Die Inschriften der Stadt Braunschweig bis 1528

4. Sprachliche Form und Thematik der Inschriften

In seiner Untersuchung der mittelalterlichen Inschriften Braunschweigs von 1952 hat Dietrich Mack die Jahre 1430-1479 als eine Epoche der niederdeutschen städtischen Bauinschriften bezeichnet169). Die bewußte Verwendung der Volkssprache kann schon früher festgestellt werden. Die Weiheinschrift von 1379 und die nebenstehende Votivinschrift des Stifterbildes vor dem Nordportal der Michaeliskirche (Nr. 57) sind als erste deutschsprachige Inschriften aus der Sonderstellung dieser Kirche vor den anderen Braunschweiger Kirchen zu erklären. Die Michaeliskirche war eine bürgerliche Gründung, das Patronat lag bis zur Reformation in den Händen der Gemeinde, die sich aus Kleinhandwerkern und Ackerbürgern zusammensetzte. Ähnlich war die Ausgangslage bei den nächstfolgend erhaltenen niederdeutschen Inschriften vor dem westlichen Portal der Brüdernkirche (Nr. 59), den Siegesinschriften der Herzöge und der Stadt Braunschweig 1388-1422. War die erste Meldung dieser Art 1367 noch auf einem Grabstein auf dem Friedhof der Franziskaner in lateinischer Sprache kundgetan worden (Nr. 48), so wurden die folgenden Inschriften ab 1388 nun sicht- und lesbar vor der Kirchentür in niederdeutscher Sprache eingehauen. Die Gläubigen, die die Kirche der Franziskaner besuchten, wurden als lese-, jedoch nicht als lateinkundig eingeschätzt. Auch von den Klosterfrauen des Kreuzklosters ist nur ein früher, aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts stammender Wandteppich mit religiösem Thema (Nr. 35) mit lateinischen Inschriften bestickt worden. Die Teppiche aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts (Nr. 65, 66) wie auch ein dem Kloster um 1400 gestifteter Kelch (Nr. 73) tragen niederdeutsche Inschriften. Die öffentlich-städtischen Inschriften in niederdeutscher Sprache setzen 1408 mit den Sprüchen der Propheten auf dem Altstadtbrunnen ein (Nr. 83). Die tatkräftige städtische Bautätigkeit dokumentierte sich bis etwa 1493 besonders an der Stadtbefestigung, aber auch an öffentlichen Gebäuden ausschließlich in niederdeutscher Sprache170). Dietrich Mack interpretiert dies wohl zutreffend als Ausdruck städtischen Selbstbewußtseins171). In dieses selbstbewußte Vorzeigen niederdeutscher Umgangssprache paßt auch die einzigartige Hausinschrift der sog. Gellerburg von 1435 (Nr. 11). Die Hausinschriften hielten sich bis zur Reformation in den traditionellen Formen der zumeist lateinischen Datierung. Die Grabinschriften sind bis auf eine Ausnahme um 1400 (Nr. 58) bis zum Ende des 15. Jahrhunderts in lateinischer Sprache abgefaßt, sie weichen kaum einmal vom seit 1349 (vgl. Nr. 34) vorgegebenen Formular ab. Noch stärker in die traditionellen Formen eingebunden sind die Glockeninschriften. Der früheste schlichte niederdeutsche Reimvers auf einer Glocke findet sich erst 1512 (Nr. 347). Die relativ kurze Phase niederdeutscher Sprache in den städtischen Bauinschriften sieht Mack im Aufkommen des römischen Rechts seit etwa 1480 begründet. Die gebildeten Juristen in der städtischen Verwaltung waren bestrebt, die humanistischen Formen gelehrten Lateins durchzusetzen (vgl. Nr. 355). Die Verwendung niederdeutscher Neid- oder Spottabwehrsprüche bei den Hausinschriften, die sich um 1500 anbahnt, wurde ab 1530 unterbrochen von reformatorisch geprägten Sprüchen und Bibelzitaten. Noch bevor sich ein charakteristischer eigenständiger Inschrifttypus nichtreligiösen Inhalts ausgebildet hatte, verschwand die niederdeutsche Reiminschrift nichtreligiöser Thematik nach der Reformation bis 1640 wieder aus dem Stadtbild172).

