Gesellschaft differenziert. Den [Druckseite XLVIII] Adel kennzeichnet nobilis(simus), wobei mitunter (durch genere, Nr. 146 und 156 bzw. generis prosapia, Nr. 171) ausdrücklich der Geburtsadel hervorgehoben wird. Es kann durch generosus ergänzt (Nr. 113, 132) oder ersetzt (Nr. 233) werden. Als deutsche Entsprechungen finden sich die Attribute wohlgeboren (Nr. 129), hochwohlgeboren (Nr. 257), wohledelgeboren (Nr. 260) und die Entsprechungen für nobilis (edel, Nr. 74). Bei einem Adligen aus Oberösterreich (Johann Balthasar Geymann, Nr. 112) ist das im Mittelalter dominierende “gestreng” bewahrt, während es sich auf einheimischen Monumenten kaum noch findet (nur Nr. 260). Von den nobilissimi abgehoben sind die illustrissimi. Dieses Attribut wird nur Angehörigen des Hochadels gegeben, wie z. B. dem Grafen von Solms (Nr. 132) oder dem letzten Schenken von Tautenburg (Nr. 258), jeweils durch generosus ergänzt. Auf Angehörige des Bürgertums wurde das Epitheton nobilis erst mit erfolgter Adelserhebung übertragen, die zumeist über das kleine Palatinat erfolgte (comes Palatinus Caesareus). Johann (von) Schröter, der erste Rektor der Salana, bekam für seine Tätigkeit als Leibarzt des Kaisers den Adelsbrief und 1579 den Pfalzgrafentitel; er wird demnach als vir nobilissimus bezeichnet (Nr. 120). 1647 wurde der Jurist Christoph Philipp Richter comes Palatinus Caesareus; auf dem Grabmal seiner 1637 verstorbenen Tochter (Nr. 246) ist er ohne schmückendes Beiwort genannt, nach seiner Erhebung steht sowohl seinem einzigen Sohn (Nr. 261, gestorben 1648) als auch seiner Frau (gestorben 1668) das Attribut nobilis zu.

Auch auf den Grabmalen der Nichtadligen ist eine Differenzierung der Epitheta zu beobachten. Das Beiwort reverendus bleibt den titulierten Geistlichen vorbehalten. Es steht in Luthers Grabinschrift (Nr. 61), und nach ihm wird es Diakonen, Pastoren und Superintendenten beigelegt (Nr. 106, 175, 238, 243). Den Theologen der Universität aber gehört es nur, wenn sie gleichzeitig ein pastorales Amt innehatten.

Bei den cives academici wird nach der erreichten Stufe der akademischen Laufbahn differenziert. Studenten können – neben allgemein wertenden Attributen wie pius und vor allem honestus, dt.: ehrenfest – als literati (Nr. 223) und doctissimi, dt.: wohlgelahrt (Nr. 173, 186, 190, 193) bezeichnet werden. Die Professoren dagegen beanspruchen die Epitheta hochgelehrt (Nr. 153), lat.: consultissimus (Nr. 151, 207, 227) und, als stehendes Beiwort für den Rektor, magnificus (Nr. 109, 163). Ergänzend treten Attribute hinzu, die auf den wissenschaftlichen Ruhm (clarissimus, Nr. 109, 230; excellentissimus, Nr. 230; celeberrimus, Nr. 163) Bezug nehmen. Auch amplissimus begegnet in diesem Zusammenhang, doch umschreibt es sonst weniger die wissenschaftliche Qualifikation als vielmehr die ihr verdankte Beamtenstellung z. B. eines Amtschössers (Nr. 245: amplissimus et clarissimus) oder Protonotars (Nr. 199: amplissimus et praestantissimus). Angehörige der mittleren Ebene der bürgerlichen Intelligenz werden in den Epitheta nicht den Professoren, sondern den Studenten gleichgestellt: Der director chimicus muß sich mit literatus begnügen (Nr. 241).

