Inschriftenkatalog: Stadt Lemgo

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 59: Lemgo (2004)

Nr. 73 Breite Str. 19 / Ballhaus, Markt 3 1571

Beschreibung

Fenstersturz und Brüstungstafeln. Steinhaus mit Staffelgiebel, Auslucht und Erker an der Ecke zur Heustraße, sogenanntes Hexenbürgermeisterhaus. Bruchstein, verputzt, mit Werksteingliederung aus rötlichem Sandstein. Die nach Osten gewandte Fassade wurde im 20. Jahrhundert mehrfach restauriert, ihre Ornamentik und Bauplastik teilweise ergänzt, die heutige Farbfassung ist modern.1) Kräftig profilierte Gesimse trennen Erd- und Zwischengeschoß vom Obergeschoß, dem ehemaligen Speicherstock, und gliedern den dreigeschossigen Staffelgiebel. Die Geschoßteilung ist durch schwere, geschoßweise gestaffelte Halbsäulen rhythmisiert, die am Giebel auf Lücke stehen. Muschelgefüllte, volutenartig eingerollte Halbkreisbögen verbinden die mit Obelisken besetzten Giebelstaffeln. Die oberste Staffel ist von einem Dreiecksgiebel bekrönt und zeigt unterhalb eines Okulus eine Standfigur Christi als Salvator Mundi in einer Rundbogennische. Unten ein reich geschmücktes Deelenportal und rechts daneben am Zwischengeschoß ein Erker sowie links außen als Pendant eine zweigeschossige Auslucht, deren beider Giebelchen die Formen des Hauptgiebels abwandeln.2) Portal, Erker und Auslucht sind mit umfangreichem Bildschmuck versehen. Über dem Portal ist auf Oberlicht-Höhe der Sündenfall dargestellt, auf dem Portalgesims stehen links und rechts die vollplastischen Figuren Adams und Evas beiderseits des Baums der Erkenntnis am Mittelpfosten. Dieser unterbricht die am Oberlichtsturz in zwei eingetieften Schriftzeilen erhaben ausgeführte Bauinschrift A.

Die insgesamt sieben Frontplatten der Brüstungen von Auslucht-Obergeschoß und Erker bilden formal und ikonographisch eine Einheit. Die Auslucht trägt in der Mitte die beiden Wappen der Hausbesitzer, gehalten von Engelsfiguren und begleitet von den Tugenden Fides links und Spes rechts. Diese vier Reliefplatten aus rötlichem Sandstein wurden 1926(?) durch Kunststeinkopien ersetzt.3) Drei der Originale befinden sich seit 1976 im Treppenhaus des Ballhauses, Markt 3, die vierte, stark beschädigte Platte mit dem Wappen Kruwel ist außen am Haus Breite Str. 19 über der Hoftür angebracht. Am Erker folgen von links nach rechts die Tugenden Fortitudo, Caritas und Justitia.4) Die Flachreliefs zeigen die Tugenden als Sitzfiguren auf schlichten Kastenbänken in Rundbogennischen mit Blütenmotiven in den Zwickeln. Einzeilige Tituli (B–F) im rahmenden Nischenbogen, erhaben in eingetieftem Schriftfeld, bezeichnen die Figuren. Die am Haus befindlichen Inschriften sind farbig gefaßt, die Bauinschrift (A) in Gold, die Tituli in Rot, alle auf Blau; die Originale im Ballhaus (B, C) lassen keine Farbfassung mehr erkennen.

Maße: H. 58,5–59 cm; B. 50,5–52 cm (Reliefs); Bu. ca. 10 cm (A), ca. 3,5 cm (B–F).5)

Schriftart(en): Kapitalis.

AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften [1/17]

  1. A

    IN · GADES · NAMEN · VNDE // CHRISTVS · FREDE ·HEFT / DVT · HVES · HERMAN · KRVWEL // BVET · AN · DISE STEDE · A(NN)O · 1571

  2. B

    · FI//DES ·

  3. C

    · SP//ES ·

  4. D

    · FORTIV//DO ·

  5. E

    CHAR//ITAS ·

  6. F

    · IVST//ICIA ·

Übersetzung:

In Gottes Namen und unter dem Schutz Christi hat Hermann Kruwel dieses Haus an dieser Stätte erbaut im Jahr 1571. (A)

Der Glaube. Die Hoffnung. Die Stärke. Die Liebe. Die Gerechtigkeit. (B-F)

Versmaß: Gereimte Prosa (A).