4.1 Haus- und Bauinschriften - Datum und erweitertes Datum

Die frühen Formen beider Inschriftentypen bestehen zunächst meist nur aus einem Datum oder einem textlich erweiterten Datum. Da die städtischen Bauinschriften in Braunschweig zeitlich etwas früher einsetzen als die erst nach 1400 erscheinenden ersten Hausinschriften, kann man von einer Vorbildfunktion der Bauinschrift für die Hausinschrift ausgehen. Ab 1447 werden die Bauinschriften ausführlicher. Sie nennen neben dem Datum auch den Gegenstand der Bautätigkeit (dusse kor Nr. 123; dusse [Druckseite XLVII] stal Nr. 139; dusse piler Nr. 141; dusse toren Nr. 142). Die Sprache ist, wie auch bei anderen auf städtische Repräsentation bedachten Inschriften seit 1379 (Nr. 57), immer niederdeutsch. Demgegenüber bleiben die Hausinschriften bis auf eine Ausnahme (Nr. 111) bis über die Mitte des 15. Jahrhunderts auf hergebrachte und zumeist lateinische Formen der Datierung festgelegt.

Die baugeschichtlichen Bedingungen und die dekorative Funktion der Hausinschriften am norddeutschen Fachwerkbau ist bereits in DI 28 (Hameln) grundlegend erörtert worden172). Im Braunschweiger Inschriftenmaterial ist ein mehr als ein Jahrhundert dauernder Entwicklungszeitraum zwischen ersten Formen der Datierung und umfangreicheren Textinschriften auf den Schwellbalken festzustellen. Die Braunschweiger Hausinschriften sind bis zum Ende des 15. Jahrhunderts mit wenigen Ausnahmen Baudaten in variierenden Formen. Es wird vorausgesetzt, daß nach dem Vorbild der frühen Bau- und Weiheinschriften des 14. Jahrhunderts auch die Hausinschriften stets mit der vollständigen Datumsformel Anno domini einsetzen. Wo die Haus- oder Bauinschrift in der kopialen Überlieferung ohne diese Angabe erscheint, ist mit einer Vereinfachung der Schreibweise des Überlieferers eher zu rechnen als mit einer abkürzenden Schreibweise der mittelalterlichen Steinmetzen oder Zimmerleute. Denn diese waren es offenbar, die den Umfang der Inschrift nach der Zahl der Balkenköpfe oder der auf den Schwellbalken zu schnitzenden Treppen bestimmten. Oft mag auch die mehr oder weniger geeignete Qualität des Schwellholzes für die Anbringung der Inschrift entscheidend gewesen sein. Die Datierung wurde häufig auf die Ecke gesetzt, nicht etwa auf die Mitte des Schwellbalkens, sondern auch scheinbar achtlos seitlich in einen Laubstab gewunden oder wie beiläufig unter einen Treppenfries eingeschnitten173). Um den textlichen Rahmen vom einfachen Jahresdatum bis zu dem durch mehrere Textelemente erweiterten Haus- und Baudatum anschaulich zu machen, folgen acht Beispiele als Entwicklungsschema:

1. Anno domini m cccc xxxii174);

2. Anno domini m cccc vii jar175);

3. Anno domini m unde ivc xxxii jare176);

4. Anno domini m cccc lxix in die viti177);

5a. Anno domini m cccc xlvii in die sancti egidii completum est178);

5b. Anno domini m cccc liiii do wart dusse stal bvvet179);

6a. Anno domini m cccc lxvi in vigilia sancti iohannis baptiste completa est domus ista180);

6b. Anno domini m cccc lxvii viti edificata est domus ista amen iesus maria181);

7a. Anno domini m cccc lxxx iii hanc domum struxit hans von barbeke182);

7b. Anno domini m vc xiii buwede Herman Kemnade dut hueß183);

8. Anno Domini Millesimo Quingentesimo Decimo quarto Georgius Irrenberch brunoviensi rector huius ecclesie in Honorem divi Udalrici episcopi sanctorum conpatronorum cosme et Damiani hanc Domum fieri fecit184).

