Die Inschriften der Stadt Minden

3. Inschriften, Inschriftenträger und Überlieferung

Den Umstand, daß ein im Jahr 1377 auf Veranlassung Kaiser Karls IV. zur Erinnerung an den Chronisten Heinrich von Herford in der Klosterkirche St. Pauli gesetztes Grabdenkmal zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht mehr aufzufinden war, kommentierte Leopold von Ledebur im Jahr 1825 mit der auf die gesamte Stadt Minden bezogenen Bemerkung: „Mit den Leichensteinen ist man überhaupt entsetzlich umgegangen: als Straßenpflaster, an Häusern und auf Feldmarken, als Brücken über Gräben und als Grenzsteine findet man Bruchstücke von Leichensteinen, nicht selten mit Inschriften aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Diese Zerstörung ist ein doppelter Verlust für die Geschichte: denn nicht bloß die Vernichtung der Denkmäler ist zu beklagen, sondern unendliche Verwirrungen müssen entstehen, durch diese Translationen, die unsere späteren Nachkommen nicht werden deuten können, und darauf vielleicht Hypothesen bauen werden, die das schon dunkle Geschäft der Geschichte noch mehr verfinstern werden.“20) [Druckseite XIX]

Ledeburs Beurteilung des Umgangs der Mindener mit ihren historischen Zeugnissen, die wohl auch unter dem Eindruck der Zerschlagung der Bruno-Grabplatte (Nr. 14) im Jahr 1821 stand, wäre sicherlich noch schärfer ausgefallen, wenn er geahnt hätte, daß kurz darauf die Grabplatte des Bischofs Otto von dem Berge aus dem Jahr 1398 (Nr. 38), die er als „vorzüglich der Erhaltung wert“21) beschrieben hatte, aus dem Domchor entfernt, abgemeißelt, in Stücke gehauen und als Treppenstufen verbaut wurde.22) Bei der im Jahr 1832 durchgeführten Renovierung des Dominneren wurde nicht nur die Bischofsgrabplatte zerstört, sondern mit ihr zusammen noch weitere Grabplatten in Stücke gehauen und als Baumaterial wiederverwendet. Auf diesen Vorgang aufmerksam gemacht, ordnete die Berliner Regierung im selben Jahr eine Untersuchung an. Der Kirchenvorstand des Domes erklärte daraufhin, man habe die Grabplatten zu Treppenstufen verarbeiten lassen, um Kosten zu sparen, da „die in dem Dome befindlich gewesenen Leichensteine weder einen historischen noch einen Kunstwerth hatten“. Der Mindener Regierungsrat Zieren unterstützte den Kirchenvorstand durch seine Stellungnahme: „Sollte auch der eine oder andere der verbrauchten Leichensteine einem künftigen Alterthumsforscher oder Genealogen einen Aufschluß bei seinen Forschungen haben geben können, was noch zu bezweifeln steht, so dürfte dieser Verlust weit aufgewogen werden durch die Vortheile, welche die jetzige Einrichtung der Kirche den Theilnehmern am Gottesdienste gewährt. Es hätten sich vielleicht beide Zwecke vereinen lassen, wenn die Leichensteine, welche historisch merkwürdig gewesen, auf angemessene Weise anderweitig aufgestellt worden wären, aber abgesehen davon, daß diese Aufstellung mit Kosten verbunden gewesen wäre, ist die Bestimmung, was künftig für den Geschichtsforscher von Nutzen oder nicht von Nutzen seyn werde, schwer und fast unmöglich, da sich dieses meist nur erst aus individuellen Ansichten und Zielen ergibt. Eurem etc. Ermessen geben wir daher Ehrerbietigst anheim, diese Sache auf sich beruhen zu lassen.“

Angesichts einer solchen Einschätzung ist es nicht weiter verwunderlich, daß um dieselbe Zeit auch die Grabplatten aus der Martini- und der Marienkirche als Baumaterial veräußert wurden.23) Einem aus dem Jahr 1705 stammenden Verzeichnis der Begräbnisse in der Marienkirche ist zu entnehmen, daß sich zu diesem Zeitpunkt noch genau 100 Grabstellen in der Kirche befanden, die aus dem Berichtszeitraum stammten und wohl zum größten Teil mit Inschriften tragenden Grabplatten bedeckt waren.24) Von den verzeichneten Grabplatten, unter denen sich sechs für Äbtissinnen des Marienstifts befanden, sind heute nur noch zwei (Nr. 88 u. Nr. 90) erhalten. Ein Beispiel dafür, was mit diesen Steinen geschah, gibt die zu Treppenstufen des Turmaufgangs zugehauene Grabplatte Nr. 27. Einem ähnlichen Schicksal entging nur mit knapper Not die einzige heute noch erhaltene Mindener Bischofsgrabplatte für den 1352 verstorbenen Gerhard von Holstein-Schaumburg (Nr. 29). Der Mindener Kaufmann und Privatgelehrte Ernst Friedrich Mooyer verwendete sich im Jahr 1854 bei der Regierung erfolgreich für die Aufstellung des Steins im Domkreuzgang, wo er auch heute noch zu finden ist.25)

