Die Inschriften des Landkreises Hildesheim

4. Die Chronologie der Inschriften

Die Inschriftenüberlieferung setzt im Bearbeitungsgebiet im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts mit einem Kelch (Nr. 1) aus dem Stift St. Mauritius in Hildesheim-Moritzberg ein. Sein theologisch ambitioniertes Text-Bild-Programm stellt ihn in einen Produktionszusammenhang mit den Inschriften der Stadt Hildesheim, die sich in diesem Zeitraum durch zumeist metrisch gefasste, exegetische Texte auszeichnen.40) Dieses Beispiel ist das einzige im Bestand, an dem die Ausstrahlung der hochmittelalterlichen Kunstmetropole Hildesheim sichtbar wird. Im Unterschied zur Stadt Hildesheim, für die bis 1300 allein 74 zum Teil umfangreiche Inschriftenprogramme überliefert sind, setzt die Inschriftenüberlieferung im Umland erst im 13. Jahrhundert mit nur insgesamt fünf Inschriften ein, und auch aus dem 14. Jahrhundert sind nur weitere neun Inschriften bekannt.

Der weitaus größte Teil des Bestands entstammt der frühen Neuzeit: 195 Inschriften gehören noch in das 16. Jahrhundert, 184 in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts. Demnach ist bereits in der nahen Peripherie der Stadt Hildesheim im Mittelalter keine nennenswerte Inschriftenproduktion nachzuweisen. In dieser Beziehung gleicht die Region den südniedersächsischen Landkreisen Göttingen und Holzminden, deren bereits edierte Bestände ebenfalls schwerpunktmäßig der frühen Neuzeit angehören.41) Auf einem wichtigen Feld war der Einfluss der Stadt Hildesheim indes besonders nachhaltig und sozusagen unüberhörbar: Seit dem späten Mittelalter belieferten Hildesheimer Gießer wie Harmen Koster und Hinrich Quenstaedt das Umland mit Glocken. Der Hildesheimer Bildhauer Ebert Wolf und sein gleichnamiger Sohn fertigten Grabdenkmäler, die ebenso wie die Glocken zentrale Inschriftenbestände der vorliegenden Edition bilden.42)

Für die Zeit vom 13. bis zu den Anfängen des 16. Jahrhunderts zeichnet sich die oben skizzierte historische Entwicklung des Bearbeitungsgebiets in den Inschriften nur indirekt ab, was für diese Quellengattung durchaus charakteristisch ist. Einzelne frühe Bauinschriften oder Gussdaten auf [Druckseite 20] Glocken lassen sich als Anhaltspunkte für die Existenz von Pfarrkirchen in den Dörfern lesen;43) ihre ursprünglichen Patrozinien sind vielfach in den Namen der Glocken dokumentiert. Personengeschichtliche Informationen hingegen sind aus dieser frühen Zeit kaum zu gewinnen, da die dafür einschlägigen Grab- und Stifterinschriften aus der Zeit vor 1500 nur spärlich überliefert sind (Nr. 11, 12, 50). Zeugnisse dörflicher oder städtischer Memorialkultur enthält der Bestand vor 1500 nicht, abgesehen vielleicht von dem für einen CONRADUS errichteten Scheibenkreuz (Nr. 13) mit einem knappen Sterbevermerk. Vertreter des Laienstandes gewinnen in den Inschriften vor 1500 nur vereinzelt Profil: In Adensen zwei Kirchherren (Nr. 53, 54), in Sarstedt zwei vielleicht ebenfalls als Älterleute amtierende Personen (Nr. 30), in Alfeld eine bürgerliche Stifterin (Nr. 55), die sich auch als maghet eines Hildesheimer Domherrn inschriftlich fassen lässt.44) Lediglich die Glockengießer werden in ihren etwa ab dem zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts (Erstbeleg Nr. 20) recht konsequent gesetzten Signaturen als Meister fassbar.45)