Wie die Jahreszahlen deutlich machen, werden sämtliche Formen der Baudatierung durch etwa 120 Jahre (1407-1526) - in Einzelbeispielen noch weiterreichend - verwendet. Die Hausinschrift diente, neben dem informativen Hinweis auf den Zeitpunkt der Fertigstellung des Baues, vor allem dekorativen Zwecken. Der Wortlaut und die Ausführung der Inschrift mußte sich nach der Größe und der Architektur des Hauses richten; wahrscheinlich spielte auch der Arbeitslohn der ausführenden Zimmerleute bei der Anbringung der Hausinschrift auf den Schwellbalken eine Rolle. Die häufig vorkommende Form Anno domini ... [Jahreszahl] ... jar (Beispiel 2.) ist sicher weniger dem Bedürfnis nach einer [Druckseite XLVIII] volkssprachlichen Übersetzung der lateinischen Datumsformel zuzuschreiben als dem dekorativen Zweck, daß vor und nach der Zahl jeweils ein Wort in Buchstaben folgen müsse. Ein zwischen die Jahrhundertzahl und die Jahreszahl gesetztes unn oder unde (Beispiel 3.) machte das Datum übersichtlicher und leichter lesbar und füllte außerdem noch einen Balkenkopf mehr. Die Datumsangabe war nach der Länge des Hauses beliebig zu erweitern. Einen anderen Sinn hatte die Angabe des Tagesheiligen im Datum (Beispiel 4.) Hier wurde doch wohl eine schützende Funktion durch den in der Inschrift genannten Heiligen erhofft. Aus der Nennung der Heiligentage in den Braunschweiger Hausinschriften ergibt sich zunächst, daß die Bausaison zwischen Ostern und spätestens Martini (11.11.) lag. Neben den Festen Ostern und Pfingsten sind besonders die Heiligentage Viti (15.6.) und Urbani (25.5.) als Bauabschlußdaten beliebt. Auch zum Fest oder der Vigilie Johannes d. T. (24.6.) wird das Haus bevorzugt eingeweiht. Ferner genannt werden die Heiligentage Jacobi (25.7.), Vincula Petri (1.8.), Laurentii (10.8.), Egidii (1.9.) und Michaelis (29.9.) Offenbar legte man es darauf an, den Bau an einem bestimmten Heiligentag abzuschließen. Der Abschluß des Baues wurde gewöhnlich mit der Wendung ... completum est (Beispiel 6a.) bestätigt. Noch bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts ist dies die auch in städtischen Bauinschriften gebräuchlichste Form. Bot der Schwellbalken einer längeren Bauinschrift Raum, so konnte es heißen ... completa est domus ista, seltener war edificata est domus ista (Beispiele 6a., 6b.) War nicht der Tagesheilige als Beschützer des Hauses in der Inschrift ausgewiesen, so konnten durch Anrufungsformeln auch Jesus, Maria und deren Mutter Anna diese Schutzfunktion übernehmen (Beispiele 6b.) Im späten 15. Jahrhundert nennen sich erstmals die Erbauer eines Hauses namentlich (Beispiele 7a., 7b.) Das Datum und das um den Tagesheiligen erweiterte Datum war traditionell in lateinischer Sprache gefaßt. Bei dieser Version der Hausinschrift kamen, anders als in den städtischen niederdeutschen Bauinschriften, deutsche Textteile nur vereinzelt vor (Beispiel 7b.) Die von Geistlichen erbauten oder renovierten Pfarrhäuser und Stiftskurien blieben bei der lateinischen Hausinschrift (Beispiel 8.)

In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts treten erstmals arabische Jahreszahlen auf. Die erste ist 1469 über einem Portal als Bauinschrift des Braunschweiger Doms zu finden (Nr. 165). Als Haus- und Bauinschriften setzen sich die arabischen Zahlen jedoch nur sehr langsam durch. Eine veränderte Schreibung der römischen Zahlen ist zunächst einmal bei der Schreibung 1500 zu beobachten. Das Hintereinandersetzen von fünfmal C wird nun als mühsam zu schreiben und zu lesen und als ästhetisch wenig ansprechend empfunden. Nicht nur in Haus- und Bauinschriften, auch auf Glocken, Bronzetaufen und anderen Gegenständen setzt sich die Schreibweise vc durch.

Erst im Laufe der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts erscheinen neben Datierung oder Hausinschrift auch Hausmarken und Wappen. Auch hier ist die Markierung der in städtischem Besitz befindlichen Häuser mit dem Löwenwappen möglicherweise beispielgebend für die Verwendung von bürgerlichen Hausmarken und Wappen gewesen. Gemessen an der Häufigkeit solcher bürgerlichen Repräsentation im späteren 16. und 17. Jahrhundert ist das Aufkommen in den Hausinschriften des 15. und vorreformatorischen 16. Jahrhunderts gering.