Die Stadt Minden bildet, was den Umgang mit Denkmälern im 19. Jahrhundert betrifft, keine Ausnahme. Auch andernorts läßt sich beobachten, daß die Kirchenrenovierungen des 19. Jahrhunderts – wenn auch wohl nicht in derselben Rigorosität – unter den Inschriftenträgern erheblich mehr Schaden angerichtet haben als die Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs. Im Falle Mindens trägt aber noch ein anderer Umstand dazu bei, daß nur so wenige Inschriften überliefert sind: Hier gibt es keinerlei gezielte kopiale Inschriftenüberlieferung. Während an anderen Orten im 18. und 19. Jahrhundert geschichtlich oder genealogisch interessierte Sammler daran gingen, Inschriften, besonders Grabinschriften, abzuschreiben oder in Zeichnungen festzuhalten, werden Inschriften auf Mindener Denkmälern höchstens beiläufig notiert. Dies läßt sich schon daran sehen, daß von den insgesamt 210 Mindener Inschriften 155 ganz oder teilweise im Original erhalten sind, während [Druckseite XX] 55 Inschriften lediglich in abschriftlicher Überlieferung vorliegen; für das 16. und die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts sind insgesamt nur 17 an ganz unterschiedlichen Stellen abschriftlich oder in Photographie festgehaltene Inschriften zu verzeichnen. In dem voraufgegangenen Zeitraum ist das Verhältnis zwischen kopialer und originaler Überlieferung nur deswegen ein etwas anderes, weil die Mindener Bischofschroniken etliche Inschriftentexte enthalten, vor allem natürlich Grabschriften der Mindener Bischöfe. Besondere Bedeutung kommt aber auch den in der Jüngeren Bischofschronik überlieferten Inschriften für drei Teppiche aus dem Mindener Dom (Nr. 10, Nr. 12 u. Nr. 13) zu.

Als Inschriftenüberlieferungen sind die Bischofschronik des Hermann von Lerbeck und die Jüngere Bischofschronik des Heinrich Tribbe allerdings nicht ganz unproblematisch. Dies liegt daran, daß die zur Auflockerung des Textes gerne verwendeten Versinschriften nur im Ausnahmefall als auf einem Inschriftenträger stehend gekennzeichnet werden. In der Regel sind sie mit einer Einleitung wie versus: oder de quo extant versus: versehen oder ganz ohne Überleitung in den Text gesetzt. Demzufolge ist es kaum zu unterscheiden, ob man es im Einzelfall mit einem inschriftlich ausgeführten Text oder mit Versen rein literarischen Charakters zu tun hat. In den Inschriftenkatalog aufgenommen wurden daher nur diejenigen Verse, bei denen zumindest ein begründeter Verdacht besteht, daß sie inschriftlich ausgeführt waren. Daß die in den Chroniken überlieferten Verse jedoch auch dann einer Inschrift entnommen sein können, wenn sie vom Text her eher einen rein literarischen Eindruck machen, zeigt die Inschrift auf der Grabplatte für die Bischöfe Eilbert und Sigebert in St. Martini (Nr. 11), die ohne das Vorhandensein der halben Platte im Original niemals in den Inschriftenkatalog aufgenommen worden wäre. Aus dieser Erkenntnis heraus sind alle diejenigen Verse in den beiden Bischofschroniken, die möglicherweise von Bischofsgrabdenkmälern in den Mindener Kirchen stammen könnten, in Anhang 2 in chronologischer Abfolge unter Beschränkung auf den bloßen Text und den Nachweis der Quelle wiedergegeben.

