Die Inschriften der Stadt Braunschweig bis 1528

5. Schriftformen

5.1 Kapitalis und romanische Majuskel

Da sich die frühen, bis etwa 1200 datierten Inschriften dieses Bandes mit einer Ausnahme (Nr. 4) auf den sakralen Goldschmiedewerken des Welfenschatzes befinden, dessen Zusammensetzung aus Stücken verschiedener Provenienz kaum die Bezeichnung als Braunschweiger Inschriften zuläßt, kann nur jeweils die Schriftform einzelner Stücke bestimmt werden. Eine chronologisch fortschreitende Schriftentwicklung analog der seit längerer Zeit gültigen kunsthistorischen Datierung der Stücke ist nicht abzuleiten. So zeigen jüngere Stücke des Braunschweiger Stiftsschatzes aufgrund ihrer Herstellungsmodalitäten ältere Schriftformen als z.B. die beiden ersten Nummern dieses Bandes, die Stabkreuze der Gräfin Gerdrud aus der ersten Hälfte bzw. der Mitte des 11. Jahrhunderts. Hier sind bereits einzelne unziale Buchstabenformen zwischen die sonst durchgehend breiten weit auseinanderstehenden Kapitalisformen gesetzt. Vier jüngere Beispiele aus dem 11. und 12. Jahrhundert weisen noch eine nahezu reine Kapitalis auf, wofür unterschiedliche Gründe der Provenienz und der Schriftüberlieferung maßgeblich waren. Das früheste, die Bleitafel aus dem Sarkophag der Brunonengräfin Gerdrud (Nr. 4), nimmt im [Druckseite LII] Textformular eine seit dem Anfang des 8. Jahrhunderts gebräuchliche Grabschrift wieder auf. Auch die in einer reinen Kapitalis ausgeführte Inschrift läßt den Schluß auf ein älteres Vorbild zu.

Das Welfenkreuz (Nr. 6) zeigt auf den hochrechteckigen Schrifttäfelchen der Kreuzarme hohe, schlanke Kapitalisformen mit kurzen Querbalken und einem spitzovalen O, auf den querrechteckigen Täfelchen des oberen und unteren Kreuzstammes jedoch, auf der die Schrift nicht aus Platzgründen gedrängt ist, eine breitere Kapitalis ohne Verschränkungen oder Ligaturen. Die kunsthistorische Datierung auf die Mitte bzw. die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts kann in diesem Falle durch eine schriftgeschichtliche Einordnung bestätigt werden. Deutlich jünger sind die Schriftformen auf dem Adelvoldus-Tragaltar (Nr. 7). O, C, P und D beanspruchen in voluminöser Ausdehnung Raum, so daß bei der ausgeglichenen Verteilung der Buchstaben auf der oberen Platte des Altars auch zwischen die schmaleren Formen von E und I weite Spatien gefügt sind. Die Inschrift weist eine Ligatur von L und V im Namen des Stifters auf, die über die urkundlich überlieferte Form Atheloldus Zweifel aufkommen läßt200).

Das späteste Beispiel einer überwiegend in Kapitalis ausgeführten Inschrift findet sich auf den aus Walroßzahn geschnitzten Schriftbändern am Kuppelreliquiar (Nr. 18). Während das gravierte, nieliierte Schriftband um die Plattform des Tambours eine breit und dekorativ gravierte Kapitalis zeigt, sind die gedrängten Schriftformen auf den Spruchbändern der darunter stehenden Propheten mit zahlreichen Ligaturen, Enklaven und übergesetzten Kleinbuchstaben versehen. Einzelne hohe, eckige Formen bestätigen das archaisierende Schriftbild, das offenbar über Generationen tradierte handwerkliche Muster aufnimmt, ohne die zeitgenössische Entwicklung der Schriftformen zu berücksichtigen201).

Die in der romanischen Majuskel ausgeführten Inschriften auf den frühen Goldschmiedewerken des Welfenschatzes sind mit unzialen Buchstaben als Schmuckformen der Schrift durchsetzt. Das sind auf den beiden Gerdrudis-Kreuzen (Nr. 1, 2) die Buchstaben E, H, und M. Der Tragaltar der Gräfin Gerdrud (Nr. 3) zeigt auf der umlaufenden Schrift der Deckplatte regelmäßige, gestreckte Kapitalisformen, es findet sich nur je ein rundes E und ein eingerolltes G. Dagegen sind die Namensbeischriften der Heiligen auf der linken Schmalseite, die als Tituli auf die Arkadenbögen gesetzt sind, in gerundeten Schmuckformen mit keilförmigen, zum Teil mit Sporen versehenen Endungen gestaltet.

