Die Inschriften des Altkreises Osterode

Die Graffiti in der Einhornhöhle bei Scharzfeld

Die Einhornhöhle am Harzrand ist seit über fünfhundert Jahren bekannt. Der Zugang erfolgte historisch mittels Leitern über einen Erdfall im Wald nordöstlich von Scharzfeld. Die Höhle gliedert sich in vier große Hallen mit verbindenden Zwischengängen und diversen seitlichen Erweiterungen. Von der nach oben offenen Vorhalle oder „Blauen Grotte“ (I. Höhle) zweigt nach Südwesten die sogenannte „Von-Alten-Kapelle“ mit weiteren Verzweigungen ab. Die eigentliche Höhle erstreckt sich mit über zweihundert Metern Länge in östlicher Richtung auf die abfallende Kante des Bergrandes hin. Auf den Hauptgang folgt die „Leibnizhalle“ (II. Höhle), auf den anschließenden „Bärengang“ die Erweiterung des „Schillersaals“ (III. Höhle); der „Virchowgang“ führt über die „Wolfskammer“ in den „Weißen Saal“, die historisch letzte (IV.) Höhle. 1905/07 wurde von hier aus zur Kante des Berghanges hin ein natürlichen Klüften folgender, etwa 25 Meter langer Stollen getrieben, der seitdem den Zugang bildet. Zwischen der „Wolfskammer“ und dem „Weißen Saal“ bestand ursprünglich nur ein etwa fünf Meter langer, ungefähr 50 cm hoher Kriechgang. Dieser wurde 1906 durch einen parallel geschaffenen Durchbruch ersetzt; zugleich wurde auch die niedrige Verbindung zwischen Bärengang und Schillersaal erweitert.1)

Der Boden der Höhle war (und ist überwiegende immer noch) mit Sedimenten in unterschiedlicher Mächtigkeit gefüllt. In diese Sedimente waren Reste von eiszeitlicher Großfauna, vor allem von Höhlenbären, eingelagert. Diese Knochen wurden, nachweisbar seit dem 16. Jahrhundert, von der umwohnenden Bevölkerung ausgegraben und als „Einhorn“ an Apotheken verkauft, was der Höhle den seit der Mitte des 18. Jahrhunderts aufgekommenen heutigen Namen gab. (Bis dahin war sie als „Zwergenloch“ oder Scharzfelder bzw. Scharzfelser Höhle bekannt).2) Die jahrhundertlange Suche nach Knochen und die wissenschaftliche Grabungstätigkeit seit den 1870er Jahren hat an vielen Stellen das Bodenniveau um ein bis anderthalb Meter vertieft; in den noch heute erkennbaren Wandzonen unterhalb des älteren Bodenniveaus finden sich daher nur sehr selten Inschriften, die zudem eher spät entstanden sind. Von Graffiti nicht berührt sind die erst im frühen 20. Jahrhundert ergrabenen Nebenhöhlen wie der „Hubertusgang“, der von dem „Weißen Saal“ abzweigt, oder der „Jacob-Friesen-Gang“ an der „Leibnizhalle“.3)

Der erste Besuch in der Höhle, über den berichtet wurde, fand Ende Mai 1583 statt, als Johannes Letzner mit neun Gesellen, darunter zwei Adelige – einer war Hans Wilhelm von Kerstlingerode, der, Letzner zufolge, von 1580 bis 1593 Amtmann auf dem Scharzfels war – in die Höhle einfuhr.4) Bereits Letzner berichtet, dass er in der dritten und hintersten Höhle an den Wänden unzahlbare fürnemer Leut Namen gesehen habe, so fürmals darinne dieses Wunder zu sehen gewesen sind mit neben[h]er verzeicheneter Jahrzahl wan sie daselbst gewesen sind. Dabei handelt es sich vermutlich um den „Schillersaal“ bzw. den „Virchowgang“.5) Weitere schriftlich dokumentierte Besuche fanden 1656, 1663, um 1685 (Gottfried Wilhelm Leibniz) und im 18. Jahrhundert (darunter 1784 Goethe) statt.6)

Die Graffiti in der Höhle – mit wenigen Ausnahmen Namen, Initialen und Jahreszahlen – wurden in einer mit dem Landesamt für Denkmalpflege in Hannover koordinierten Aktion in drei eintägigen Kampagnen im Sommer 2015 bzw. im Herbst 2017 fotografiert und dokumentiert. Im Ergebnis lassen sich über 2300 Inschriften nachweisen. Eine absolute Vollständigkeit war dabei nicht zu erreichen und auch nicht das Ziel. Dies hat zahlreiche Gründe. Zum einen ist die Klarheit und Deutlichkeit der einzelnen Graffiti sehr unterschiedlich. Dies liegt einerseits am Untergrund, der fast überall rau, manchmal auch gratig und rissig ist, in der Farbe schwankend zwischen hellem Ocker [Druckseite 316] und dunklem Braun bis Schwarz. Dort, wo der Untergrund durch ältere Sinterschichten glatt und heller, manchmal fast weiß ist, bietet sich ein besserer Schreibuntergrund. Dieser ist an heute trockenen Stellen manchmal allerdings abgeplatzt (vor allem im „Weißen Saal“), an anderen Stellen haben neue Sinterschichten Graffiti teilweise oder ganz verdeckt, darunter bereits auch solche, die ausweislich einer Jahreszahl oder der Schrift erst aus dem späten 19. Jahrhundert stammen.