Generell können die kopial überlieferten Inschriften nur inhaltlich als Texte ausgewertet werden, da keine der Mindener Überlieferungen die Majuskel- und Minuskelschreibungen der Inschrift zuverlässig beibehält. Es handelt sich bei den kopial überlieferten Inschriften um Texte, die nicht unbedingt buchstabengetreu wiedergegeben sind und deren Groß- und Kleinschreibung ebenso wie die U/V-Schreibung und AE/E- Schreibung normalisiert sein kann. Die Interpunktion, die – vor allem im Fall der Bischofschroniken – vom Herausgeber nach modernen Regeln in die Texte eingefügt worden ist, bleibt hier unberücksichtigt, da keine Rückschlüsse auf die Interpunktion des jeweiligen Originals möglich sind. Dagegen bleibt die Zeichensetzung der original überlieferten Inschriften auch dann gewahrt, wenn sie nach den heutigen Regeln wenig sinnvoll erscheint.

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Den größten Bestand unter den 211 Mindener Inschriften, zu denen noch 46 Jahreszahlen und Initialen hinzukommen, machen die Grabinschriften mit 75 Nummern aus, die zweitgrößte Gruppe mit 55 Nummern die unterschiedlichsten Gegenstände der Kirchenausstattung, darunter sieben Glocken und zehn Kelche. Bau- und Hausinschriften sowie allgemein Inschriften auf Baugliedern umfassen 50 Nummern des Gesamtbestandes; daran haben die Beischriften zu den bildlichen Darstellungen auf den steinernen Erker- und Utluchtbrüstungen den weitaus größten Anteil. Eine übergreifende Auswertung der beiden letztgenannten Gruppen erscheint aufgrund der Verschiedenheit der zu ihnen gehörenden Inschriftenträger und der damit in Zusammenhang stehenden Vielfalt der Inschrifteninhalte kaum sinnvoll; hier kann es vielmehr nur darum gehen, den Einzelfall – wie in den Inschriftenartikeln geschehen – zu kommentieren. Dagegen erlauben die überlieferten Grabinschriften und die im Original erhaltenen Grabdenkmäler durchaus eine allgemeine Auswertung im Hinblick auf ihre Entwicklung im Berichtszeitraum, auch wenn sich nur ein Bruchteil des ehemals in den Kirchen vorhandenen Bestands erhalten hat. Der aufgrund des Verzeichnisses der Marienkirche aus dem Jahr 1705 zu errechnende Bestand von 100 Grabdenkmälern bis zum Jahr 1650 dürfte sich auch auf die anderen Mindener Kirchen – vor allem auf die Martinikirche und den Dom – übertragen lassen.

Besonders interessant und zugleich in ihrer Verschiedenheit repräsentativ für die Zeit des hohen Mittelalters sind die ältesten Grabinschriften Mindens. Die nur bruchstückhaft kopial überlieferte Inschrift der Grabplatte des 1097 verstorbenen Bischofs Odalricus (Nr. 7) enthielt offenbar neben der Tagesdatierung auch die Angabe des Todesjahres, während die Inschrift auf der Grabplatte eines der ersten Mönche des Mauritiusklosters aus der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts (Nr. 9) [Druckseite XXI] außer dem Namen des Verstorbenen und seiner Herkunft lediglich den Todestag angab. In beiden Fällen handelt es sich um knappe Sterbevermerke in Prosa. Die Inschriften zweier Stiftergrabplatten für die Bischöfe Eilbert und Sigebert aus der Zeit nach 1165 in St. Martini (Nr. 11) sowie für den Gründer des Mauritiusklosters, Bischof Bruno, aus dem 12. Jahrhundert (Nr. 14) sind dagegen in Versen abgefaßt. Damit sind die beiden Arten von Grabschriften im Mindener Inschriftenbestand schon früh vertreten, die bis zum Ende des Berichtszeitraums auf Grabdenkmälern unterschiedlichster Gestaltung vorkommen.