4.1.1 Hausinschriften, Spruchinschriften

Als Hausinschrift über die bloße Aussage des Datums hinaus kann bereits die in Beispiel 7. und 8. angeführte Nennung des Erbauers eines Hauses angesehen werden. Die früheste und zugleich bemerkenswerteste Hausinschrift dieses Typs befand sich bis 1944 an der sog. Gellerburg an der Alten Waage 2 (Nr. 111). Ein Narrenkopf am Beginn der Inschrift auf der linken Seite des Schwellbalkens spricht den Namen des Hausbesitzers und in zweideutiger Weise den politischen Bratengeruch an, der aus der gegenüberliegenden Ratsküche drang, in der der sog. Küchenrat tagte. An der Echtheit dieser ebenso frühen wie geistreichen Hausinschrift besteht kein Zweifel. Zwischen diesem ersten deutschen Reimspruch und den in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts auftretenden Hausinschriften liegt eine Zeitspanne von 50 Jahren, in der Haussprüche nicht überliefert sind. Es ist die Frage, ob es sich hier um eine Überlieferungslücke handelt, die gerade die Häuser mit über das Datum hinausgehender Inschrift betrifft. Gleichlautende lateinische oder deutsche Sprüche deuten am Ende des 15. Jahrhunderts eher darauf hin, daß jetzt eine religiöse Thematik die Hausinschriften bestimmte. So wird 1488 (Nr. 233) und 1492 (Nr. 254) der mehrmals auf Glocken der Stadtkirchen verwendete Spruch O rex glorie christe veni cum pace nun auch als Hausinschrift verwendet. Als namentliche Anrufung an das Ende bzw. an den Anfang der Inschrift gestellt, erscheinen die Worte Jesus Maria bzw. Iohannes Jesus. Die religiöse Anrufung ist auch als Votivformel help got un sant maria (Nr. 394) / un sancta anna (Nr. 358) in den Hausspruch einbezogen. Ein volkstümlicher Reimspruch findet sich erstmals wieder 1509 auf der alten Apotheke der Hagenbrücke gegenüber dem Neustadtrathaus (Nr. 335). Er gehört sinngemäß zu der Gruppe der Spottabwehr-Sprüche, hier in der für Braunschweig frühest bekannten Form jedoch als [Druckseite XLIX] Frage gefaßt, ‚Wer kann es allen Leuten recht machen?‘185). Derselbe Spruch, nun in einer von 1509 leicht abweichenden Wortfolge, wird 1519 (Nr. 369) und 1520 (Nr. 374) an zwei Häusern fast gleichlautend wiederaufgenommen. Bis 1530 begegnet dieses Thema noch zweimal, nun aber eher in der Form des Neidspruchs186), danach tritt es erst um 1640 wieder hervor. Insgesamt viermal zwischen 1517 und 1526 folgt als Abschluß des Datums oder Reimspruches der Ausruf Och we kans geramen im Sinne von ‚Wer kann es erreichen‘ (Nr. 363, 369, 377, 400). Dieser abschließende Bestandteil der Inschrift, in einem der Beispiele auch in den Reim mit einbezogen, begegnet an drei Häusern ein- und derselben Straße der Altewiek (Auguststraße 10, 32, 33) sowie einmal an der nicht allzu weit davon entfernten Görderlingerstraße 19 in der Altstadt. Dietrich Mack wies auf das maßgebliche Vorbild des 1517 gebauten, später sog. Dannenbaumschen Hauses in der Auguststraße 33 (Nr. 363) hin187).

4.2 Grabinschriften

Die geringe Zahl der erhaltenen oder kopial überlieferten Grabinschriften aus der Zeit vor 1528 lassen nur eine begrenzte Übersicht in großen Linien zu. Auffällig ist zunächst das geringe Vorkommen von Versinschriften auf Grabplatten und Epitaphien187). Nur in zwei überlieferten Texten von 14(23) (Nr. 95) und 1512 (Nr. 348) ist die Inschrift in Hexametern bzw. Distichen gefaßt; auf zwei Grabplatten in niederdeutscher Sprache (Nr. 58, 259) endet die Grabschrift in einem Reimvers. Eine Bildtafel, ehemals im Braunschweiger Dom, die Heinrich den Löwen und Herzogin Mathilde, Kaiser Otto IV. und seine Gemahlin Beatrix zeigt (Nr. 72), mahnt in Distichen den Leser an Vergänglichkeit und Sterblichkeit. Die Tafel ist jedoch, da ihr jegliche Sterbedaten fehlen, eher als Grabcarmen anzusehen188), nicht als Epitaph.