Frömmigkeitsgeschichtlich zeigen die spätmittelalterlichen Inschriften Spuren der Klosterreform, die beispielsweise im Augustiner-Chorherrenstift Wittenburg (Nr. 56, 59) und in Marienrode (Nr. 34) in größeren Baumaßnahmen Ausdruck fand. In Marienrode kam hinzu, dass man das Grabdenkmal des Alrad von Eldingen an einen würdigen Ort vor dem Eingang des Kapitelsaals versetzt hat (Nr. 25 u. 26), wodurch das Gedächtnis an einen verehrten Konversen aus der Frühzeit des Konvents neu belebt wurde. Von der Innenausstattung zweier Archidiakonatskirchen zeugen die Reste der heute nahezu völlig zerstörten mittelalterlichen Wandmalereien und ihrer Inschriften in Lühnde (Nr. 80) und Nettlingen (Nr. 76). Die beeindruckende Zahl von 23 Glockeninschriften aus dem 15. Jahrhundert lässt auf eine keineswegs karge Ausstattung der spätmittelalterlichen dörflichen Pfarrkirchen schließen.46)

Im 16. Jahrhundert wächst die Überlieferungsdichte wie auch die thematische und formale Vielfalt der Inschriften ganz erheblich. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts lassen sich die für die Frömmigkeitsgeschichte der Zeit vor der Reformation typischen Themen in einigen wenigen Inschriften der kirchlichen Ausstattung wiederfinden, so z. B. die Meditation über die Passion Christi (Nr. 115) oder die Verehrung der Heiligen (Nr. 136, 137), vor allem der Gottesmutter sowie der heiligen Anna und Katharina.47)

Ein erstes Anzeichen der lutherischen Reformation erscheint 1546 in der protestantischen Devise Verbum Domini Manet In Eternum am Rathaus der zum Fürstentum Calenberg gehörenden Stadt Elze (Nr. 150).48) Dieselbe Devise, kombiniert mit einem niederdeutschen Bibelzitat, findet sich 1562 auf einer Glocke in Wetteborn (Nr. 170). Am eindrucksvollsten präsentiert sich die neue Lehre in dem Epitaph Heinrich von Redens aus dem Jahr 1572, das die lutherische Rechtfertigungslehre mit der Darstellung von Gesetz und Evangelium ins Bild setzt (Nr. 185). Ergänzt wird das Bild durch zwei Zitate aus der Lutherbibel und eine Grabschrift, die mit der Bitte um eine fröhliche Auferstehung [Druckseite 21] schließt. Mit der Anbringung dieses Epitaphs in der Rhedener Pfarrkirche verschaffte Heinrich von Reden seiner Glaubensauffassung zumindest im Raum seiner dörflichen Patronatskirche öffentliche Aufmerksamkeit. In derartigen Denkmälern deutet sich an, wie der früh der Reformation zugeneigte landsässige Adel dazu beigetragen hat, die neue Konfession in den ländlichen Gebieten zu etablieren.49) Bezeichnend für die konfessionellen Veränderungen ist auch die Tatsache, dass die Familie von Steinberg ihre bis dahin im Kloster Lamspringe befindliche Grablege aufgab und ihre Verstorbenen, die nun nicht mehr der kontinuierlichen Fürbitte der Mönche für ihr Seelenheil bedurften, in evangelischen Pfarrkirchen in Alfeld und etwas später (1588) auch in Bodenburg beisetzen ließ. Diese Verlagerung des Totengedächtnisses aus dem Kloster in den allgemein zugänglichen Raum einer Pfarrkirche erweiterte die öffentliche Wirkung der Denkmäler, die der adeligen Macht- und Selbstrepräsentation zugute kam.50)

