Die Inschriften der Stadt Minden
2. Die Mindener Inschriften – Zeugen der Stadtgeschichte?
Das an einer Weserfurt und am Knotenpunkt verschiedener Fern- und Heereswege gelegene Minden wird erstmalig im Jahr 798 als Platz einer Heeresversammlung in den fränkischen Reichsannalen erwähnt. Bald darauf erhielt der von dem Kloster Fulda aus betreute Missionsbezirk an der mittleren Weser mit der Begründung einer Bischofskirche in Minden einen festen Sitz. Als erster Bischof von Minden läßt sich der Fuldaer Mönch Erchanbert nachweisen, der bereits Ende des 8. Jahrhunderts Bischof des Missionsbezirks war.1) Als Überreste der ältesten Mindener Bischofskirche konnten nach der Zerstörung des Domes im Zweiten Weltkrieg Fundamentreste eines rechteckigen, zum wahrscheinlich einschiffigen Langhaus hin abgeschnürten Chorraumes ergraben werden.2) Diese Fundamente werden auf den Beginn des 9. Jahrhunderts datiert. Das älteste Patrozinium des Domes war das Petruspatrozinium; die Reliquien des späteren Patrons Gorgonius gelangten vermutlich erst nach dem Dombrand im Jahr 947 nach Minden (vgl. Nr. 1).
Als ältester Siedlungskern Mindens wird die an der Weser gelegene Fischerstadt angesehen, deren Anfänge noch vor die Zeit der Bistumsgründung zurückgehen dürften.3) Die eigentliche Stadtentwicklung des späteren, südlich der Fischerstadt gelegenen Stadtkerns setzte vermutlich erst gegen Ende des 10. Jahrhunderts ein, gefördert durch die Verleihung des Markt-, Münz- und Zollrechts durch Kaiser Otto II. an Bischof Milo im Jahr 977. Aus dieser Zeit lassen sich Siedlungsspuren an der unteren Bäckerstraße nachweisen. Im 11. bis 13. Jahrhundert entwickelten sich in der an der Weser gelegenen Unterstadt und der westlich davon und deutlich höher gelegenen Oberstadt die üblichen städtischen Strukturen mit Rathaus, Markt, Kirchen und Klöstern.
Als älteste Mindener Pfarrkirche gilt St. Aegidien im Brühl, die Pfarrkirche der Fischerstadt, die bereits im 13. Jahrhundert in eine Kapelle umgewandelt und der Stiftskirche St. Johannis inkorporiert wurde. Spuren dieser Kirche haben sich bislang nicht gefunden, so daß sie nicht genauer lokalisiert werden kann. Um das Jahr 1000 wurde ein am Wittekindsberg gelegenes Benediktinerinnenkloster in die Oberstadt verlegt und die Klosterkirche St. Marien begründet. Etwa 25 Jahre später entstand – ebenfalls in der Oberstadt – das Chorherrenstift St. Martini. Als älteste Pfarrkirche der Stadt wurde in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts die am Markt gelegene, schon Anfang des 16. Jahrhunderts aufgehobene Kirche St. Johannis Baptistae erbaut. Im Jahr 1042 begründete Bischof Bruno auf dem Werder, einer Weserinsel, das Benediktinerkloster St. Mauritii, das aufgrund der unsicheren Lage und häufiger Überschwemmungen im Jahr 1434 in die Stadt an die Anfang des 13. Jahrhunderts gegründete Pfarrkirche St. Simeonis verlegt wurde. Um das Jahr 1200 wurde das Kollegiatstift St. Johannis Evangelistae eingerichtet. Mitte des 13. Jahrhunderts ließen sich die Dominikaner in Minden nieder und begründeten das Kloster St. Pauli. Daneben entstand eine ganze Anzahl von Kapellen, die keine Spuren im Stadtbild hinterlassen haben. Der Dombezirk mit den dort gelegenen Domkurien wurde im 11. oder 12. Jahrhundert mit einer Mauer umgeben und dadurch von der übrigen Stadt abgeteilt.