Das Schema der überwiegend lateinischen Grab- und Epitaphientexte hält sich bis 1528 eng an den traditionellen Rahmen189): Sterbedatum - Name des Verstorbenen - Titel und Ämter - Grabbezeugung - Fürbitteformel. Die frühest erhaltene und für diesen Textaufbau maßgebende Grabplatte ist diejenige des Propstes Ludolf von Honlage von 1349 (Nr. 34), die heute im Dom an der Wand des südlichen Seitenschiffes aufgestellt ist.

Bis zum Ende des 14. Jahrhunderts sind in mehreren Kirchen Braunschweigs sieben weitere Klerikergrabsteine verschiedenartiger Gestaltung, jedoch gleicher Textfolge überliefert (Nr. 40, 45, 49, 50, 56, 60, 61). Nur auf den Klerikergrabmälern wurden die geistlichen Würden, Stifts- und Pfarrämter bezeichnet. Auf den Grabmälern der Stadtbürger erscheinen solche Amtsbezeichnungen nicht. Es wird weder ein Adelstitel, noch ein städtisches Amt genannt, auch dort nicht, wo langjährige (Nr. 92) oder ausgezeichnete Verdienste (Nr. 256, 257) dies erwarten ließen. 1372 erscheint auf einem Frauengrabstein (Nr. 52) erstmals die Fürbitte requiescat in pace. Sie wird seitdem ohne Ausnahme verwendet, auch in der niederdeutschen Form des sele mote rawe(n) in dem frede godes amen (Nr. 259). Am Ende des 14. Jahrhunderts wird auch die Grabbezeugung üblich. Sie wird gewöhnlich in der Form hic sepultus bzw. hir lit begraven ausgedrückt. In Verse gefaßt, erscheint sie einmal als iacet hic tumulatus (Nr. 95); auf dem gemeinsamen Grab der Äbte von St. Ägidien (Nr. 121) ist die Form haec est sepultura gewählt. 1372 (Nr. 52) und 1373 (Nr. 53) wurden ein übergroßer und ein kleinerer Frauengrabstein hergestellt, in deren Innenfeld ein Kruzifix mit beistehenden Figuren eingeritzt war. Obwohl die Form und der Text der Steine derjenigen einer Grabplatte entsprechen, ist zu bezweifeln, daß sie - mit der Darstellung des Kruzifixus - den Boden deckten. Die heute im Kreuzgang der Brüdernkirche aufgestellten Grabsteine haben eher Epitaphcharakter. Ähnlich wurde ein als Pietà vor 1400 überliefertes steinernes Bild (Nr. 58) in die Friedhofsmauer der Brüdernkirche eingefügt. Es enthält den deutschen Text hir lit begraven, der es als Grabstein ausweist. An der Choraußenseite der Magnikirche war bis 1981 ein Relief des Gekreuzigten mit Beistandsfiguren und zwei Stiftern (Nr. 127) aus dem ersten Viertel des 15. Jahrhunderts eingemauert, unter dem sich ein kleinerer Inschriftstein befand, dessen Text ihn als Stifterepitaph ausweist. Er beginnt, anders als das oben angegebene Textschema, mit dem Verb obierunt, nennt erstmals namentlich die Stifter qui dederunt lapidem istum, [Druckseite L] danach folgt die Fürbitteformel. Diese Trennung zwischen dem inschriftlichen Epitaphstein und der zugehörigen bildlichen Darstellung, wie sie mit Nennung des Stifters bereits am Anfang des 15. Jahrhunderts begegnet, ist in unterschiedlichen Formen noch in zwei weiteren Beispielen überliefert. 1423 ist im Chor der Ägidienkirche eine Darstellung des Schmerzensmannes mit kniender Stifterfigur (Nr. 95) textlich als Grabbezeugung mit beigefügtem religiösem Spruch ausgewiesen, während eine an anderer Stelle in der Wand eingemauerte Steintafel Namen und Todesdatum überlieferte. Im anderen Fall ist auf zwei nebeneinanderstehenden Reliefsteinen (Nr. 375, 376) auf dem ehemaligen Friedhof des Marienspitals einmal der Stifter inschriftlich bezeugt und auf dem anderen Stein figürlich abgebildet. Die Figur wendet sich anbetend dem nebenstehenden Andachtsbild mit dem Gekreuzigten zu. Die darunter befindliche Inschrift bittet in zwei Hexametern um einen gottgefälligen Tod. In zwei anderen Fällen (Nr. 163, 332) sind Bildsteine durch die Inschriften als Andachts- bzw. Votivbilder ohne sepulchrale Zweckbestimmung ausgewiesen. Bei fast identischer Darstellung des kreuztragenden Christus auf zwei auch zeitlich nahestehenden großen Steinreliefs vor dem Dom (Nr. 193) und (ehemals) vor der Magnikirche (Nr. 163) haben beide durch ihre Inschriften doch einen unterschiedlichen Charakter. Während der Text des Domreliefs dieses als Epitaph für den Dompfarrer Ludolf Kerkhoff ausweist, trägt der Bildstein von St. Magni eine Umschrift nach einem im 15. Jahrhundert oft zitierten Text aus den Klageliedern des Jeremias (Ier. Lam. 1,12). Ein Hinweis auf eine Grabschrift ist nicht vorhanden. Die obengenannten Beispiele zeigen, daß Textformen und Gestaltung von Grabsteinen bzw. Grabplatten und Epitaphien keiner Regel unterworfen waren, daß es dem Stifter oder den Hinterbliebenen überlassen blieb, die geeignete Form von Grabschrift und Darstellung zu bestimmen. Bevorzugt wurden dabei seit dem frühen 15. Jahrhundert Bildnisse des leidenden Christus, die, möglichst an hervorragender Stelle angebracht, die Gläubigen zur Andacht bewegen sollten190). Durch die Inschriften bekamen die Bildsteine jedoch eine jeweils unterschiedliche Zweckbestimmung als Epitaph, Grabstein oder Andachts- bzw. Votivbild. Bei einigen Stifterdarstellungen ist die Votivformel miserere mei deus oder here dorch dyn bitter lydent bidde vor my auf einem Spruchband beigegeben (Nr. 95, 193). Hervorzuheben ist schließlich, daß vier der Grabmäler dieses Typus von bzw. für Priester gestiftet worden waren (Nr. 95, 193, 289, 376).