Anhand des Mindener Inschriftencorpus läßt sich eine Beobachtung bestätigen, die sich schon aus der Auswertung der Osnabrücker Inschriften ergeben hat.26) Während andernorts lateinische Versgrabschriften erst im 16. Jahrhundert unter dem Einfluß des Humanismus üblich werden, kann man in den Bischofsstädten eine kontinuierliche Verwendung von in Hexametern oder elegischen Distichen abgefaßten Versinschriften auf Grabdenkmälern nachweisen, die in Anknüpfung an die Papstepitaphien und damit auch in Anknüpfung an antike Traditionen zunächst für die Bischöfe als die höchsten Würdenträger bestimmt waren.27) Bis zum 15. Jahrhundert sind die Versgrabschriften – ebenso wie die in Hexametern oder elegischen Distichen abgefaßten Inschriften auf anderen Trägern – zumeist einsilbig oder zweisilbig leoninisch gereimt. Seit dem 16. Jahrhundert kommen keine gereimten lateinischen Versinschriften mehr vor. Die Versgrabschriften blieben nicht lange nur den Mindener Bischöfen vorbehalten; seit dem 14. Jahrhundert wurden sie zunächst von höhergestellten Klerikern, spätestens seit dem 16. Jahrhundert auch vom Adel und vom Bürgertum übernommen. Allerdings bietet die lückenhafte Mindener Überlieferung die frühesten Beispiele von Versgrabschriften für die beiden letzteren Bevölkerungsgruppen erst aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Nr. 87 u. Nr. 89). Die ältesten Versgrabschriften für Kleriker stammen aus den Jahren 1373 (Nr. 34) und 1416 (Nr. 45). Für den 1373 verstorbenen Prior des Klosters St. Pauli, Johann von Ovenstede, ist eine auf den Ort der Grabplatte innerhalb des Klausurbereichs Bezug nehmende Versinschrift überliefert, die ausdrücklich den vorübergehenden Klosterbruder anspricht und zum Gedenken auffordert. Ebenfalls eine Besonderheit stellt die Versinschrift für den 1398 verstorbenen Bischof Otto von dem Berge (Nr. 38) dar. Hier ist es nicht der Inhalt, sondern der Umfang der Inschrift, der ungewöhnlich ist. Die kopial überlieferte Grabschrift besteht aus 19 Hexametern, von denen sicher bezeugt ist, daß sie auf der um 1832 zerstörten Bischofsgrabplatte ausgeführt waren. Was die Länge der Inschrift betrifft, so nimmt sich diese Bischofsgrabschrift gegenüber der 32 Distichen umfassenden Inschrift auf dem Epitaph des 1576 verstorbenen Söldnerführers Georg von Holle und seiner Ehefrau (Nr. 97) allerdings eher bescheiden aus. Auch wenn die Versgrabschriften im Laufe der Zeit beredter werden und einen größeren Umfang annehmen, finden sich derart lange Grabgedichte sonst höchstens auf Fürstengräbern, nicht jedoch auf Grabdenkmälern für den niederen Adel, auch wenn der Verstorbene eine bedeutende Persönlichkeit war.

Insgesamt bestehen die Versgrabschriften – ebenso wie die Prosagrabschriften in Form von Sterbevermerken – größtenteils aus formelhaften Versatzstücken, die sich in allen Inschriftenbeständen wiederholen, und sind nur selten speziell auf die Individualität des oder der Verstorbenen hin konzipiert. Der Platz des Begräbnisses wird mit Formeln wie hic iacet (Nr. 38), hic est tumulatus (Nr. 48) oder hic corpus tegitur (Nr. 81) bezeichnet, der Verstorbene mit schmückenden Epitheta versehen und am Schluß der Inschrift oft die Aufnahme der Seele in das Himmelreich konstatiert oder als Fürbitte formuliert durch Wendungen wie mens videt ipsa deum (Nr. 89) oder spiritus astra tenet (Nr. 81). Nur selten kommen in den Grabschriften individuellere Formulierungen vor, wie etwa in der Grabschrift des Dompropstes Thomas von Halle (Nr. 81), die die jahrelange Gefangenschaft des Verstorbenen thematisiert, oder in der – nur noch bruchstückhaft erhaltenen – Versinschrift für den 1578 ermordeten Mindener Ratsherrn Albert Ludeking (Nr. 99), in der die hinterbliebene Witwe getröstet wird.

Zu den Versgrabschriften können kurze Prosainschriften hinzutreten, die den Todestag, den Namen und eventuell das Amt des Verstorbenen enthalten. Diese Sterbevermerke kommen auch allein auf Grabplatten oder Epitaphien vor, die den Mindener Bischöfen ebenso wie den Angehörigen des Klerus, des Adels und des Bürgertums gesetzt wurden. Auf Grabplatten verlaufen sie in den meisten Fällen auf einer Rahmenleiste um den Stein. Das Formular dieses Inschriftentyps erweitert sich im Laufe der Zeit, und zu dem Namen – eventuell mit dem Zusatz dominus, der [Druckseite XXII] Herkunftsbezeichnung oder dem Titel – und dem Sterbedatum treten weitere Angaben hinzu. So wird der 1352 verstorbene Bischof Gerhard von Holstein-Schaumburg in seiner Grabinschrift (Nr. 29) als comparator Castri Rodensis bezeichnet und damit auf die für das Bistum Minden wichtigste Handlung seiner Amtszeit, den Erwerb der Burg Rahden, verwiesen. Um eine Fürbitte wird der Sterbevermerk erstmals auf der Grabplatte des 1371 verstorbenen Johannes Hope erweitert (Nr. 33); allerdings läßt sich nicht ausschließen, daß auch ältere Grabinschriften, die lediglich in kopialer Überlieferung vorliegen, eine Fürbitte enthielten, die nur nicht aufgezeichnet wurde. Es fällt jedoch auf, daß sich auf den drei für das 14. Jahrhundert vollständig im Original überlieferten Grabdenkmälern (Nr. 29, Nr. 30, Nr. 31) keine Fürbitte findet. Im 16. Jahrhundert wird es üblich, den Verstorbenen auch in den kürzeren Prosagrabschriften durch schmückende Epitheta zu rühmen, die in den Versgrabschriften schon von Beginn an Verwendung fanden. So wird der Abt des Mauritiusklosters Johannes Pürtick (Nr. 68) als venerabilis pater bezeichnet, der Dompropst Thomas von Halle (Nr. 81) als vir magnificus und Joachim von Glabeck (Nr. 87 u. Nr. 88) als erbar unde erntfest.

Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts sind die Grabinschriften ausnahmslos in lateinischer Sprache abgefaßt; dies dürfte allerdings auf die Überlieferungssituation zurückzuführen sein, da im allgemeinen Grabinschriften in deutscher Sprache schon im 15. Jahrhundert üblich werden. Im 16. Jahrhundert variieren die auf den Grabdenkmälern kombinierten Texttypen; Versinschriften stehen auf demselben Inschriftenträger neben teilweise zu Kurzbiographien erweiterten Sterbevermerken in Prosa, Fürbitten oder Bibelzitaten. Ein lateinisches Bibelzitat findet sich erstmalig auf dem Epitaph des Dompropstes Thomas von Halle aus dem Jahr 1551 (Nr. 81), ein deutsches Bibelzitat auf dem Epitaph des Thönnies Borries und seiner Ehefrau aus dem Jahr 1580 (Nr. 103). Verschiedene Texttypen sind auf dem Epitaph des 1564 verstorbenen Joachim von Glabeck (Nr. 87) vereint, auf dem erstmalig auch ein deutschsprachiger Sterbevermerk steht. Mit ihm kombiniert sind zwei deutsche Fürbitten und ein kurzer lateinischer Gebetstext sowie eine in Distichen abgefaßte lateinische Versinschrift. Auch der Sterbevermerk auf der Grabplatte des Joachim von Glabeck (Nr. 88) ist in deutscher Sprache abgefaßt und entspricht weitgehend dem des Epitaphs.

Die größere Vielfalt der Texte steht im Zusammenhang mit einem größeren Formenreichtum der Grabdenkmäler. Für die Zeit bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts sind vor allem Grabplatten überliefert, deren Funktion in der Abdeckung des Grabes bestand. Sie weisen in der Regel eine umlaufende Inschrift und eine Ritzzeichnung – zumeist eine Darstellung des Verstorbenen – im Innenfeld auf. Eine Ausnahme bildet die Grabplatte der Brüder von der Beke (Nr. 30), die eine Darstellung der Verstorbenen als Assistenzfiguren eines Bischofs und eine oben über den Stein verlaufende Inschrift zeigt. Um eine Darstellung des Verstorbenen im Relief handelte es sich möglicherweise bei der Grabplatte des Bischofs Bruno aus dem 12. Jahrhundert (Nr. 14); sicher bezeugt ist dagegen, daß sich auf der Grabplatte des Bischofs Otto von dem Berge eine Darstellung des Bischofs im Halbrelief befand (Nr. 38). Grabplatten dieser Art sind bis zum Ende des Berichtszeitraums überliefert. Die Grabplatte des 1625 verstorbenen Bernhard von Quernheim (Nr. 165), die den Domherrn im Halbrelief in einer Nische darstellt, könnte aufgrund ihrer außergewöhnlichen Größe auch als Epitaph an der Wand angebracht gewesen sein; dagegen spricht jedoch der Umstand, daß die Platte auf der linken Seite stark abgetreten ist. Bei dieser Platte handelt es sich um das einzige für die Stadt Minden überlieferte Beispiel eines Steins, der mit – heute nicht mehr erhaltenen – Messingeinlagen verziert war. Die in den Ecken eingehauenen runden Felder lassen darauf schließen, daß hier Medaillons mit Wappenschilden oder Evangelistensymbolen eingesetzt waren.