Das Rathaus stammte in seinem ältesten Teil aus der Zeit um 1200; es handelte sich dabei um einen einfachen Saalbau. Südlich davon wurde in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ein neuer Trakt errichtet, dessen Laubengang heute noch erhalten ist. Beide Teile waren durch einen Ostflügel miteinander verbunden.3) Im 13. Jahrhundert erfolgte der Bau einer die ganze Stadt umgebenden Mauer, mit der die bis ins 19. Jahrhundert hinein gültigen Grenzen der Stadt Minden festgelegt wurden – sieht man einmal von der außerhalb dieses Mauerrings liegenden Fischerstadt ab. Deren Einwohner nahmen zwar eine gewisse Sonderstellung innerhalb der Stadt ein, die sich in der Existenz eines eigenen Rates und der Führung eines eigenen Siegels ausdrückte, ansonsten hatten sie [Druckseite XIV] jedoch dieselben Bürgerrechte und -pflichten wie die innerhalb der Mauern Ansässigen.4) Eine Besonderheit stellt die ebenfalls im 13. Jahrhundert errichtete, bis zu acht Metern hohe Stützmauer zwischen Ober- und Unterstadt dar, für deren Erbauung der Schräghang zwischen dem oberen und unteren Plateau zum Teil abgetragen wurde. Diese Mauer hatte keinerlei militärische Befestigungsfunktionen und war auch nicht als trennendes Element zwischen Ober- und Unterstadt gedacht, die von vornherein eine verwaltungsmäßige Einheit bildeten. Für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt von besonderer Bedeutung war die Weserbrücke, die der Überlieferung zufolge in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts auch für Wagengespanne befahrbar gemacht wurde.
Der Bau der Stadtbefestigung und die Erweiterung des Rathauses sind Indizien dafür, daß Minden im 13. Jahrhundert dieselbe Entwicklung erfuhr wie andere wirtschaftlich erstarkende Städte auch. Die Macht des Bischofs als Stadtherr und seiner weltlichen Vertreter, des Vogtes und des Wichgrafen, wurde nach und nach durch das Anwachsen der bürgerlichen Bevölkerung und den Ausbau der bürgerlichen Selbstverwaltung zurückgedrängt. Kennzeichnend hierfür ist auch die im Jahr 1306 erfolgte Verlegung der bischöflichen Residenz nach Petershagen. Seit Beginn des 14. Jahrhunderts läßt sich ein Ratswahlkollegium, der Vierziger-Ausschuß, nachweisen. Aus ihm rekrutierten sich die Wahlmänner, die den zwölfköpfigen Rat mit dem Bürgermeister an der Spitze bestimmten.5) Der Ausbau der bürgerlichen Selbstverwaltung dokumentierte sich auch in der vom Mindener Rat betriebenen Außenpolitik, beispielsweise in dem Abschluß von Städtebündnissen zur Sicherung des Landfriedens. Minden gehörte nicht zum engeren Kreis der Hansestädte, beteiligte sich aber an der Beschickung von Hansetagen.6) Als es im Jahr 1405 zu inneren Unruhen, der sogenannten ‚Mindener Schicht’, kam, wurden die Städte Lübeck, Hamburg und Lüneburg vom Hansetag als Schiedsrichter bestimmt, um den in zwei verfeindete Parteien gespaltenen Rat zu versöhnen.7)
Die Verbindung der Stadt zur Hanse zeigte sich auch in der bürgerlichen Bebauung. Die bürgerliche Siedlung des 12. und 13. Jahrhunderts bestand nach den Befunden der archäologischen Untersuchungen überwiegend aus Holzbauten, an die Steinwerke angebaut sein konnten.7) Seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wurden neben den auch weiterhin gebauten Fachwerkhäusern zunehmend Ziegelbauten errichtet. Die Existenz einer städtischen Ziegelei, die das Material lieferte, läßt sich seit dem Jahr 1353 belegen.8) In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden in Minden etliche Bürgerhäuser aus Backstein errichtet, die dem Vorbild großer Hansestädte wie Lüneburg folgend mit Treppengiebeln versehen waren.9) Einen Eindruck von dem Aussehen dieser Häuser kann – abgesehen von Photographien der im 19. Jahrhundert abgerissenen oder im Zweiten Weltkrieg zerstörten Häuser – heute nur noch das Gebäude Papenmarkt 2 geben. Zu den Backsteinbauten traten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Steinbauten der Weserrenaissance hinzu, die die Besonderheit des Mindener Stadtbildes ausmachten, auch wenn man heute aufgrund der starken baulichen Überformung im 19. Jahrhundert nur noch spärliche Überreste dieser Gebäude vorfindet. Die zahlreichen überlieferten Fragmente dokumentieren ebenso wie die erhaltenen Häuser Hohnstr. 29 (heute Scharn 17, Kaufhaus Hagemeyer) und Bäckerstr. 45 einen gewissen Wohlstand der Mindener Oberschicht.