Ein wenig differenziertes Bild bieten die Grabinschriften der Jenaer Bürger, deren Lob mit allgemeinen Beiworten wie ehrbar (honestus) und wohlgeachtet (-erfahren, -weise) erschöpft ist (Nr. 83, 100, 138, 218). Die den Frauen zugewiesenen Epitheta pia und honesta (dt.: ehrbar und tugendsam) sind stereotyp, wobei die Stellung des Gatten keinen Einfluß auf ihre Wahl hat. Die Frau des Theologen Johann Major (Nr. 168) ist eine honesta piaque femina, die des Bürgermeisters Christian Fischer (Nr. 89) ebenso. Daneben finden sich für alle Schichten auch Attribute, die eine subjektive Wertschätzung entweder des Gatten für die Gattin (z. B. charissima uxor, Nr. 242, 250) bzw. der Eltern für das Kind (besonders desideratissimus, dilectissimus usw.) enthalten und allgemein menschliche Gefühle im Umfeld von Tod und Sterben artikulieren.

Eine “akademische Diktion” ist allenthalben nachweisbar und geht bis in die traditionellen epigraphischen Formeln hinein. Statt “sterben” wird von dem Übergang in die himmlische Universität gesprochen (Nr. 113, 129, 131, 146, 147, 196, 207), und Prof. iur. Mühlpfort starb auf Geheiß des summus iudex (Nr. 227). Auch die Fachbezeichnung der zum Tode führenden Krankheit gehört hierher.

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Kennzeichnend für die Inschriften der Salana ist schließlich auch eine gewisse theologische Befrachtung besonders der Versinschriften, die sich nicht selten in gelehrten Wortspielereien äußert (z. B. Nr. 107, 144, 146, 170, 177, 181, 196, 220). Während der Atem der Reformation mit seiner Neubewertung des Diesseits und seinen kraftvollen Persönlichkeiten die Grabinschriften der Professoren der ersten Generation noch durchzieht (z. B. Nr. 75, 76, 77, 78) und das Kontinuum von irdischem und himmlischem Leben betont wird, legen die späteren Epigramme – wohl auch unter dem Eindruck der Drangsale der Zeit und geschuldet einer immer feiner ausgearbeiteten Theologie des Luthertums – viel mehr Wert auf den Tod und seine Überwindung, auf das Vergängliche des Irdischen, auf den Bruch zwischen Nichtigkeit und Ewigkeit (Nr. 148, 198 u. ö.). Dabei fehlt es diesen Inschriften durchaus nicht an aktuellem Engagement, besonders wenn die eigenen Positionen in den theologischen Auseinandersetzungen der Zeit umrissen werden. Vorbild ist die Grabplatte des Reformators selbst (Nr. 61), der constanter... testificans, veram ... doctrinam esse, quam docuit, starb. Auch sein Mitstreiter Schnepf betont die veram doctrinam, de deo in scriptis prophetarum et apostolorum compraehensam, der seine Bemühungen galten (Nr. 71). Die wahre Lehre bzw. Religion wird noch öfters apostrophiert (z. B. Nr. 108, 232); aus ihr entspringt die vera agnitio et confessio dei (Nr. 86, 173, 190). Auf dem Grabstein des Juristen Nikolaus Reusner (Nr. 147) heißt es, er sei ein religionis sincerioris et musarum cultor devotissimus gewesen, und der Theologe Peter Piscator war nach seiner Grabinschrift (Nr. 176) der orthodoxae ac Lutheranae religionis contra pontificios et sacramentarios defensor acerrimus. Das Stichwort orthodoxia erscheint noch auf den Grabsteinen der Theologen Christian Chemnitius von 1666 und Johann Musaeus von 1681. Der reformatorische Neuansatz wird in den Inschriften aus der Gründungszeit der Salana ebenso betont (z. B. Nr. 76) wie der Unterschied zwischen Glaube und traditio humana (Nr. 77). Einen besonders scharfen Ton schlägt Hieronymus Osius in seinen Versen an, die 1571 unter die Lutherplatte gesetzt wurden (Nr. 87). Die Jenaer Universität habe als strenge Wächterin der wahren Lehre (strenua custos sanctae doctrinae) die Aufgabe, die Unterdrückung der Wahrheit durch falsche Lehren nicht zuzulassen – wobei der impia Roma genauso der unversöhnlichste Kampf angesagt wird wie der unzähligen Saat von Irrlehren (numerosa seges errorum). Das liegt genau auf derselben Linie wie der berühmte Hexameter aus der Feder Luthers: Pestis eram vivens, moriens ero mors tua, papa, der 1549 auf einem Gemälde des Reformators (Nr. 63) und 1571 auf dem Rahmen um seine Grabplatte (Nr. 87) angebracht wurde.