Neben den Grabplatten gibt es im 14. und 15. Jahrhundert in den Mindener Kirchen auch bereits Epitaphien, von denen sich zwar nur zwei (Nr. 31 u. Nr. 49) im Original erhalten haben, die aber ursprünglich in größerer Anzahl vorhanden gewesen sein dürften (vgl. a. Nr. 33). Bei dem Epitaph des 1367 verstorbenen Kanonikers an St. Martini, Degenhardt von Ellerbeck, handelt es sich um eine einfache querrechteckige Steintafel mit Grabschrift, bei dem Epitaph des 1439 verstorbenen Mönchs des Klosters St. Mauritii, Eckhard Merler, dagegen um einen kleinen Stein mit einem Kreuzigungsrelief im oberen und einer Grabschrift im unteren Teil. Beiden Epitaphien gemeinsam ist ihre Funktion; unabhängig vom Begräbnisplatz dienten sie lediglich der Erinnerung an den Verstorbenen. Dieselbe Funktion haben auch die aufwendigeren Epitaphien des 16. und 17. Jahrhunderts. Ihre Erscheinungsform ist vielfältig und reicht von einem hochrechteckigen Stein mit einer Darstellung des Verstorbenen unter dem Kreuz bis hin zu großen Denkmälern mit mehrteiligem Bild- und Inschriftenprogramm. Die erhaltenen Epitaphien sind mit zwei Ausnahmen aus [Druckseite XXIII] Stein. Nur das Grabdenkmal für den 1598 verstorbenen Johann Korver und seine Familie in der Simeonskirche (Nr. 120) ist aus Holz. Ein Epitaph für die Familie Sobbe in der Martinikirche aus dem Jahr 1610 ist in Form eines Ölgemäldes gestaltet (Nr. 153), das vier Generationen der Familie zeigt. Außerdem sind unter den dem Totengedächtnis dienenden Denkmälern noch zwei 1622 entstandene Altäre im Dom zu nennen, die durch die an zentraler Stelle angebrachten Schrifttafeln die Funktion von Epitaphien erhalten (Nr. 160 u. 161).

Die steinernen Epitaphien aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zeigen im Mittelteil ein Relief mit der Darstellung des oder der Verstorbenen unter dem Kruzifix, in einem Fall (Nr. 89) auch zu beiden Seiten des auferstehenden Christus. Zu diesem Hauptbestandteil der Epitaphien können verschieden gestaltete Aufsätze, Kartuschen und Schrifttafeln hinzutreten. Die Figuren des verstorbenen Ehepaars sind im Epitaph des Georg von Holle und seiner Ehefrau (Nr. 97) aus dem Kreuzigungsrelief herausgenommen und als vollplastische Beterfiguren auf den unterhalb des Reliefs vorspringenden Sockel gestellt. Dieses bereits aufgrund seines umfangreichen Inschriftenprogramms als Ausnahmefall charakterisierte Grabdenkmal, das die Südwand des Chores der Marienkirche dominiert, nimmt auch wegen seiner Größe und Vielteiligkeit sowie der 16teiligen Ahnenproben für beide Eheleute eine Sonderstellung unter den Mindener Epitaphien ein. Bei den aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts überlieferten Epitaphien handelt es sich überwiegend um große Grabdenkmäler mit mehrteiligem Bild- und Figurenprogramm. Hier sind die Verstorbenen wie im Holle-Epitaph zumeist als vollplastische Beterfiguren dargestellt, die vor den Mittelteil des Epitaphs gerückt sind. Der Domherr Eberhard von Mallinckroth ist unterhalb des Kreuzigungsreliefs im Mittelteil seines Epitaphs (Nr. 157) als vollplastische Liegefigur mit zum Gebet gefalteten Händen dargestellt. Auf zwei der mehrteiligen Epitaphien, die sich beide in St. Martini befinden (Nr. 152 u. Nr. 163), tritt eine Inschriftentafel an die Stelle einer biblischen Szene oder der Abbildung der Verstorbenen im Mittelteil des Epitaphs, wodurch dem Text der Grabschrift besondere Bedeutung zukommt. Vier der großen mehrteiligen Steinepitaphien (Nr. 157, Nr. 158, Nr. 166, Nr. 171) sowie ein kleines Fragment eines Epitaphs (Nr. 197) lassen sich aufgrund ihrer Gestaltung, besonders aufgrund des Figurenstils und der reichlich verwendeten dekorativen Elemente, mit einiger Sicherheit demselben Bildhauer, dem aus Osnabrück stammenden Adam Stenelt, zuweisen. Das Epitaph für den Domherrn Hieronymus von Grapendorf aus dem Jahr 1629 (Nr. 171) ist von Stenelt signiert.