Parallel zu der Entwicklung der städtischen Bevölkerung und des bürgerlichen Wohnbaus verlief die Erweiterung der Mindener Kirchen. Der Dom, der im 10. Jahrhundert als Pfeilerbasilika mit dreitürmigem Westwerk errichtet worden war, erhielt nach einem Stadtbrand im Jahr 1062, von dem er schwer betroffen war, ein Querhaus und einen dreiseitig abgeschlossenen Chor. Mitte des 12. Jahrhunderts erhielt das Westwerk seine heutige Gestalt. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurden das Querhaus und der Chor erweitert, in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts das heutige Langhaus errichtet. Die Stiftskirche St. Johannis wurde im späten Mittelalter durch den [Druckseite XV] Abbruch der Seitenschiffe in einen Saalbau umgewandelt. Die Martinikirche und die Marienkirche wurden im 14. Jahrhundert zu Hallenkirchen umgebaut. Die Simeonskirche erfuhr nach einem Brand im Jahr 1305 bauliche Veränderungen und wurde im Jahr 1434 um einen großen Chor erweitert, der der im selben Jahr von dem Werder an die Simeonskirche umgesiedelten Klostergemeinschaft St. Mauritii als Klosterkirche dienen sollte.9) Westlich der Simeonskirche entstand das neue Klosterareal. Im Jahr 1465 erteilte Bischof Albert von Minden dem Kloster St. Mauritii die Genehmigung zur Errichtung eines eigenen Oratoriums neben der Pfarrkirche St. Simeonis,10) das in der Folgezeit als die heute noch stehende Halle mit Seitenschiff auf der Nordseite und langgestrecktem Chor errichtet wurde.
Zur Zeit der Verlegung des Klosters St. Mauritii in die Stadt gab es hier – wie in anderen Klöstern auch – Mißstände, denen man mit einer Reformierung zu begegnen versuchte. Der Bursfelder Abt Johannes Hagen bemühte sich seit dem Jahr 1446 darum, die Mönche von St. Mauritii zur strengeren Beachtung der Benediktinerregel und zur Einhaltung der Vita communis zu veranlassen. Aber erst im Jahr 1451 gelang es ihm zusammen mit dem Kardinallegaten Nicolaus von Kues, der sich für kurze Zeit in Minden aufhielt, die Ämter des Abtes, des Priors sowie des Predigers und Beichtvaters neu zu besetzen. Wegen der Amtsenthebungen kam es zu einem Aufruhr innerhalb des Klosters (vgl. Nr. 53), der erst im Jahr 1457 beigelegt werden konnte. 1458 trat das Kloster der Bursfelder Kongregation bei. Inwieweit die Bursfelder Reform tatsächlich eine Rückbesinnung auf die Benediktinerregel bei den Mönchen von St. Mauritii bewirkte, läßt sich nicht beurteilen. Im Jahr 1529, dem Jahr, in dem sich die Reformation in Minden durchsetzte, wurden alle Mönche des Klosters vertrieben; sie konnten erst 1547 nach Minden zurückkehren.11)
Über die Anfänge der Reformation in der Stadt Minden ist nur wenig bekannt.11) Einer der ersten Geistlichen, die sich das lutherische Gedankengut zu eigen machten, war der Pfarrer an St. Marien, Albert Nisius (Nr. 84), der sich bereits 1526 für seine lutherische Überzeugung vor dem Administrator des Bistums Minden, Franz von Braunschweig-Wolfenbüttel, zu verantworten hatte. Auch der zweite Geistliche an St. Marien, Johann Marienking, war der lutherischen Lehre zugeneigt. Trotzdem traten die beiden Geistlichen bei der Durchsetzung der Reformation in Minden nicht als Protagonisten hervor. Wie in anderen Städten auch fand das reformatorische Gedankengut zunächst vor allem bei den Angehörigen der kleineren Ämter und der bürgerlichen Unterschicht Anklang. Den Anstoß zum Handeln gab die Gefangennahme