Eine anderer Punkt sind die verwendeten Schreibmaterialien. Die ältesten Inschriften sind offenbar mit Holzkohle geschrieben, die an der Spitze von Fackeln oder Holzstiften beim Besuch der Höhle entstanden war. Sie können teilweise einen recht breiten Strich bilden und sind im gleichbleibenden Klima der Höhle mit stabiler Temperatur und Feuchtigkeit sehr haltbar, selbst auf feuchtem Untergrund. (Anders sind die Verhältnisse in der durch die Deckenöffnung Licht, wechselnder Feuchtigkeit und Temperaturschwankungen ausgesetzten „Blauen Grotte“, in der sich kaum Inschriften erhalten haben.) Andere Buchstaben wurden, bis in jüngere Zeit, direkt mit Kerzenrauch auf Wand und Decke gebracht; diese sind naturgemäß sehr groß, wenig distinkt und oftmals verblasst. Zu den frühen, allerdings bis in das 19. Jahrhundert verwendeten Schreibmaterialien gehörten außerdem Rötelstifte. Rötel ist allerdings hydrophil und die Farbe verläuft unter Wasserkontakt, so dass die Schriftzüge bis zur Unleserlichkeit aufgelöst sein können. Inschriften in (weißer) Kreide kommen spätestens seit dem 18. Jahrhundert vor; sie sind häufig sehr dünn, aber gut erhalten.7) Seit dem späten 18. und vor allem im 19. und 20. Jahrhundert wurden zunehmend die gemeinhin als „Bleistifte“ bekannten Graphitstifte verwendet, die häufig für etwas längere Graffiti mit Nennungen von Vor- und Zunamen, oftmals auch mit Herkunftsort und genauem Datum, genutzt wurden. Diese teilweise in winziger Schreibschrift ausgeführten Inschriften sind sehr leicht zu übersehen und oftmals überschrieben. Überschreibungen stellen auf manchen leicht erreichbaren Wandabschnitten, besonders im Schillersaal und Virchowgang, ein großes Problem für die Lesbarkeit der Eintragungen dar. Dieses ergibt sich besonders dort, wo seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Besucher mit Pinsel und schwarzer oder roter Farbe und mit sehr breitem Strich rücksichtslos gewirkt und dabei andere Inschriften, darunter auch die mutmaßlich älteste in der Höhle (A,17), ganz oder teilweise verdeckt haben.

Ein weiteres Problem bei der Abschätzung der Gesamtzahl stellt die Abgrenzung der Einheit „Inschrift“ bzw. „Graffito“ dar. Im Allgemeinen lassen sich anhand des verwendeten Schreibmaterials und der Schrifteigentümlichkeiten die zusammengehörigen Teile einer Inschrift, sofern sie nicht durch Überschreibungen bzw. Übermalungen gestört sind, ziemlich sicher ausmachen; in manchen Fällen (besonders seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) verzeichnet ein Schreiber aber mehrere Namen, so dass die Zahl der notierten Besucher über der der Inschriften liegt. Nach dem Durchbruch des Stollens mit dem heutigen Zugang nimmt die Zahl der Graffiti spürbar ab, offenbar weil das „Abenteuer“, das zuvor mit einem Einstieg in die Höhle und vor allem mit einem Erreichen der hinteren Teile (Schillersaal, Virchowgang und Weißer Saal) verbunden war, nun spürbar abnahm. Dennoch finden sich auch aus den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts einige Dutzend Namenszüge; einzelne Namen und Initialen stammen auch noch aus der jüngeren Vergangenheit.

Die angeführten Einschränkungen bringen es mit sich, dass nur etwa die Hälfte der Namen und diese auch nur ansatzweise zu entziffern ist; sichere Lesungen ließen sich maximal für ein Viertel erarbeiten. Dies würde aber für alle Inschriften einen übergroßen Zeitaufwand erfordern. Hier werden daher nur die so sicher wie möglich durch eine Jahreszahl oder eine Schriftbestimmung in den Erfassungszeitraum der „Deutschen Inschriften“ (bis Ende 1650) einzuordnenden Inschriften wiedergegeben. Dabei wird dem heutigen Weg eines Besuchers folgend vorgegangen. Ich beginne also mit dem „Weißen Saal“ (Höhle IV) und folge dann dem Weg durch die Höhle: „links“ und „rechts“ bezeichnen die Wände nach dieser Wegrichtung. Die Angaben IMG_1178 o. ä. (mit dem Datum der Aufnahme) beziehen sich auf die Nummer des oder der jeweils einschlägigen Fotos in der Fotodokumentation, die in der Arbeitsstelle der Inschriftenkommission der Göttinger Akademie der Wissenschaften vorhanden ist.