Seit der Einführung des evangelischen Bekenntnisses im Fürstentum Wolfenbüttel 1568 gehört die Region um Hildesheim zu den wenigen bikonfessionell geprägten Gebieten in Norddeutschland. Die konfessionellen Unterschiede sind in den Inschriften dieses Bestands allerdings kaum spürbar, vor allem weil sich die Belege aus katholischem Kontext quantitativ verschwindend gering ausnehmen gegenüber einer übermächtigen Zahl evangelischer Zeugnisse. Der einfache Grund dafür liegt in der geringeren Fläche des katholischen Kleinen Stifts im Vergleich zu den evangelischen Gebieten. Einen geschlossenen katholischen Bestand bieten lediglich die für Kanoniker des Stifts St. Mauritius in Hildesheim-Moritzberg errichteten Grabdenkmäler aus der Zeit von 1507 bis 1641, denen als einzigem monastisch geprägten Inschriftenkomplex auch in dieser Hinsicht eine Sonderrolle zukommt. Einzelne Stiftungsinschriften auf kirchlichen Ausstattungsstücken der katholischen Gemeindekirchen lassen eine enge Verflechtung mit den geistlichen Institutionen im Gebiet der Stadt Hildesheim erkennen, wie etwa mit dem dortigen Benediktinerkloster St. Godehard (Nr. 217) oder den Fraterherren vom Lüchtenhof (Nr. 320).

Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts gewinnt die Inschriftenüberlieferung ganz erheblich an personengeschichtlichem Quellenwert. Dies gilt vor allem für den Adel, auf den die meisten Zeugnisse bis zum Ende des Erfassungszeitraums zurückgehen. In den insgesamt 40 zwischen 1535 und 1650 für Adelige überlieferten Grabinschriften mit zum Teil umfangreichen Ahnenproben zeigen sich die genealogischen Verflechtungen der Familien untereinander und, damit verbunden, ein ausgeprägtes Bedürfnis nach dynastischer Selbstrepräsentation. Hinzu kommen zahlreiche Inschriften an neuerrichteten Wohnbauten des Adels (z. B. Nr. 230, 232, 243) sowie die Bau- und Stiftungsinschriften in den unter adeligem Patronat stehenden Gemeindekirchen (z. B. Nr. 322, 325). Ein signifikantes Beispiel bietet die Martinskirche in Wrisbergholzen, als deren Wohltäter sich die Familie von Wrisberg in acht Bau- und Stiftungsinschriften nennt (u. a. Nr. 345, 346, 347). Neben dem Adel traten der Landesherr (Nr. 231), einzelne Amtmänner und ihre Angehörigen (Nr. 235, 273, 315) oder andere landesherrliche Bedienstete (Nr. 296, 300, 348, 350) als Stifter auf, oft in Verbindung mit der Funktion eines Patronatsherrn. Hinzu kommen die evangelischen Geistlichen und ihre Angehörigen mit ihren im Einzelfall recht anspruchsvoll formulierten Memorialinschriften (Nr. 263, 423).

Die evangelischen Pfarrer sind aber nicht nur in Grabinschriften präsent; viel häufiger sind ihre Namen, zumeist begleitet von denen der Älterleute, in den zahlreichen Herstellungsvermerken auf kirchlichen Ausstattungsstücken angebracht. Sie stehen stellvertretend für die Gemeinde, aus deren Vermögen die Stücke finanziert worden sind.51) Dazu ermöglichen ihre bekannten Amtszeiten auch eine Datierung der von ihnen in Auftrag gegebenen Objekte. Mit den Namen der Älterleute [Druckseite 22] gewinnt auch der Laienstand erstmals in den Inschriften Kontur. Das gilt zum einen für die städtischen Oberschichten, im vorliegenden Bestand quantitativ aber sehr viel stärker für die führende bäuerliche Schicht der Dörfer. Im Verlauf der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bleiben die Namensnennungen nicht auf den Pfarrer und zwei Älterleute beschränkt; zusätzlich werden häufig weitere Angehörige der Bauerschaften (Nr. 409, 433, 439) aufgeführt, die nun aber – zumal dann, wenn ihre Namen im Zusammenhang mit Geldbeträgen genannt sind – wohl nicht nur als Repräsentanten der Gemeinde, sondern doch als klassische Stifter anzusehen sind. Hinzu kommen namentlich bezeichnete Einzelstiftungen insbesondere von Kron- und Altarleuchtern, deren Inschriften noch einmal eine große Menge von Personennamen aus den Dörfern überliefern.