des Predigers von St. Simeonis, Heinrich Traphagen, der 1529 wegen seines Bekenntnisses zur lutherischen Lehre vom Rat gefangengesetzt worden war. Er wurde von der Bürgerschaft befreit und wieder in sein Amt eingesetzt. Die Mindener Bürger wählten einen 36köpfigen Aussschuß, der den Hofprediger der Grafen von Hoya, Nicolaus Krage, als Reformator nach Minden holte. Die von Krage verfaßte Kirchenordnung trat im Februar 1530 in Kraft. Damit waren die drei Pfarrkirchen St. Martini, St. Marien und St. Simeonis lutherisch. Die Mönche von St. Mauritii, die am alten Glauben festhielten, waren bereits 1529 aus der Stadt vertrieben worden; das Dominikanerkloster St. Pauli wurde geschlossen und in eine Lateinschule umgewandelt. Die Kanoniker der Stifte St. Johannis und des Domkapitels sowie ein Teil der Stiftsherren an St. Martini weigerten sich ebenfalls, die neue Lehre zu übernehmen. Sie konnten mit Einverständnis des Rates auch weiterhin die katholische Glaubensausübung praktizieren. Im Jahr 1535 schloß der Mindener Rat mit dem Bischof Franz von Waldeck einen Vertrag, wonach dem Domkapitel die ungehinderte Feier des katholischen Gottesdienstes im Dom zugesichert wurde.
Mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 wurden diese kirchlichen Verhältnisse festgeschrieben, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts – zum Teil bis heute – Gültigkeit behielten. Nur während des Dreißigjährigen Krieges kamen die drei Pfarrkirchen in den Jahren 1629 bis 1634 vorübergehend wieder in die Hand des katholischen Klerus, als der Koadjutor Franz Wilhelm von [Druckseite XVI] Wartenberg mit Unterstützung der kaiserlichen Partei den Versuch einer Gegenreformation im Bistum Minden unternahm. Nach der Einnahme der Stadt Minden durch die Schweden wurden alle drei Kirchen wieder evangelisch.12) Der Westfälische Frieden bedeutete das Ende des Fürstbistums Minden, dessen Territorium säkularisiert und dem Kurfürsten von Brandenburg zugesprochen wurde. Die durch den Dreißigjährigen Krieg verarmte Stadt, die die Familien der Oberschicht schon während des Krieges verlassen hatten,13) wurde in ihrer Selbstverwaltung stark eingeschränkt. Der brandenburgische Kurfürst richtete in Minden eine Garnison ein. Im Jahr 1669 wurde der Sitz der brandenburgischen Regierung vom Schloß Petershagen in die Stadt Minden verlegt; die Regierungsbehörden brachte man in dem ehemaligen bischöflichen Hof unter. Minden wurde damit für die folgenden Jahrhunderte zu einer preußischen Festung und zu einem preußischen Verwaltungssitz. Die Stadt verlor dadurch ihren spezifischen Charakter als eine sich selbst verwaltende Kommune mit einer selbstbewußten städtischen Oberschicht, deren Bauten im 16. Jahrhundert das Bild Mindens als Stadt der Weserrenaissance geprägt hatten. Diese Zeugen bürgerlichen Selbstbewußtseins und Repräsentationsbedürfnisses verschwanden durch Umbau oder Abriß nach und nach aus dem Stadtbild und machten einer eher nüchternen und sparsameren Bauweise Platz, die letztlich noch heute das äußere Erscheinungsbild Mindens bestimmt. Daß in einer Stadt, in der nun – in der Mehrzahl von außerhalb kommende – preußische Beamte und Militärs die neue Oberschicht bildeten, kaum noch ein Interesse an der Bewahrung des lokalen Kulturguts vergangener Zeiten vorhanden war, mag zwar erklärlich sein, hat aber nicht nur im Hinblick auf den Umfang dieses Inschriftenbandes fatale Folgen.