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Etwa zwei Drittel der Mindener Inschriften sind in lateinischer Sprache abgefaßt, ein Drittel in deutscher Sprache. In fünf Fällen stehen lateinische und deutsche Inschriften nebeneinander auf demselben Träger. Das deutliche Überwiegen der lateinischen Sprache in den Mindener Inschriften läßt sich nicht allein dadurch erklären, daß der Bestand stark klerikal geprägt ist und dies auch auf den Bereich der bürgerlichen Inschriften abfärbte. Ein erstes deutschsprachiges Element findet sich – verglichen mit anderen Inschriftenbeständen sehr spät – in der Künstlerinschrift auf der von Reineke van dem Dresche gefertigten Chormantelschließe, die aus dem Jahr 1487 oder der Zeit davor stammen kann (Nr. 59). Der Künstler bezeichnet sich hier als gholtsmed. Die beiden ersten in deutscher, genauer in niederdeutscher Sprache abgefaßten Inschriften des Bestandes sind zwei Hausinschriften aus den Jahren 1528 und 1529, von denen eine den Bauherrn und das Jahr der Erbauung nennt, die andere aus dem als Hausinschrift oft verwendeten Sprichwort ‚Wer Gott vertraut, hat wohlgebaut’ besteht. In beiden Fällen handelte es sich um auf Schwellbalken an Fachwerkhäusern angebrachte Inschriften, die in Minden die Ausnahme bilden. Daß jedoch auch an dem eher als ‚volkstümlich’ geltenden Fachwerkhaus anspruchsvolle lateinische Texte angebracht wurden, wenn der Erbauer über einen entsprechenden Bildungsstand verfügte, zeigt die Inschrift an der Kurie des Johannisstifts, Johanniskirchhof 2 (Nr. 86), die im ersten Teil aus einem Hesiod-Zitat besteht und ein elegisches Distichon bildet. Auch wenn die Auswahl des Zitats, das den Erwerb eines Hauses, einer Gefährtin und eines Ochsens als wichtigste Lebensziele nahelegt, im Hinblick auf den Stand des Erbauers als katholischer Stiftsherr von St. Johannis nicht ganz unbedenklich erscheint, sollte die Inschrift doch dessen Gelehrsamkeit für alle sichtbar dokumentieren.

Trotz dieses zuletzt genannten Beispiels läßt sich allgemein beobachten, daß an Fachwerkhäusern überwiegend deutsche Inschriften angebracht wurden.28) Für das Zahlenverhältnis von deutschen [Druckseite XXIV] und lateinischen Inschriften innerhalb des Mindener Bestandes ist der Umstand von Bedeutung, daß es den repräsentativen Fachwerkbau des 16. und 17. Jahrhunderts, der in Städten wie Hameln und Hannover volle Ausprägung in großen, mehrfach vorkragenden und reich verzierten Bürgerhäusern fand, in Minden nicht gab. An seiner Stelle errichtete man hier repräsentative Steinhäuser, deren von der Renaissance geprägter Stil und an klassischen Themen orientierte Bildelemente eher die Verwendung der lateinischen Sprache für die Inschriften nahelegten, soweit überhaupt Inschriften an Steinhäusern angebracht wurden. Als Beispiel für Bauinschriften in lateinischer Sprache an Bürgerhäusern können die Inschriften auf einem Wappenstein vom Haus Hohe Straße 4/6 aus dem Jahr 1570 (Nr. 93) und auf einem steinernen Sturz aus dem Jahr 1571 (Nr. 95) angeführt werden. Auch innerhalb der Bürgerhäuser wurden lateinische Inschriften angebracht, die den Bildungsstand des Hausherrn vor Augen führen sollten, wie die Inschriften auf einem Kaminsturz aus dem Haus Simeonsstr. 32 (Nr. 110) und aus dem Haus Königstraße 28 (Nr. 207) zeigen. Daß die an der Druckgraphik der Renaissance orientierten Figurenprogramme, die die Häuser schmückten, ebenso wie ihre zweidimensionalen Vorbilder mit Beischriften in lateinischer Sprache versehen wurden, liegt auf der Hand. So sind die Tugenden, Helden und Perserkönige auf den Brüstungstafeln mit lateinischen Namen bezeichnet; eine etwas halbherzige Ausnahme bildet lediglich MARCVS VALERIVS MIT ZVNAMEN CORVINVS GENANNT (Nr. 129).