Hausinschriften

Erst in der zweiten Hälfte des 16. Jh. setzt in Jena die Reihe der Inschriften an privaten Wohnbauten ein, zu einer Zeit, da das städtische und kirchliche öffentliche Baugeschehen weitgehend zum Erliegen gekommen war. Darüber kann auch die prächtige Wappentafel mit der Gründungsinschrift der Universität (Nr. 69 von 1557) nicht hinwegtäuschen, zeigt doch gerade ihre Komposition – die Wappentafel wird von einer Platte mit dem Kopf eines Abtes nach oben abgeschlossen, die sicher nicht für die Stiftungsurkunde einer protestantischen Universität gedacht war –, mit wie sparsamen Mitteln gebaut wurde.

Im 16. Jh. weisen allein die Inschriften an privaten Wohnhäusern der Bürger Kreativität und Vielfalt auf. Ihre Form wurde vom Ort ihrer Anbringung bestimmt. Für große Werksteine boten die Wandflächen der Fachwerkhäuser keinen Platz. Markante Punkte der Fassade wie Türbögen (Nr. 80, 93, 104, 128, 157) und Fenstergewände (Nr. 115), die meist aus Stein gearbeitet waren, fanden durch knappe Inschriften Hervorhebung. In Holz geschnittene Inschriften z. B. an Deckenbalken sind in Jena nicht überliefert. Umfangreiche Texte wurden auf den Putz gemalt, waren damit jedoch unbeständig; Jena besitzt davon kein einziges Zeugnis mehr.176)

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Die einfachste Hausinschrift stellt die Jahreszahl dar, die das Erbauungsjahr des Gebäudes angibt, zuweilen mit anno eingeleitet (Nr. 80, 104, 115, 136, 157). Die Jahreszahl war anonym und vermittelte gleichzeitig historische Dimension. Die Nennung des Bauherren unterblieb fast immer,177) selten stand das den Zeitgenossen und den unmittelbaren Erben erschließbare Monogramm (Nr. 59, 93). Auch ein Hinweis auf den Beruf durch die Darstellung von Handwerkszeichen fehlt weitgehend (vgl. Nr. 65). Beliebt war dagegen die Verbindung der Jahreszahl mit einer repräsentativen Wappendarstellung (Nr. 96, 202). Von Prof. med. Werner Rolfinck ist bekannt, daß er in allen seinen Häusern sein Wappen an der Toreinfahrt anbringen ließ (vgl. Nr. 254).

Bis zur Einführung von Straßennamen und Hausnummern wurde ein Gebäude nur durch seinen Hausnamen178) eindeutig bezeichnet. Der Ursprung solcher Namen ließ sich schon im 16. Jh. oft nicht mehr genau ermitteln. Eine bildliche Darstellung in Form eines Hauszeichens (Nr. 94, 152) diente zur Illustration des Namens. Um des bequemen Reimes willen stand dieser Name oft in der Formel: “Dies Haus stehet in Gottes Hand, (Name) ist es genannt”, wofür sich auch in Jena Belege finden (Nr. 121, 152, 167).