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Ein Bestand von 211 bis zum Jahr 1650 überlieferten Inschriften ist für eine in karolingischer Zeit gegründete Bischofsstadt auffallend gering.13) Die bereits angedeuteten Gründe hierfür werden im folgenden Kapitel, das sich mit der Inschriftenüberlieferung befaßt, noch eingehend behandelt. Zunächst geht es um die Frage, inwieweit 211 zufällig im Original erhaltene oder abschriftlich überlieferte Inschriften repräsentative Zeugen der Stadtgeschichte sein können. Dabei kommen für unterschiedliche Kapitel der Stadtgeschichte verschiedene Typen von Inschriften in Betracht. So können im Idealfall Bauinschriften über die Errichtung öffentlicher Gebäude und Kirchen Auskunft geben, Hausinschriften über die Erbauung von Bürgerhäusern und über deren Besitzer. Grabinschriften können von dem Klerus und der bürgerlichen Oberschicht einer Stadt erzählen und einen Eindruck von den eine Stadt dominierenden Personenkreisen geben.
In Entsprechung zur Stadtgeschichte bilden den Anfang der Mindener Inschriftenüberlieferung Stücke aus dem Dom und dem Domschatz, im wesentlichen Gegenstände der Kirchenausstattung, unter denen vor allem das Mindener Bronzekruzifix (Nr. 8) und ein – nicht mehr im Original erhaltener – Bildteppich (Nr. 10) zu den inhaltlichen Schwerpunkten dieses Bandes gehören. Zu den Inschriften aus dem Dom treten bis zum Ende des 12. Jahrhunderts drei Grabplatten (Nr. 9, Nr. 11 u. Nr. 14) hinzu, mit denen die Stiftskirche St. Martini und das Kloster St. Mauritii in den Blick der Inschriften kommen. Von besonderer Bedeutung sind die beiden Stücke Nr. 11 und Nr. 14, weil es sich um Stiftergrabdenkmäler handelt, die an die Bischöfe Eilbert und Sigebert als Gründer von St. Martini sowie Bruno als Gründer des Klosters St. Mauritii erinnern sollten. Als einzige der Mindener Kirchen hat St. Martini eine – aus dem Jahr 1338 stammende – Bauinschrift (Nr. 25) aufzuweisen, die den Beginn des Umbaus zur dreischiffigen Hallenkirche dokumentiert. Die Inschrift ist das einzige schriftliche Zeugnis, aufgrund dessen der Umbau der Kirche datiert werden kann. Die Mindener Inschriften des 13. und 14. Jahrhunderts stehen – abgesehen von dieser Bauinschrift – auf kirchlichen Ausstattungsgegenständen oder Grabdenkmälern für Bischöfe, Kanoniker oder Angehörige eines Klosters und entstammen damit alle dem geistlichen Bereich. Lediglich zwei Ausnahmen sind hier zu nennen: Die Grabplatte für den Adligen Wedekind von dem Berge und seine Ehefrau Lisa von Solms (Nr. 28), Eltern zweier Mindener Bischöfe, aus dem Dom und die im Jahr 1964 auf dem Grundstück Bäckerstr. 31/33 bei Ausgrabungen gefundene Bronzeschale (Nr. 21), die zur Gruppe der sogenannten Hanseschalen gehört. Auch wenn die [Druckseite XVII] Funktion dieser Schalen nicht eindeutig geklärt ist, so ist wohl – auch aufgrund des Fundorts – davon auszugehen, daß sich dieses Exemplar im Besitz eines gehobenen Bürgerhaushalts, möglicherweise einer Kaufmannsfamilie, befand. Daher kann man die Inschriften der Hanseschale als die ältesten Mindener Inschriften aus dem bürgerlichen Bereich ansehen, auch wenn sie thematisch nur allgemeines Bildungsgut der Zeit zum Gegenstand haben und die Schale in der Ausführung der Darstellungen und Inschriften in die Nähe von Massenware zu rücken ist.