Neben einer Inschrift aus dem 15. Jahrhundert sind datierte Inschriften im Berichtszeitraum nur aus dem 16. Jahrhundert ermittelt worden. Zehn Inschriften finden sich im „Weißen Saal“ (A,1–10), von [Druckseite 317] denen sieben zwischen 1518 bis 1566 entstanden sind; drei sind nicht datiert, darunter eine Inschrift in Latein (A,10). Im Virchowgang, hinter dem der engste Kriechgang folgte, sind es sechs Inschriften, zwei zusammengehörige aus dem Jahr 1558 (A,12 u. A,14), eine von 1571 und drei nicht datierte. Unter diesen ist eine, die Jhesus anruft (A,13), die ein Parallelstück bereits im „Weißen Saal“ hat (A,9). Im „Schillersaal“ schließlich findet sich einerseits die mutmaßlich älteste und zugleich längste Inschrift in der Höhle aus dem 15. Jahrhundert mit einem deutschsprachigen Text (A,17), auf die bereits Favreau 1907 aufmerksam gemacht hat,8) sowie drei Einträge aus dem 16. Jahrhundert (1519 bis 1577). Die Inschrift von 1519 (A,20; die Jahreszahl ist nicht ganz sicher) könnte den Fund von „Einhorn“ dokumentieren.

Aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts finden sich keine datierten Inschriften.9) Schreibende Besucher scheint es erst nach dem Dreißigjährigen Krieg wieder gegeben zu haben. Aus der 2. Hälfte des Jahrhunderts liegen acht sicher identifizierte Graffiti mit Jahreszahlen vor (zweimal 1667, 1669, 1684, 1685, 1688, 1689 u. 1696), aus dem 18. Jahrhundert sind es um die 60, darunter fünf aus den 1720er Jahren, 13 aus den 1730ern, 11 aus den 1770ern, sechs aus den 1780ern und neun aus 1790ern.

Zitationshinweis:

DI 105, Altkreis Osterode, Anhang, Die Graffiti in der Einhornhöhle bei Scharzfeld (Jörg H. Lampe), in: inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di105g021e106.

  1. Vgl. Nielbock, Einhornhöhle, S. 4f. u. 24f. Reinboth, Darstellungen der Einhornhöhle, bes. S. 45f., 48–50 u. 60f. Zu den Durchbrüchen bes. Favreau, Ausgrabungen, S. 529–531. »
  2. Nielbock, Einhornhöhle, S. 6–8, 10–16 u. 39–44. Reinboth, Darstellungen der Einhornhöhle, bes. S. 46. »
  3. Reinboth, Darstellungen der Einhornhöhle, bes. S. 48–50. Favreau, Ausgrabungen, S. 527–532. Nielbock, Einhornhöhle, S. 21–23, 26f. u. 34. »
  4. Letzners Bericht, geschrieben für den 4. Band seiner ungedruckten Braunschweig-Lüneburgischen Chronik, liegt in mehreren Abschriften vor; Reinboth und Vladi haben Letzners eigenhändigen, zwischen 1587 und 1593 entstandenen Entwurf des Abschnitts (HAB Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 48 Extrav., fol. 278v–279r) sowie die ausgearbeitete Version von 1597 (in einer späteren Abschrift erhalten in der GWLB Hannover, Ms. XXIII, 227b, fol. 183r–186r) ediert; Reinboth/Vladi, Letzners Beschreibung, hier S. 80, 82 u. 85f. Beim genauen Datum des Besuchs (29. Mai bzw. 27. Juni) besteht ein Widerspruch zwischen den Handschriften; dazu ebd., S. 86, Anm. 46. »
  5. Reinboth/Vladi, Letzners Beschreibung, S. 85. Nielbock, Einhornhöhle, S. 15. »
  6. Reinboth, Darstellungen der Einhornhöhle, S. 47f. (mit Literaturangaben). Nielbock, Einhornhöhle, S. 14–20. »
  7. Eine chemische Analyse der Schreibmaterialien hat nicht stattgefunden. Die Ausführungen beruhen allein auf Beobachtungen. Der Arzt August Scheffer aus Magdeburg berichtete nach einem Besuch in der „Baumannshöhle“ im Jahr 1663 von Namen, die mit „Kreide, Kohle, Röthel und anderen Sachen geschrieben“ wurden; zit. bei Laub, Alte Inschriften, S. 1. Vgl. K. Bürger, Die Baumannshöhle. Geschichte eines Harzer Naturdenkmals, in: Zeitschrift des Harz-Vereins, 63. Jg., 1931, S. 82–106, hier S. 104. »
  8. Favreau, Ausgrabungen, S. 529. Nach Favreau hat sich erst Laub 1986 wieder exemplarisch mit den Inschriften beschäftigt, darunter A,14 u. A,17. »
  9. Favreau nennt eine Jahreszahl 1632, die (nach meiner Orientierung) auf der rechten, nördlichen Seite des „Schillersaals“ nach dem Virchowgang angebracht sein müsste, die ich aber nicht gefunden habe. »