Damit ist das weite Feld christlich orientierter Hausinschriften berührt. Bibelzitate sowie Verse und Reime waren ihres Umfanges wegen meist aufgemalt und sind in Jena nur noch aus der Literatur bekannt. Aus der Bibel wählte man zum Zweck der Hausinschriften Verse allgemeinen, mahnenden (z. B. Ps 36,37 in Nr. 217) oder tröstenden Charakters, die mit dem Begriff des Hauses operieren (Hbr 13,14), sowie Lobpreisungen Gottes. Der Gedanke an die Vergänglichkeit menschlichen Lebens (das Haus als irdische, zeitlich begrenzte Wohnung) begegnet oft: als Bibelzitat, in einfachen deutschen Reimen, in lateinischen Distichen und rhetorischen Antithesen (in mundo – in coelo, Nr. 249). Daneben gibt es auch spezifisch protestantische Sentenzen, die im ehemaligen Kursachsen als dem Kernland der Reformation besonders verbreitet waren.179)

Von akademischem Geist erfüllt sind einige wenige späthumanistische Inschriften, die sich klassischer Metrik bedienen und mehr allgemein philosophische Sentenzen sein wollen. Sie entspringen zwar sehr wohl einer protestantischen Grundhaltung, drücken dies aber nicht explizit aus (Nr. 81). Direkte Zitate aus antiken Schriftstellern sind dagegen unerwartet selten: Nur ein Distichon aus der Ars amatoria des Ovid stand, aus dem Zusammenhang gerissen, als moralische Sentenz am Eingang des Gasthofs “Zur goldenen Sonne” (Nr. 141).

Zitationshinweis:

DI 33, Stadt Jena, Einleitung, 5. Die frühneuzeitlichen Inschriften (Luise und Klaus Hallof), in: inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di033b005e002.