Kurz vor dem Ende des 14. Jahrhunderts wird in einer Stiftungsinschrift (Nr. 39, Kelch im Domschatz) mit Jutta von Münchhausen eine Angehörige einer in der Stadt über lange Zeit ansässigen Adelsfamilie inschriftlich erwähnt. Die spärlichen und daher äußerst zufällig überlieferten Grabinschriften des 15. Jahrhunderts sind zwar zum größeren Teil noch der Geistlichkeit vorbehalten, sie enthalten aber erstmalig auch Namen Mindener Bürger (Nr. 42, Nr. 47, Nr. 60); auf einer Grabplatte aus dem Jahr 1473 (Nr. 56) finden sich die Namen mehrerer Angehöriger der Ratsfamilie von Leteln. Im Jahr 1487 nennt sich der Mindener Goldschmied Reineke van dem Dresche, Mitglied eines der vornehmsten Handwerksämter, in einer Künstlerinschrift auf der Chormantelschließe (Nr. 59), die von einem hier ebenfalls inschriftlich genannten Domherrn aus der Familie von Leteln in Auftrag gegeben wurde. Alle diese Personen können repräsentativ für die sozialen Gruppen der Stadt stehen, denen normalerweise im Mittelalter und in der frühen Neuzeit eine Erwähnung in Inschriften vorbehalten bleibt.
Trotz des vergleichsweise dürftigen überlieferten Inschriftenbestandes läßt sich die Geschichte des Klosters St. Mauritii anhand der Inschriften recht gut verfolgen. Auf die Gründung verweist die Grabschrift für einen der ersten Mönche, den aus Magdeburg stammenden Ricbert (Nr. 9), und die Grabschrift für den Stifter des Klosters, Bischof Bruno (Nr. 14). Die Geschichte der Bruno-Grabplatte veranschaulicht Umbaumaßnahmen der Klosterkirche auf dem Werder ebenso wie die Verlegung des Klosters in die Stadt. Letzteres findet auch Erwähnung in der Grabschrift für den 1439 verstorbenen Mönch Eckhard Merler, der inschriftlich als der erste nach dem Umzug in die Stadt verstorbene Mönch bezeichnet wird (Nr. 49). Bei dem Epitaph für Merler handelt es sich um die einzige im Original überlieferte Inschrift für das Kloster St. Mauritii. Durch die im Rahmen der Bursfelder Reform vorgenommene Umstrukturierung des Klosters wurde Johannes Cassin als Abt eingesetzt, für den eine ausdrücklich auf die Reform verweisende Grabschrift überliefert ist (Nr. 53). Welche Bedeutung der Bursfelder Reform für das Kloster St. Mauritii zugemessen wurde, zeigt sich auch darin, daß der 1501 verstorbene Abt Konrad Pürtick in seiner Grabschrift (Nr. 68) als vierter Abt nach der Klosterreform bezeichnet wurde, d. h. mit Cassin begann die Zählung einer neuen Abtsreihe. Johannes de Prato, dem nach seinem Tod im Jahr 1571 ein Grabdenkmal mit Inschrift gesetzt wurde (Nr. 94), wurde nach der Einführung der Reformation in Minden und der Vertreibung der Mönche aus der Stadt im Exil zum Abt des Klosters gewählt; er übte dieses Amt nach der 1547 erfolgten Rückkehr der Mönche in die Stadt Minden noch bis zu seinem Tode aus.