In epigraphischer Hinsicht besteht kein Zusammenhang zwischen den Schriftformen der beiden Kreuze und denen des Tragaltars. Aber auch zur Reliquien- und Stifterinschrift auf der Standfläche des Armreliquiars des hl. Blasius (Nr. 5) ist keine Verbindung herzustellen. Deren Schwellungen an Hasten und Bögen sowie betonte, z. T. gerundete Sporen unterscheiden sich von den getriebenen Schriftformen auf den beiden Kreuzen und den ornamentalen Zierformen des Tragaltars auf der Wandung. Als Merkmal einer möglicherweise eher an den Auszeichnungsschriften orientierten Buchschrift erscheint besonders das zweimal vorkommende unziale M, dessen Vorderteil zum O geschlossen ist. Seine Verwendung in der Epigraphik wird gewöhnlich nicht vor 1140 angenommen202). Als Stifterinnen kommen jedoch nur entweder die ältere Gräfin Gerdrud († 1077) oder ihre Enkelin Gerthrud († 1117) in Frage. Da auch stilkritische Gründe für eine Herstellung des Armreliquiars spätestens im letzten Viertel des 11. Jahrhunderts sprechen, sollte anhand dieses Beispiels mit einer gelegentlich auch vor 1140 auftretenden frühen Form des o-förmig geschlossenen M gerechnet werden. Die gleiche Frage der Schriftdatierung gilt auch für den Tragaltar mit den getriebenen Silberfiguren (Nr. 8). Auch hier ist, wie am Blasius-Armreliquiar, das vorne zur Rundung geschlossene M neben dem spitzen M früher zu datieren als bisher angenommen. Als Übergangsformen von der romanischen zur gotischen Majuskel erweisen sich die Reliquien- und Stifterinschriften auf den Standflächen der Armreliquiare der Hll. Theodorus und Innocentius (Nr. 15, 16). Hier sind E, M, H und D als unziale Formen sowie ein pseudounziales A vertreten. Die doppelkonturig ausgeführten, zum Teil überbreiten Hasten und Schwellungen, die spitz ausschwingenden Sporen und unter die Zeile bzw. unter den folgenden Buchstaben verlängerten Ausläufer von R und H, dazu die durch haarfeine Striche fast geschlossenen Formen von E und C in der Reliquieninschrift könnten beide Armreliquiare in das späte 12. Jahrhundert verweisen. Sie wären dann unter die letzten Stiftungen Heinrichs des Löwen einzuord-[Druckseite LIII]-nen. Als romanische Majuskel mit einer rätselhaften unzialen Form ist die Meisterinschrift auf dem Imervard-Kruzifix (Nr. 21) aus dem Ende des 12. Jahrhunderts anzusehen. Das runde M, dessen mittlere Haste nur nach innen gerundet, jedoch nicht zum O geschlossen ist, wurde bereits im 19. Jahrhundert als ein um einen Viertelkreis gedrehtes G gelesen203). Auch das im Unterteil durchstochene C ist ungewöhnlich.

Als Beispiel für die Vermischung von spitzen und runden Buchstaben in besonders phantasievollen, die Schriftkunst des späten 12. Jahrhunderts ausschöpfenden Formen kann die um das Dachgesims des Walpurgisschreins (Nr. 10) umlaufende gravierte Versinschrift gelten. Außer den spitzen Formen I, L, N, T und V, die dreieckig verdickte Schaftenden mit spitz abstehenden Sporen haben, ist fast jeder Buchstabe verschieden gestaltet. So wechselt das A mit doppeltem Querstrich mit einem A mit gebrochenem Mittelbalken ab. Besonders abwechslungsreich ist die Cauda des R in gelegentlich rhombenförmiger Schwellung und in einer zwei- oder dreiteiligen Blattranke auslaufend gestaltet, zudem ist der linke Schaft des R unten mit einem dornartigen Sporn verziert. Die gleichen Sporen sind auch oben und unten in das mit starken Schwellungen fast runde Q gesetzt. Das spitze M ist in ungewöhnlicher Weise in seinem vorderen Schaft S-förmig geschweift. Das S ist nach links, also gegen die Richtung der Schrift geneigt. Im Charakter der Schrift wird der Wunsch nach Auflösung der Kapitalisformen sichtbar. Eine strengere, gerade umgekehrt größte Regelmäßigkeit anstrebende romanische Majuskel befindet sich auf den kreisförmigen Umschriften der Bernward-Patene (Nr. 20)204). Als Übergangsform zur gotischen Majuskel könnte die sogenannte Künstlerinschrift im Braunschweiger Dom (Nr. 24) angesehen werden, wenn man den jetzigen Zustand, der nach einer Photographie aus den 30er Jahren dieses Jahrhunderts hergestellt wurde, als annähernd ursprünglich annehmen will.