Der Dreißigjährige Krieg fügt den Inschriften in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts einen weiteren thematischen Akzent hinzu. Indirekt bringen Zeitklagen und die Bitte um Frieden die Stimmung in der durch die Truppendurchzüge erheblich in Mitleidenschaft gezogenen Region zum Ausdruck (Nr. 353, 369, 391). Einzelne Zerstörungen wie etwa durch das Kaiserliche Lager vor Gronau im Jahr 1641 und die in deren Folge notwendig gewordene Erneuerung der Emporen und der bezahlten Kirchensitze beschreibt eine Inschrift des Jahres 1650 aus Mehle (Nr. 440). Die wenigen Hausinschriften aus dieser Zeit in Wülfingen und Rheden (Nr. 417a, 452) wie auch die bereits erwähnten Kaufvermerke auf den beweglichen kirchlichen Ausstattungsstücken sind ein Indiz für einen Neubeginn nach dem Dreißigjährigen Krieg.

Zitationshinweis:

DI 88, Landkreis Hildesheim, Einleitung, 4. Die Chronologie der Inschriften (Christine Wulf), in: inschriften.net,  urn:nbn:de:0238-di088g016e008.

  1. Vgl. DI 58 Stadt Hildesheim, S. 14»
  2. DI 66 (Lkr. Göttingen): 7 Inschriften vor 1300; DI 83 (Landkreis Holzminden): 3 Inschriften vor 1300. »
  3. Vgl. unten Kap. 8.4 u. 8.5. »
  4. Vgl. z. B. DI 62 (Landkreis Weißenfels): 16 von 27 Inschriften vor 1400 auf Glocken; DI 64 (Lkr. Querfurt): 20 von 28 Inschriften bis 1400 auf Glocken; DI 66 (Lkr. Göttingen) 11 von 25 Inschriften vor 1400 auf Glocken; DI 73 (Hohenlohekreis): 11 von 30 vor 1400 entstandenen Inschriften auf Glocken. »
  5. Vgl. DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 263»
  6. S. dazu unten Kap. 6.3 Glocken. »
  7. Bereits seit der Karolingerzeit sollte jede Pfarrkirche eine Glocke besitzen, vgl. Arnd Reitemeier, Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters: Politik, Wirtschaft und Verwaltung (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 177). Stuttgart 2005, S. 172–175. »
  8. Vgl. Nr. 84, 114 Sieben Schmerzen Marias, 117, 124, 125 Anna Selbdritt. Aus der Zeit bis 1550 sind 18 Marienglocken, sechs Katharinenglocken und drei Annenglocken überliefert. Zu einzelnen Heiligen in der Region s. Register 10a. »
  9. Zu der auf die Bibelstelle 1. Pt. 1,25 zurückgehenden Devise des Schmalkaldischen Bundes vgl. Frederic John Stopp, Verbum Domini Manet in Aeternum – The Dissemination of a Reformation Slogan. In: Essays in German Language, Culture and Society, hg. von S. S. Prawer, R. H. Hinton u. L. Forster. London 1969, S. 123–135; s. a. Arnd Reitemeier, Die Reformation und ihre Folgen in Niedersachsen. Inschriften und die Frage nach der Einführung und Konsolidierung des lutherischen Glaubens in den welfischen Territorien des 16. Jahrhunderts. In: Inschriften als Zeugnisse kulturellen Gedächtnisses, hg. von Nikolaus Henkel. Wiesbaden 2012, S. 115–131, hier S. 122 mit zahlreichen Nachweisen und Hinweisen auf weitere Literatur. »
  10. Vgl. Hans Otte, Fürsorge oder Selbstbestimmung? Das Patronat in der Hannoverschen Landeskirche. In: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 56 (2011), S. 405–429, hier S. 408: „Schließlich verdankt sich die Einführung der Reformation in weiten Teilen Niedersachsens nicht den Fürsten, sondern den Patronen.“ »
  11. Vgl. Reitemeier (wie Anm. 48), S. 130. »
  12. In Nr. 412 wird die Namensnennung des Bauermeisters und der Älterleute als Zeitangabe mit dem Wort tempore ‚zur Zeit‘ eingeleitet. Der Name des Stifters ist mit dem Zusatz benefactor eigens genannt. »