Auch in den Grabinschriften des 16. und 17. Jahrhunderts dominiert die lateinische Sprache. Sie findet nicht nur auf den Grabdenkmälern der Kleriker Verwendung, sondern ebenso auf den Epitaphien der Bürger (vgl. u. a. Nr. 87, Nr. 89, Nr. 99, Nr. 163), die sich für diese anspruchsvoll gestalteten Grabdenkmäler an dem Vorbild der Grabdenkmäler der Geistlichkeit und des Adels orientierten und überwiegend die lateinische Sprache wählten. Wie bereits erwähnt, findet sich die deutsche Sprache innerhalb der Grabinschriften erstmals auf dem Epitaph und der Grabplatte des Joachim von Glabeck (Nr. 87 u. Nr. 88) und ist hier für den Sterbevermerk verwendet worden. Dies bleibt für die Folgezeit charakteristisch. Abgesehen von den Grabplatten für Geistliche, deren kurze Prosagrabschrift auch weiterhin in lateinischer Sprache formuliert wird (vgl. Nr. 94, Nr. 141, Nr. 165), findet seither für die um die Grabplatte verlaufende Prosagrabschrift allgemein die deutsche Sprache Verwendung (vgl. u. a. Nr. 101, Nr. 106, Nr. 116). Auf den wenigen erhaltenen kirchlichen Ausstattungsgegenständen aus nachreformatorischer Zeit überwiegen die deutschsprachigen Inschriften ebenso wie auf den Gebrauchsgegenständen aus dem bürgerlichen Bereich.

Die deutschen Inschriften des Mindener Bestandes weisen zunächst noch durchgehend niederdeutsche Sprachmerkmale auf (Nr. 71, Nr. 72, Nr. 87, Nr. 88). In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts treten dann erstmals Inschriften mit durchgängig oder zum überwiegenden Teil hochdeutschen Formen auf (Nr. 101, Nr. 108). Es gibt aber auch in dieser Zeit noch rein niederdeutsche Inschriften (Nr. 103, Nr. 111, Nr. 117, Nr. 119). Im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts kommen ebenfalls noch stark niederdeutsch geprägte Inschriften vor. Dabei fällt auf, daß die niederdeutsche Sprache in reiner Form noch in den Bibelzitaten auf der Kanzel von St. Martini aus dem Jahr 1608 und auf der Bronzetaufe von St. Simeonis aus dem Jahr 1609 (Nr. 150 u. Nr. 151) verwendet wird, während Inschriften aus anderen Bereichen wie beispielsweise die Gedenktafel für den Bürgermeister Giseler aus dem Jahr 1612 (Nr. 154) oder die Inschrift eines Wappensteins aus dem Jahr 1616 (Nr. 156) in hochdeutschen Reimversen formuliert sind. Auch in den 30er Jahren des 17. Jahrhunderts finden sich noch niederdeutsche Elemente in den Mindener Inschriften, z. B. auf den städtischen Hohlmaßen (Nr. 172178 u. Nr. 180183). Daß die deutschsprachigen Inschriften des Bestandes nach dem Jahr 1631 keine niederdeutschen Formen mehr aufweisen, mag auf den Zufall der Überlieferung zurückgehen.

Zitationshinweis:

DI 46, Minden, Einleitung, 3. Inschriften, Inschriftenträger und Überlieferung (Sabine Wehking), in: inschriften.net,  urn:nbn:de:0238-di046d003e008.

  1. Minden-Ravensberg – Denkmäler der Geschichte, der Kunst und des Altertums, hg. v. Gustav Heinrich Griese nach der im Jahre 1825 verfaßten Handschrift ‘Das Fürstentum Minden und die Grafschaft Ravensberg in Beziehung auf Denkmäler der Geschichte, der Kunst und des Altertums’ von Leopold von Ledebur. Bünde 1934, S. 24. »
  2. Ebd., S. 7. »
  3. Mit diesem Vorgang beschäftigt sich die Akte StA Detmold, M 1 II A, Nr. 2095. »
  4. Ebd. »
  5. Wilhelm Vieth, Verzeichnis der Begräbnisse in der St. Marienkirche zu Minden. In: MJB 9, 1938, S. 139–143. Die Suche nach dem Original des im Mindener Jahrbuch wiedergegebenen Verzeichnisses blieb leider ergebnislos. Es läßt sich daher nicht feststellen, ob das Verzeichnis der Begräbnisse auch Grabinschriften enthalten hat. »
  6. StA Detmold, M 1 II A, Nr. 2095. »
  7. DI 26 (Osnabrück), S. XVIIIf. »
  8. Dieselbe Beobachtung läßt sich auch am Hildesheimer Inschriftenmaterial machen. Vgl. Sammlung Hildesheim, Arbeitsstelle Göttingen. »
  9. Vgl. DI 28 (Hameln), S. XXVIII, u. DI 36 (Stadt Hannover), S. XXI»