5.2 Gotische Majuskel

Die gotische Majuskel ist in vollendeten Formen bereits im Jahr 1188 auf der Reliquienpyxis (Nr. 19) des Marienaltars im Dom vorhanden. A, E, H, T und D erscheinen zwar auch als spitze Buchstaben, es überwiegen aber die gerundeten, bei E und C schon abgeschlossenen Formen. Das A steht mit senkrechtem rechten Stützschaft und überstehendem Deckstrich schon auf dem Übergang zum pseudounzialen A. Die wahrscheinlich in Hildesheim hergestellte Inschrift ist schriftgeschichtlich als eine der frühesten Formen der gotischen Majuskel angesehen worden205).

Für die Schriftformen der Spruchbänder in den Wandmalereien (Nr. 23) des Domes, die wie diese wohl in das zweite Viertel des 13. Jahrhunderts zu datieren sind, gilt der gleiche Vorbehalt wie für die oben schon genannte Künstlerinschrift. Sichtbar ist heute eine schlanke, in den Schwellungen gelegentlich stärker betonte Majuskel. Auffällig ist, daß wohl das E durch einen senkrechten Haarstrich abgeschlossen ist, nicht aber, wie zu erwarten wäre, gleichfalls das C. Da inschriftliche Zeugnisse für das 13. Jahrhundert in Braunschweig fast gänzlich fehlen, ist eine spezifische Schriftentwicklung in diesem Zeitraum nicht zu verfolgen. Am Ende des 13. Jahrhunderts steht, eingemauert in die nördliche Eingangskapelle von St. Ägidien, der Gedenkstein für die Stiftungen des Ratsherrn Daniel von Pattenhusen (Nr. 28). Hier sind in die voll ausgebildeten Formen der gotischen Majuskel als bewußt eingesetztes Mittel dekorativer Schriftgestaltung mehrere kapitale Buchstaben eingefügt. Dies wirkt besonders auffällig bei einer Verdoppelung oder Häufung des gleichen Buchstabens im Wort (SVUM, CVIUS). Die am Ende des 13. Jahrhunderts zur Verfügung stehenden Schriftformen werden auch mit zwei verschiedenen Formen des C und dreimal variierendem A ausgeschöpft.

Im 14. Jahrhundert fand die gotische Majuskel in einigen Glockeninschriften (Nr. 27, 30, 80) Verwendung. Sie wurde von den Klosterfrauen des Kreuzklosters in Teppiche gestickt (Nr. 35, 36, 43, 65, 66). Weiterhin erscheint sie als herzogliche Bauinschrift (Nr. 33) über dem Portal des südlich erweiterten Seitenschiffes des Domes und auf einem Plenar (Nr. 32), das derselbe Herzog der Braunschweiger Kirche stiftete. Trotz des grundsätzlichen Unterschieds zwischen einer Steinschrift und der Gravur auf einem Goldschmiedewerk kann hier, wohl durch den gemeinsamen Herstellungsort Braunschweig, jedoch auch mit der verhältnismäßigen Gleichzeitigkeit der Schriftformen, eine gewisse Zugehörigkeit beider Inschriften zueinander festgestellt werden. In die Zeit Herzog Ottos des Milden (etwa 1292-1344) dürfte, nach der Zeichnung einer im 19. Jahrhundert überlieferten Inschriftenplatte im Sockel des Braunschweiger Löwen, auch die erste Restaurierung des [Druckseite LIV] Löwensteins und die Installierung einer mit einer Inschrift versehenen neuen Standplatte für den Löwen fallen (Nr. 410).