Das Kloster St. Mauritii ist die einzige Institution der Stadt Minden, deren Geschichte sich in der Inschriftenüberlieferung widerspiegelt. Trotz des im 16. und 17. Jahrhundert dichter werdenden Inschriftenbestandes kristallisiert sich für Minden anhand der Inschriften kein deutliches Bild der Stadt, ihrer Bewohner und ihrer Strukturen heraus, wie dies in anderen norddeutschen Städten der Fall ist.14) Dies ist nicht nur auf die ungünstige Überlieferungssituation zurückzuführen, sondern wohl vor allem auch auf eine städtebauliche Besonderheit der Stadt Minden. Während in Städten wie Hannover, Hameln oder Osnabrück im 16. und 17. Jahrhundert der Fachwerkbau und dessen ornamentale und inschriftliche Verzierungen eine beherrschende Rolle im Stadtbild spielten, handelte es sich bei den anspruchsvolleren Mindener Bürgerhäusern um Steinbauten der Weserrenaissance, bei denen – anders als an den Fachwerkbauten – Inschriften als Schmuckelement generell eine eher nachgeordnete Rolle spielten. So stehen auf den Brüstungstafeln der Mindener Utluchten und Erker oder den Fragmenten, die von diesen übrig geblieben sind, zwar zahlreiche – sich mit dem Bildprogramm wiederholende – Namensbeischriften der dargestellten Figuren; Bauinschriften, die über die Bewohner des Hauses Auskunft geben (vgl. Nr. 71, Nr. 93, Nr. 95), oder Sprüche und Bibelzitate, die Rückschlüsse auf die Mentalität der Erbauer erlauben (vgl. Nr. 72, Nr. 73, Nr. 86, Nr. 188), sind jedoch eher die Ausnahme. Die Errichtung eines Hauses findet inschriftlich zumeist nur durch die Anbringung einer Jahreszahl mit Initialen und Wappen Ausdruck (vgl. Anhang 1). Religiöse Sprüche und allgemeine Lebensweisheiten, wie sie sich andernorts vor allem an Fachwerkhäusern finden, sind in Minden an einer Stelle zu einem Inschriftenprogramm zusammengefaßt [Druckseite XVIII] worden: Auf den Querbalken der Holzbalkendecke im Haus Simeonsstr. 19 aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (Nr. 199) standen ursprünglich etwa 28 gereimte Zweizeiler, von denen sich jedoch nur die ersten Zeilen von sechs Sprüchen sowie weitere Bruchstücke erhalten haben. Bemerkenswert ist die Kombination dieses Inschriftenprogramms mit auf die gemalten Sternkreiszeichen bezogenen Monatsinschriften.
Auch für die öffentlichen Bauten Mindens sind kaum Inschriften überliefert. Eine Ausnahme bildet das Hospital St. Nicolai, auf dessen Gründung im Jahr 1396 durch den Bürgermeister Giseler eine Gedenktafel von 1612 verweist (Nr. 154); Renovierungsmaßnahmen im Jahr 1638 sind ebenfalls durch eine Bauinschrift belegt (Nr. 187). Sonst ist in diesem Zusammenhang nur noch eine Inschriftentafel zu nennen, die die Ausbesserung einer zum städtischen Ziegelhof auf dem Werder führenden Brücke dokumentiert (Nr. 159). Die einzigen allgemeinen Ereignisse der Stadtgeschichte, an die überlieferte Inschriften erinnern, waren die Überschwemmungen durch Weserhochwasser in den Jahren 1552 und 1643 (Nr. 82 u. Nr. 83). Die Kontrolle des Rates über den innerhalb der Mauern betriebenen Handel kommt in verschiedenen Inschriften auf städtischen Hohlmaßen zum Ausdruck, die um das Jahr 1630 entstanden sind (Nr. 172–178 u. Nr. 180–183).
Anklänge an die Einführung der Reformation in der Stadt finden sich nur in den personenbezogenen Inschriften des 16. Jahrhunderts, z. B. in der Grabschrift für den Pastor Albert Nisius (Nr. 84), der als erster lutherischer Geistlicher in Minden gilt und in seiner Grabschrift als DOCTRINAE FIDEI PROPAGATOR bezeichnet wird, oder in der Grabschrift des Pastors Wilhelm Nisius (Nr. 90). Zwei Inschriften aus dem zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts nehmen Bezug auf Personen, die erst durch die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges nach Minden gekommen sind (Nr. 184 u. Nr. 193).