  1. 140. Buxtorf (s. Anm. 136), 135–137 spricht für die lateinischen Inschriften der Stadt Basel die Jahre 1690 bis 1760 als produktivste Phase an, also ein ganzes Jahrhundert später als der Höhepunkt in Jena. »
  2. 141. In der Universitätsbibliothek Jena sind vorhanden: Conrad Peutinger, Romanae vetustatis fragmenta in Augusta Vindelicorum et eius dioecesi, Augsburg 1505 (Mainz 1520²); Johannes Huttichius, Collectanea antiquitatum in urbe atque agro Moguntino repertarum, Mainz 1520 (1525²); Jacobus Mazochius, Epigrammata antiquae urbis, Rom 1521; Petrus Apianus, Inscriptiones sacrosanctae vetustatis non illae quidem Romanae sed totius fere orbis, Ingolstadt 1534; Janus Gruterus, Inscriptiones antiquae totius orbis Romani in corpore absolutissimo redactae, Heidelberg 1602/03 (Amsterdam 1707²); nicht vorhanden: Desiderius Sprethus, De amplitudine, de vastatione et de instauratione urbis Ravennae, Venedig 1489; Martinus Smetius, Inscriptionum antiquarum quae passim per Europam liber, Antwerpen 1588. »
  3. 142. Zunächst wurde in Ablehnung der gotischen Minuskel auf vorgotische Schriftformen zuräckgegriffen (vgl. Kloos 1980, 143; in Rom Inschriften von 1431 und 1439). Erst in den 60er Jahren machte sich der Einfluß antiker Vorbilder auf die humanistische Majuskel bemerkbar; vgl. 1. Kajanto, Papal Epigraphy in Renaissance Rome, Helsinki 1982 (Annales Academiae scientiarum Fennicae, B. 222), 34–40, bes. 35 Anm. 13. »
  4. 143. Das Grab des Papstes Martin V. (1417–1431) zitiert mit der Schlußformel temporum suorum filicitas aus Tacitus (Agr. 3 und Hist. 1,1), dessen Opera minora erst 1425 von Poggio in Hersfeld eingesehen worden sind. »
  5. 144. Von den “nach besten klassischen Mustern gebildeten Inschriften” (Leitbuchstabe M) führt Kloos 1980, 159 als früheste Beispiele an: Mainz von 1508 (DI II, Nr. 291), Rothenburg o. Tauber von 1537 (DI XV, Nr. 186), Heidelberg von 1548 (DI XII, Nr. 256), Maulbronn von 1493 (DI XXII, Nr. 122); dagegen Naumburg erst von 1576 (DI VI, Nr. 101), München von 1577 (DI V, Nr. 233). »
  6. 145. Ein Beispiel für die direkte epigraphische Verarbeitung antiker Inschriften ist CIL XIII 6324 (DI XX, Nr. 207) aus Ettlingen; aber auch das Auftreten von Gedächtnissteinen neben bzw. anstelle von Grabinschriften ist auf die Kenntnis antiker Ehreninschriften zurückzuführen. »
  7. 146. Dagegen ist in den humanistischen Inschriften Roms ein deutlicher Zug zu religiöser Indifferenz in Text und Bildprogramm bemerkbar, wenngleich der Boden des Christentums nie verlassen wird. Die Grabinschriften, bis dahin prospektivisch, erhielten einen stark kommemorativen Charakter, wurden zu einer Rückerinnerung an die Taten des verflossenen Lebens; vgl. Kajanto (s. Anm. 142), 46–47. »
  8. 147. Außer Betracht bleiben von den Inschriften vor 1550 die Lutherplatte (Nr. 61) und der Grabstein für Jakob Zyrold (Nr. 62). »
  9. 148. Der 1664 mit 29 Jahren als Prof. eloqu. verstorbene Gottfried Zapf wird daher nicht ohne gewisse Berechtigung ein theologus praeclarae spei auf seinem Grabstein genannt. »
  10. 149. In Jena besaßen ein Grabmal: Erhard Schnepf (Nr. 71, 77), Peter Piscator (Nr. 176), Ambrosius Reuden (Nr. 192), Johann Gerhard (Nr. 244), Johann Major († 1654), Johann Ernst Gerhard († 1668), Christian Chemnitius († 1666) und Johann Musaeus († 1681); ferner Angehörige der Theologen Samuel Fischer (Nr. 137), Johann Himmel (Nr. 225) und Gottfried Cundisius (Nr. 264). Nur für Hieronymus Opitz († 1577), Johann Debel († 1610) und Johann Tobias Major († 1655) sind keine Grabinschriften überliefert. »
  11. 150. Janus Cornarius (Nr. 75), Lorenz Hiel (Nr. 91), Johann Schröter (Nr. 119, 120), Philipp Jakob Schröter (Nr. 198), Eusebius Schenk (Nr. 230), Christoph Schellhammer († 1651), Gottfried Möbius († 1664), Johann Theodor Schenk († 1671) und Johann Arnold Friderici († 1672); zur Abfolge der Ordinarii vgl. Giese/Hagen 1958, 22f., 126f., 131f. »
  12. 151. Vgl. Geschichte der Universität Jena, 1, 54. »
  13. 152. Vgl. Nr. 61, Anm. 16. »
  14. 153. Vgl. Nr. 75, Anm. 6. »