Charakteristisch für die Spätform der gotischen Majuskel sind die Klerikergrabplatten im Dom und in einigen Braunschweiger Stadtkirchen (Nr. 34, 40, 45, 50, 56, 60). Diese Schriftform wurde bis 1394, also noch in einer Zeit, als die städtischen Bau- und Gedenkinschriften sich längst der gotischen Minuskel bedienten, als angemessen traditionell empfunden. Von 1349 stammt die erste noch erhaltene Grabplatte (Nr. 34), die allein durch die besondere Sorgfalt und Anlage der Schrift bemerkenswert ist. Die Bögen von C, E, D, G und O sind durch starke Schwellungen betont. Alle Schäfte sowie die Deckstriche von A und T laufen in Sporen aus. Das besonders im Namen viermal vorkommende L ist statt mit einem Querbalken mit einem spitzwinkligen Dreieck versehen. Nur T kommt sowohl in kapitaler Form wie auch mit sichelförmigen Bogen vor. E und C sind durch Abschlußstrich geschlossen, ebenso das M durch einen Basisstrich. Die beiden bogenförmig geschwungenen X des Datums entsprechen dem monumentalen Schriftcharakter, wie er auch in der Bauinschrift von 1346 (Nr. 33) am Südportal des Domes erscheint. Als einzige ihrer Art erhalten ist die Messinggrabplatte des Johann von Rinteln von 1376 in der Petrikirche (Nr. 56). Die schlanken, eher ovalen, jedoch mit breiten Schwellungen versehenen Majuskelformen von 1349 und 1376 unterscheiden sich in der Ausformung der Buchstaben kaum: E und C sind durch Haarstriche abgeschlossen, ebenso das M durch einen Abschlußstrich auf der Unterlinie. Bei ausladenden Schwellungen in der Buchstabenmitte werden jetzt Verzierungen mit Sporen an den Schaftenden angedeutet. Sie werden 1376 durch perlartig eingerollte Punkte markiert. Auch die nur als Abzeichnung kopial überlieferten Grabschriften in der gotischen Majuskel tradierten offensichtlich die seit der Mitte des Jahrhunderts festgeschriebenen Formen, ohne sie weiterzuentwickeln. Dies bestätigt sich an einer Frauengrabplatte von etwa 1400 (Nr. 67), deren Umschrift die gleichen Formen zeigt, wie sie seit der Mitte des 14. Jahrhunderts bei den Grabschriften verwendet wurden.

5.3 Gotische Minuskel

Diese Schriftart ist von der Mitte des 14. Jahrhunderts an im Braunschweiger Stadtbild vorherrschend. Sie wurde erstmals 1358 auf der Grabplatte einer stadtadeligen Familie (Nr. 46) verwendet und kam seitdem auch auf bürgerlichen Grabmälern zur Geltung. Die Stadtregierung bediente sich dieser Schriftform besonders bei Inschriften auf Gebäuden, Brücken, an Kirchen und an der Stadtbefestigung. Bemerkenswert ist dabei die Verbindung mit der niederdeutschen Sprache206), die zunächst (Nr. 83) auch mit lateinischen Bibelzitaten kombiniert werden konnte, spätestens ab 1430 aber allein maßgebend wurde207). Die gotische Minuskel zeigt sich schon in ihrem ersten Vorkommen - durch Oberlängen bei l und d, besonders aber in den in Braunschweig im 14. Jahrhundert charakteristischen, nach links abknickenden nach oben verlängerten Hasten des v und w - dem Drei- oder Vierlinienschema angenähert. Sind bei dem oben genannten Velstede-Grabstein von 1358 (Nr. 46) die Unterlängen noch weitgehend auf die untere Zeile gesetzt, so ist doch schon die 1367 (Nr. 48) auf denselben zweitverwendeten Grabstein gemeißelte Meldung von der Schlacht bei Dinklar mit mindestens zwei deutlichen Unterlängen von h und p versehen. Einzelne Elemente der Majuskel sind auf dem älteren Grabstein im M des Datums und im kapitalen S in S(ancti) noch vorhanden. Ähnlich ist auch in einer jüngeren Grabinschrift von 1368 (Nr. 49) das niederdeutsche S(unte) noch mit einem sporenverzierten Majuskel-S geschrieben.