Neben der religiösen Gestaltung von Grabmal und Text erhielt sich in den Begräbnismalen des Bürgertums und Stadtadels durchgehend vom 14. bis ins 16. Jahrhundert die schlichte Form der nur mit dem Wappen und der Umschrift mit traditionellem Text gestalteten Grabplatte. Am Ende des 15. Jahrhunderts wurde das lateinische Grabformular zweimal in niederdeutsche Form gebracht, wich aber in dem einen Falle (Nr. 259) nicht von der herkömmlichen Wortfolge ab. Im anderen Fall ergänzten sich die Texte der nur bruchstückhaft überlieferten Grabschrift von 1493 (Nr. 257) und der Inschrift auf dem gleichzeitigen Totenschild (Nr. 256), indem auf diesem in einem Ausnahmefall auch die Todesart de geschoten wart angegeben wurde; als Nachsatz folgt die hier erstmals in Braunschweig nachgewiesene niederdeutsche Fürbitteformel dem Gott gnädig sy. Da insgesamt nur drei Totenschilde aus vorreformatorischer Zeit überliefert sind, lassen sich daraus keine Charakteristika der Textform erschließen.

4.3 Glockeninschriften

Die älteste erhaltene Glocke Braunschweigs, die möglicherweise noch aus dem 13. Jahrhundert stammt, ist die Drei-Königs-Glocke in der Martinikirche (Nr. 27). Sie trägt als Umschrift nur einen Hexameter, der die Gaben der Hll. Drei Könige nennt, jedoch keine Datierung. Undatiert ist sonst nur noch eine der erhaltenen Glocken Braunschweigs, die Glocke Blasius minimus (Nr. 270) im Dom, wohl aus dem 15. Jahrhundert, die wegen ihres fehlenden Datums im 19. Jahrhundert gelegentlich in die Zeit Heinrichs des Löwen datiert wurde. Eine andere frühe Glocke von 1335 (Nr. 30) ist in der Magnikirche erhalten. Unterhalb der beziehungsvoll auf den hl. Magnus gereimten Hexameter-Schulterinschrift ist das Datum eingeritzt. In der Folgezeit bis ins 16. Jahrhundert wird das Datum des Gusses immer am Anfang oder am Ende der einzeiligen Glockeninschriften eingefügt. 1467 ist erstmals eine Meisterinschrift (Nr. 80) gegeben, jedoch konnte der Glockengießer nicht nachgewiesen werden191). Dagegen stammt Hans Beddinck, der 1489 eine Glocke der Michaeliskirche (Nr. 237) signierte, aus einer der bekannten Glockengießerfamilien des Herzogtums Braunschweig192). 1416 wurde in Braunschweig erstmals der als [Druckseite LI] Glockengebet sehr verbreitete Spruch o rex glorie veni nobis cum pace auf einer Glocke der Magnikirche angebracht (Nr. 87). Er ist 1438 noch einmal als Glockenspruch überliefert (Nr. 114), danach erscheint er erst wieder auf zwei 1487 (Nr. 226) und 1498 (Nr. 266) von Heinrich Menten d. Ä. gegossenen Glocken. Man wird jedoch davon ausgehen können, daß es in Braunschweig wie andernorts zahlreiche Glocken mit dieser Inschrift gab193). Heinrich Menten d. J. setzte auf seine signierte und mit 1512 datierte Bernward-Glocke der Katharinenkirche (Nr. 347) einen niederdeutschen Reimvers, der die Widmung der Glocke an den hl. Bernward und den Namen des Gießers nannte. Es ist die erste bekannte deutsche Glockeninschrift in Braunschweig.