  15. 154. Vgl. Beier 1681, 75. »
  16. 155. So waren z. B. verheiratet: Prof. Johann Zöllner mit Anna, Tochter des Bürgermeisters Johann Wolfram (vgl. Nr. 68); Prof. Zacharias Brendel mit Elisabeth, Tochter des Bürgermeisters Christoph Wex (vgl. Nr. 101); Prof Ortolph Fomann mit Christina, Tochter des Amtschössers Nikolaus Schober (Nr. 116). »
  17. 156. Spätestes inschriftliches Beispiel ist das Epitaph für Prof. Johann Immanuel Walch († 1778), jetzt im Besitz des Stadtmuseums. »
  18. 157. Chirurgische Instrumente, Schädel, Skelette sowie Bilder aus Hörsaal und Theatrum anatomicum bildeten den plastischen Schmuck des Epitaphs für Prof. med. Johann Arnold Friderici von 1672 (Beschreibung und Abbildung bei Giese/Hagen 1958, 142–143 und Taf. nach S. 142). »
  19. 158. Nr. 86, 98, 108, 112, 113, 114, 129, 132, 146, 154, 156, 165, 166, 171, 201, 209, 213»
  20. 159. Nr. 103, 124, 127, 131, 161, 173, 184, 186, 189, 190, 193, 196, 223, 226, 259»
  21. 160. Vgl. H. Leutenberger, Untersuchungen über die Besucherzahl der Universität Jena von den Anfängen bis zur Gegenwart (1940), in: WZ Jena 3, 1953/54, 361–390. »
  22. 161. So jedenfalls Geschichte der Universität Jena, 1, 55–56; Koch 1966, 109. »
  23. 162. Der Stand der Väter ist angegeben mit: civis (Nr. 173), senator oppidanus (Nr. 184), Bürgermeister mit dem akademischen Grad eines Dr. iur. (Nr. 226) und Fürstlicher Rat (consiliarius, Nr. 193). »
  24. 163. Sie findet sich ohne Angabe der Gründe in der Universitätsmatrikel (Matrikel Jena, 1, 85) zum FS 1642. »
  25. 164. Sein Vetter Johann ist allerdings mit 4266 Schock der reichste Bürger im Jahre 1542 (Koch 1966, 86). »
  26. 165. Nr. 188 (Krämer und Kantor), 191 (Kannegießer), 237 (unbekannt) und 253 (Krämer). »
  27. 166. Nr. 178 (Buchführer), 182 (Müllerin) und 263 (unbekannt). »
  28. 167. Von den Inschriften zwischen 1601/50 sind in DI VI noch 51 %, in DI VII 19 %, in DI IX 36 % und in DI XI 51 % lateinisch. »
  29. 168. An der Nordwand der Stadtkirche St. Margarethae in Kahla hängt ein undatiertes Holzepitaph mit einem Gemälde der Taufe Christi und der Stifterfamilie (wohl Ende des 16. Jh.). Das lateinische Distichon in der Gebälkzone entspricht Nr. 83, die Umschrift entspricht Nr. 86»
  30. 169. Kritik an der lateinischen Unterrichtsführung ist in Jena vereinzelt schon früher laut geworden, vor ein durch W. Ratke (vgl. Alma mater Jenensis 1983, 53f.); doch wollte Ratke auf eine Veränderung der Sprachenfolge, nicht auf eine Substituierung des Lateins hinaus. »
  31. 170. Die synkopierte Form Iova läßt an antike Weihungen zu lupiter (dat.: Iovi) denken. »
  32. 171. Bis nepos geht Nr. 144, bis avus die Inschrift Nr. 192»
  33. 172. Die lateinische Bezeichnung akademischer Ämter ist bis in das 19. Jh. hinein selbstverständlich. Beachtenswert ist das aus dem Codex Iustinianus (1, 17, 1) entlehnte Wort antecessor für den Prof. iur. (Nr. 144, 235, 239). »
  34. 173. Vgl. Nr. 144, 150, 187, 207, 212, 234, 235, 239, 251, 252»
  35. 174. Dieser Titel begegnet nach 1650 auf dem Epitaph und Grabstein für Prof. iur. Christoph Philipp Richter († 1673), auf dem Grabstein für Maria Schröter († 1670) und dem Epitaph für Prof. hist. Burkhard Gotthelf Struve († 1738); hinzu kommt Nr. 259 für stud. iur. Johann Bose. »
  36. 175. Diese Präzision ist auch der antiken Epigraphik nicht fremd: In Rom betrifft es ca. 4 % aller Altersangaben (Kajanto (s. Anm. 142) 76 mit Anm. 12, der für die Renaissance darin den Einfluß der Astrologie vermutet). »
  37. 176. 1897 existierte in Jena noch eine Inschrift dieser Art am Haus des Prof. Erhard Weigel von 1667, vgl. Weber 1897 12–13. »
  38. 177. Ausnahmen sind vor allem in der gesellschaftlichen Stellung des Bauherrn begründet; gern ließen sich die Professoren auf Hausinschriften nennen (Nr. 96, 254). »
  39. 178. Folgende Hausnamen sind inschriftlich überliefert: Zum halben Mond, 1575 (Nr. 94), Zum grünen Hirsch, 1604 (Nr. 152), Zum Creutzgang, 1609 (Nr. 167). »
  40. 179. “Gottes Wort und Luthers Lehr / vergehen nun und nimmermehr” begegnet in Jena noch 1669. »