Der Majuskel entnommen sind in derselben Inschrift ferner zwei Versalien, die die Absatzgliederung der Grabschrift bezeichnen. Im 14. und in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts sind die Wortzwischenräume stets noch durch Punkte markiert, so daß auch bei Grabschriften, die im Schriftbild unausgeglichen wirken (Nr. 49), die Spationierung insgesamt einen ausgewogenen Eindruck herstellt (Nr. 52, 53, 76). Zwei einander im Schriftcharakter sehr ähnliche Bauinschriften von 1379 (Nr. 57) und 1388 (Nr. 59) lassen, anders als die aus verschiedenen Werkstätten stammenden Grabmäler208), eine einheitliche Gestaltung [Druckseite LV] der Formen erkennen. Nur die ältere Inschrift von 1379 beginnt mit einem Majuskel-N als Versalie, das sich in dem in Majuskeln ausgeführten Kreuztitulus des nebenstehenden Stifterbildes wiederholt. Das zweistöckige a ist durch einen nach links gebogenen Haarstrich geschlossen, dieselben feinen Striche schließen auch das e und sind bei der älteren Inschrift als Zierstriche bei r, s und x verwendet. Bei beiden Inschriften fallen die schon erwähnten nach links weisenden Hasten von v und w auf, jedoch nur bei der älteren Inschrift haben sie noch Oberlängencharakter. Das g, das bei der Inschrift von 1379 noch auf der Zeile aufsitzt, ist 1388 schon mit einer Unterlänge versehen. Bei gleichem Schrifttyp, einer kräftig eingetieften und mit Farbe ausgefüllten Steinschrift, ist innerhalb weniger Jahre eine Schriftentwicklung festzustellen. Ähnliches läßt sich bei der Minuskel des 15. Jahrhunderts beobachten. Sie wird gleich nach 1400 schlanker, weniger monumental und gewinnt dadurch an Regelmäßigkeit (Nr. 72, 76, 95).

Ober- und Unterlängen sind jetzt gleichmäßig proportioniert, die Schaftbrechungen durch die gestreckte Form der Schäfte weiter auf die obere wie untere Linie verlegt. Noch bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts blieben Haarstriche besonders bei e, r, s und x beliebt (Nr. 72; Nr. 95, 111). Der Wegfall der worttrennenden Punkte wird erst seit der Mitte des 15. Jahrhunderts häufiger. Davon sind jedoch die Steinschriften auszunehmen. Während sich bei den Hausinschriften eine Wort- und Silbentrennung durch die Verteilung auf die Balken- oder Gebäudeteile von selbst ergab, und sich die gravierten und gemalten Inschriften eher schreibschriftlichen Vorlagen annäherten, blieben z.B. bei Grabinschriften die Worttrenner noch in traditioneller Weise bestehen. Dies betrifft in noch größerem Maße die Glockeninschriften.

In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wird die Schrift jetzt durch oben und unten aneinanderstoßende Quadrangeln zusammengedrängt, oft auch in einen Rahmen oder in Zeilen gefaßt (Nr. 72; Nr. 95; Nr. 123). Diese Entwicklung kommt vollends zum Ausdruck in den seit 1432 einsetzenden geschnitzten Hausinschriften. Die räumliche Beschränkung auf die Balkenköpfe oder die Flächen unterhalb der Treppenfriese bewirkte ein Zusammenrücken der Wörter und eine genormte Buchstabenhöhe. Durch eng aneinandergefügte, gebrochene Schäfte ließ sich ein gitterartiges Schriftbild erreichen, das besonders in der Datumszeile bevorzugt wurde (Nr. 232)209). Diese von den Maßen des Schwellbalkens bestimmte Gitterschrift wurde häufig durch eine Versalie A in Anno oder durch ein Majuskel-M der Jahreszahl unterbrochen; am Ende des 15. Jahrhunderts werden beide Buchstaben z.T. in die Ornamentik oder den Figurenschmuck einbezogen210). Während die geschnitzten Formen der Hausinschriften bis auf wenige Ausnahmen noch weit bis in das 16. Jahrhundert tradiert wurden und bis etwa 1480-1500 auch die Grabschriften und die Bauinschriften in der bevorzugten, engstehenden, schlanken Minuskel eingehauen wurden, wandelten sich die gemalten und gravierten Schriften am Ende des 15. Jahrhunderts. Die Schriftbänder der Braunschweiger Tafelaltäre (Nr. 215, 299, 327, auch Nr. 197) und zwei geritzte Stifterinschriften (Nr. 261, 301) unter zwei Kelchen folgen den Formen der zeitgenössischen Textura besonders auch in der Betonung bzw. farbigen Ausmalung der Versalien. Diese sind jedoch zumeist nicht mehr an den Formen der gotischen Majuskel orientiert, sondern den Vorlagen der Schreibschrift entnommen211). Neue Schriftelemente brachten die von Gerdt Wou und Heinrich von Kampen gegossenen Glocken nach Braunschweig. Sie hatten freilich keine Vorbildfunktion für Braunschweiger Inschriften. Als Abzeichnung überliefert ist eine Grabschrift aus dem Kreuzgang des Pauliner-Klosters für einen Hildesheimer Bürger und seine Frau von 1512 (Nr. 348) in frühhumanistischer Kapitalis, dem einzigen Beispiel dieser Schriftform vor der Reformation. Wenn seit dem frühen 18. Jahrhundert, der ersten Überlieferungsphase der Braunschweiger Inschriften, häufig die etwas geringschätzige Bezeichnung ‚Mönchsschrift‘ gebraucht wird, so sind damit alle Formen der gotischen Minuskel bis in das 16. Jahrhundert gemeint. Sie war die vorherrschende, ‚mittelalterliche‘ Schriftform.