Gegenüber den gebräuchlichen Glockensprüchen der heimischen Glockengießer sind die in jeweils zwei Distichen gefaßten Inschriften auf den drei 1502 gegossenen Glocken (Nr. 308, 309, 310) Gerdt Wous aus Kampen von hohem Anspruch. Das erste Distichon nennt im Hexameter jeweils den Namen des Heiligen und der ihm geweihten Glocke sowie im Pentameter deren heilsame Eigenschaften. Im zweiten Distichon folgt zunächst das Datum, dann die Nennung des Meisters. Es ist bekannt, daß Gerdt Wou nicht nur auf die Gestaltung der stets einzeiligen und in der Buchstabenverteilung sehr ausgeglichen geformten Inschrift große Sorgfalt verwandte, sondern auch auf die sprachliche Fassung der Verse Wert legte194). Charakteristisch waren dabei besonders die variierenden Formen des letzten Verses, der Künstlerinschrift195). Gerdt Wou ist jedoch in Braunschweig bei der Inschrift der Johannes-Baptista-Glocke von diesem Schema abgewichen und setzte statt seines Namens den Auftraggeber, das Braunschweiger Stift, ein: Innovat ecclesia tres pia dulcisonas. Die Betonung des Wohlklangs der Glocken fehlt auch in anderen Glockeninschriften Gerdt Wous selten196).

Die Glockeninschriften Heinrichs von Kampen, eines Schülers Gerdt Wous, der 1506 in Braunschweig sieben Glocken für das Domgeläut goß (Nr. 320-326), sind textlich nicht auf gleichem Niveau. Zwar gelingt es ihm, Namen und Eigenschaften seiner Glocken in einen Hexameter zu fassen, jedoch ist nur bei der größten Glocke Anna der Versuch gemacht worden, auch die Datierung und den Gießernamen noch rhythmisch auszudrücken. Bei den nachfolgenden kleineren Glocken wird auf einen zweiten Vers verzichtet und eine schlichte gleichbleibende Form der Datierung und Namensnennung gefunden. Heinrich von Kampen stand in Braunschweig offenbar unter dem Zwang, das Vorbild seines Meisters, das dieser durch die drei großen Glocken hinterlassen hatte, auch inschriftlich erreichen zu müssen. Seine späteren, zumeist niederdeutschen Glockeninschriften sind freier gefaßt und origineller197), wie sich auch schon in den Schmuckformen seiner Braunschweiger Glocken ein weniger strenger Stil ankündigte.

Zitationshinweis:

DI 35,  Stadt Braunschweig I, Einleitung, 4. Sprachliche Form und Thematik der Inschriften (Andrea Boockmann), in: inschriften.net,  urn:nbn:de:0238-di035g005e004.