Die vor allem aus Grabschriften bestehenden personenbezogenen Inschriften der Stadt Minden bleiben – wie in anderen Städten – auch im 16. und 17. Jahrhundert auf den Kreis der Geistlichkeit und der städtischen Oberschicht beschränkt. Die biographischen Angaben der Grabschriften sind zumeist recht knapp gehalten, so daß den Inschriften nur selten über die Lebensdaten, den Familienstand und die Funktion hinausgehende Informationen über die Verstorbenen zu entnehmen sind. Eine Ausnahme hiervon hat der Mindener Inschriftenbestand indessen aufzuweisen, die auch innerhalb eines weiter gesteckten Untersuchungsgebietes als exzeptionell gelten kann: die in 32 Distichen gekleidete Grabschrift auf dem Epitaph des Georg von Holle in der Marienkirche (Nr. 97). Die Inschrift, in der detailliert das Leben des Söldnerführers geschildert wird, bietet das anschauliche Bild einer Militärkarriere in der Mitte des 16. Jahrhunderts und gibt einen Eindruck von den zahlreichen Kriegsschauplätzen der damaligen Zeit.
Insgesamt gesehen kann von einem Quellenwert des Mindener Inschriftenbestandes für die Stadtgeschichte nur eingeschränkt die Rede sein. Dies liegt vor allem daran, daß vergleichsweise wenige Inschriften die Zeiten überdauert haben oder abschriftlich überliefert sind. Trotzdem kann aber, wie im Voraufgehenden gezeigt worden ist, auch ein solcher reduzierter Inschriftenbestand zumindest punktuell und zugleich in seiner Gesamtheit Auskunft zu verschiedenen Aspekten der Stadtgeschichte geben.
Zitationshinweis:
DI 46, Minden, Einleitung, 2. Die Mindener Inschriften – Zeugen der Stadtgeschichte? (Sabine Wehking), in: inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di046d003e008.
- Zur Entstehung des Missionsbezirks und zur Gründung des Bistums Minden vgl. Eckhard Freise, Die Sachsenmission Karls des Großen und die Anfänge des Bistums Minden. In: An Weser und Wiehen – Beiträge zur Geschichte und Kultur einer Landschaft, Festschrift für Wilhelm Brepohl, hg. v. Hans Nordsiek. Minden 1983 (Mindener Beiträge 20), S. 57–100. »
- Vgl. Hans Gelderblom, Die Grabungen und Funde im Mindener Dom. In: Mindener Beiträge 10, 1964, S. 11–72. »
- Ebd., S. 26f. »
- Hierzu Martin Krieg, Die alte Fischerstadt von Minden. In: MHB 24, 1952, S. 1–6. »
- Vgl. Martin Krieg, Kleine Chronik der Stadt Minden. 2. Aufl. Minden 1950, S. 40f. »
- Hierzu: Leopold Kulke, Minden und die Hanse. In: MHB 42, 1970, S. 1–50. »
- Nordsiek, Topographie, S. 35. »
- Ebd., S. 47f. »
- Vgl. Paul Hülsmann, Die St. Simeon-Kirche in Minden – Eine baugeschichtliche Betrachtung. In: MHB 49, 1977, S. 94–120. »
- StA Münster, Minden, St. Mauritz und Simeon, Urkunden, Nr. 283. »
- Hierzu: Hans Nordsiek, Glaube und Politik – Beiträge zur Geschichte der Reformation im Fürstbistum Minden. Minden 1985, S. 9–18. »
- Vgl. hierzu: Hans Nordsiek, Vom Fürstbistum zum Fürstentum Minden. In: Westfälische Zeitschrift 140, 1990, S. 251–274. »
- Zum Vergleich sei hier Osnabrück genannt, das trotz einer nicht eben idealen Überlieferungssituation immerhin einen Bestand von 320 Inschriften aufzuweisen hat (DI 26). »
- Vgl. u. a. DI 26 (Stadt Osnabrück), DI 28 (Hameln), DI 36 (Stadt Hannover). »