Zitationshinweis:

DI 35,  Stadt Braunschweig I, Einleitung, 5. Schriftformen (Andrea Boockmann), in: inschriften.net,  urn:nbn:de:0238-di035g005e004.

  1. Vgl. Nr. 7, Fn. a. »
  2. So wurden in den Kölner Schnitzerwerkstätten charakteristische Muster und Vorlagen „über mehrere Generationen hinweg unverändert" übernommen; vgl. Kat. Ornamenta Ecclesiae 2 (wie Anm. 54), S. 414. »
  3. Vgl. Rudolf M. Kloos, Einführung in die Epigraphik des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Darmstadt 1980, S. 127; Wilhelm Berges/Hans Jürgen Rieckenberg, Die älteren Hildesheimer Inschriften bis zum Tode Bischof Hezilos († 1079). Von Wilhelm Berges (†); aus dem Nachlaß hg. und mit Nachträgen versehen von Hans Jürgen Rieckenberg, Göttingen 1983 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Klasse, 3. Folge, Nr. 131), S. 81.  »
  4. So Bethmann, 1861 (wie Anm. 1), S. 540; vgl. Nr. 21, Fn. a. »
  5. Vgl. Berges/Rieckenberg, 1983 (wie Anm. 202), S. 77f. »
  6. dazu Kloos (wie Anm.202), S. 131; Peter Rück, Die Schriften, in: Evangeliar, Kommentar 1989 (wie Anm. 47), S. 122-145, hier S. 153, Anm. 166. »
  7. Die gleiche Feststellung auch DI 26 (Osnabrück; wie Anm. 157), S. XXVII; vgl. auch die ebd., Anm. 88 angegebene Literatur. »
  8. Vgl. die Verbindung beider Sprachen, hier auch unterschiedlicher Schriftformen auf einem Grabstein von 1376 bei Renate Neumüllers-Klauser, Schrift und Sprache in Bau- und Künstlerinschriften, in: Karl Stackmann (Hg.), Deutsche Inschriften, Göttingen 1986 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Klasse, 3. Folge, Nr. 151), S. 62-81, hier S. 72; zur Verbindung von gotischer Minuskel und Volkssprache auch S. 79f. »
  9. Aus der Fertigung der Grabmäler in unterschiedlichen, möglicherweise nicht immer am Ort befindlichen Werkstätten könnten sich auch in Braunschweig Abweichungen im Schriftcharakter erklären lassen. Vgl. die Überlegungen dazu in: Die Inschriften der Stadt Fritzlar, bearb. von Theodor Niederquell, München 1974 (Die Deutschen Inschriften, Bd. 14), S. XXIII und DI 26 (Osnabrück; wie Anm. 157), S. XXVII»
  10. Fricke (wie Anm. 126), Taf. 102b. »
  11. Ebd., Taf. 99c, d, e. »
  12. Vgl. über den Einfluß der Textura und des frühen Buchdrucks auf die Formen der Minuskel im späten 15. und im 16. Jahrhundert: Die Inschriften des Landkreises Ludwigsburg, bearb. von Anneliese Seeliger-Zeiss/Hans Ulrich Schäfer, Wiesbaden 1986 (Die Deutschen Inschriften, Bd. 25), S. XLV»