  1. Mack, 1952 (wie Anm. 43), S. 206-212. »
  2. Auf das im Vergleich zu den Ergebnissen der bereits edierten Bestände frühe Vorkommen volkssprachiger Inschriften in Braunschweig ist 1988 auf der Fachtagung für mittelalterliche und neuzeitliche Epigraphik in Graz hingewiesen worden: Christine Wulf, Versuch einer Typologie der deutschsprachigen Inschriften, in: Epigraphik 1988 (wie Anm. 130), S. 127-137, hier S. 131. Hier wie auch bei Renate Neumüllers-Klauser, Frühe deutschsprachige Inschriften, in: Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter 1100-1500. Regensburger Colloquium 1988, hg. von Nikolaus Henkel/Nigel F. Palmer, Tübingen 1992, S. 178-198, bes. S. 181, werden als Inschriftentypen speziell die Bau-, Künstler- und Stifterinschriften als Beispiele früher Verwendung der Volkssprache genannt. Dem entsprechen die Braunschweiger Bestände aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Eine niederdeutsche Künstlerinschrift ist jedoch nicht nachgewiesen. »
  3. Mack, 1952 (wie Anm. 43), S. 206. »
  4. Inschriften der Stadt Hameln, bearb. von Christine Wulf, Wiesbaden 1989 (Die Deutschen Inschriften, Bd. 28), S. XXVIII»
  5. Vgl. Fricke (wie Anm. 126), Abb. T 18, 96a, 99b, 102b, 106a, 105d. »
  6. Vgl. Nr. 104 [1432], Nr. 112 [1437], Nr. 138 [1454], Nr. 171 [1469]. (In eckigen Klammern jeweils das Jahr der Entstehung). »
  7. Vgl. Nr. 81 [1407], Nr. 105 [1432], Nr. 130 [1450], Nr. 190 [1489] erhalten, Nr. 247 [1490], Nr. 339 [1510], Nr. 345 [1511]. »
  8. Vgl. Nr. 105 [1432], Nr. 263 [1496], Nr. 405 [1526]. »
  9. Vgl. Nr. 152 [1464/1468/1469], Nr. 167 [1469], Nr. 252 [1491]. »
  10. Vgl. Nr. 124 [1447], Nr. 125 [1447], Nr. 131 [1451], Nr. 168 [1469], Nr. 219 [1483], Nr. 181 [1504]. »
  11. Vgl. Nr. 123 [1447], Nr. 139 [1454], Nr. 145 [1461], Nr. 242 [1490]. »
  12. Vgl. Nr. 153 [1466]. »
  13. Vgl. Nr. 159 [1467]. »
  14. Vgl. Nr. 218 [1483]. »
  15. Vgl. Nr. 260 [1495], Nr. 383 [1523]. »
  16. Vgl. Nr. 117 [1440], Nr. 248 [1490], Nr. 355 [1514]. »
  17. Mack, 1952 (wie Anm. 43), S. 218f. Vgl. den sehr ähnlichen Wortlaut einer Hamelner Hausinschrift aus der Mitte des 16. Jahrhunderts: DI 28 (Hameln; wie Anm. 173), Nr. 52a, S. 133. »
  18. Ebd. S.XXIX; Mack, 1952 (wie Anm. 43), S. 219f. »
  19. Vgl. dagegen DI 26 (Osnabrück; wie Anm. 157), S. XVIIIf. »
  20. S.o. S. XXII. »
  21. Als Beispiel für ein gleichermaßen schlichtes Formular der Grabschriften eines Dom- bzw. Stiftsklerus könnten die Inschriften auf den Grabplatten der Mitglieder des Aachener Stiftskapitels herangezogen werden; vgl. Die Inschriften des Aachener Doms, bearb. von Helga Giersiepen, Wiesbaden 1992 (Die Deutschen Inschriften, Bd. 31), S. XXIXf. »
  22. S.o., S. XLIIIf. »
  23. Die Vermutung von Pfeifer, 1922 (wie Anm. 162), S. 26, daß es sich um einen Nachfolger aus der Familie der rheinischen Glockengießer Sifride handeln könnte, muß nach der neueren Forschung als unrichtig gelten. Vgl. Jörg Poettgen, Magister Sifride. Ein Kölner Glockengießer des 14. Jahrhunderts, in: Jb. des Kölnischen Geschichtsvereins 58, 1987, S. 35-66. »
  24. Hans Pfeifer, Glockengießergeschlechter im Lande Braunschweig, Braunschweig 1927, S. 7-9. »
  25. Vgl. Margarete Schilling, Glocken. Gestalt, Klang und Zier, München 1988, S. 134, die ihn als den „wohl verbreitetsten Glockenspruch“ ansieht. »
  26. Ebd., S. 28. »
  27. Claus Peter, Die Glocken des Meisters Gherardus de Wou - musikalische Vorbilder des Frankfurter Domgeläutes von 1877, in: Frankfurter Glockenbuch, hg. von Konrad Bund, Frankfurt/M. 1986 (Mitteilungen aus dem Frankfurter Stadtarchiv, Bd. 4), S. 355-405, hier S. 374. »
  28. Ebd., S. 373. »