Wappen:
Kruwel6)Fürstenau7)

Kommentar

Schrägliegende Kapitalis mit relativ engstehenden Buchstaben, unter denen I und H am Versanfang und im Vornamen des Bauherrn durch ausgebuchteten Schaft oder Querbalken als Initialen hervorgehoben sind. Deutlicher Wechsel von Haar- und Schattenstrichen bei N und M sowie keilförmig verbreiterte Schaft- und Balkenenden – besonders bei A, L und V – und Sporenbildung, dabei sind die Sporen von A, C, H, N und S teilweise umgebogen und beim S auch gekerbt. Kennzeichnende Buchstaben sind E und F mit kurzen Querbalken, R mit kleinem Bogen und geschwungener Cauda, K mit geschwungenen Schrägbalken, M mit fast bis zur Mittellinie reichendem Mittelteil; A mit deutlich verbreiterten unteren Schaftenden und entweder leicht nach rechts umgebogener Spitze oder nach links überstehendem Deckbalken. Die Kapitalis der Tituli (B–F) zeigt bei den einzelnen Buchstaben dieselben Charakteristika, ist aber nicht schrägliegend und gedrungener. In Inschrift A am Versende jeweils ein Worttrenner in Form einer Rosette, sonst Quadrangeln und Dreispitze.

Hermann Kruwel gehörte zu einer der Lemgoer Familien, die durch erfolgreichen Hansekaufhandel über Generationen die soziale und wirtschaftliche Führungsschicht der Stadt bildeten. Der wohlhabende Textilkaufmann besaß beträchtlichen Grundbesitz, heiratete 1555 Elisabeth Fürstenau aus einer gutsituierten Herforder Familie und erbaute sich ca. 1568 bis 1571 an der damaligen Hauptstraße der Lemgoer Neustadt das repräsentative steinerne Wohnhaus.8) Dessen Baumeister ist archivalisch nicht faßbar, allgemein akzeptiert ist jedoch die kunsthistorische Zuschreibung des Gebäudes an Ludolf Crosmann und der Fassade an Hermann Wulff, zwei in Lemgo ansässige, renommierte Baumeister.9) Die aufwendige Bürgerhausfassade verbindet profane Selbstdarstellung mit christlichem Bekenntnis. Dabei spielen Anbringungsort und Inhalt der gereimten Bauinschrift zusammen: Über dem Portal, auf einer Ebene mit den sündigen Stammeltern, dokumentiert der Bauherr seinen Hausbau im Vertrauen auf Gott und Christus. Gemäß der protestantischen Antithese von Sündenfall und Auferstehung Christi ist dem ersten Menschenpaar des Portals als Giebelfigur der auferstandene Salvator Mundi gegenübergestellt.10) Der Welterlöser ist ‚Schirmherr‘ des Bildprogramms, das die christlich-bürgerliche Tugendhaftigkeit des Bauherrn und seiner Ehefrau bezeugen sollte.

Nach seinem Rückzug aus dem aktiven Geschäftsleben war Hermann Kruwel seit 1579 bis zu seinem Tod 1582 Lemgoer Bürgermeister.11) Das Haus, das noch zu seinen Lebzeiten der Sohn Christian erhielt, verlor die Familie jedoch schon bei dessen Konkurs 1595. Den Namen „Hexenbürgermeisterhaus“ erhielt es erst nach seinem späteren Besitzer Hermann Cothmann († 1683), der zwischen 1663 und 1682 etwa 90 Mitbürger wegen angeblicher Zauberei zum Tode verurteilen und hinrichten ließ und deshalb als „Hexenbürgermeister“ in die Lemgoer Geschichte einging.

Anmerkungen

  1. BKD Lemgo, S. 648f. Einzelberichte 1962–66, S. 350f.; 1977–79, S. 542, 1980–84, S. 603.
  2. Auslucht und Erker scheinen nicht zum ersten Entwurf gehört zu haben, sondern sind vermutlich erst infolge eines Planwechsels während der Errichtung oder kurz nach Vollendung der Fassade hinzugefügt worden; vgl. BKD Lemgo, S. 648 u. 655.
  3. BKD Lemgo, S. 582f. mit Abb. 665–667, S. 654.
  4. Bei der Fassadenrestaurierung 1963/64 sollen am Erker einige stark verwitterte Reliefs neu angefertigt worden sein (Einzelberichte 1962–66, S. 350f., ohne nähere Angaben, ob es sich dabei um Inschriften tragende Reliefs handelte). Die BKD Lemgo (S. 654f.) enthalten keinen entsprechenden Hinweis.
  5. Maßangaben für die Brüstungsplatten nach den Original-Reliefs im Ballhaus.
  6. Wappen Kruwel (zwei gekreuzte dreizinkige Hacken).
  7. Wappen Fürstenau (Hausmarke BKD Lemgo, S. 975, Nr. 30 zwischen zwei sechsstrahligen Sternen).
  8. Zur Biographie des Bauherrn, Bau- und Besitzgeschichte des Hauses zusammenfassend: BKD Lemgo, S. 648. Fred Kaspar, Das Hexenbürgermeisterhaus in Lemgo als Beispiel bürgerlichen Wohnens zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 1984, S. 7–20. Stiewe, Bürger, S. 104–106. Ein Herman Cruwell ist 1563 als Lemgoer Bürger in der Marien-Bauerschaft belegt; vgl. Bürgerbuch, Nr. 844. Hermann Kruwel war, vermutlich seit 1533, Mitglied des Lemgoer Kaufmannsamtes; vgl. Matrikel des Kaufmannsamtes, Nr. 459.
  9. Die baugeschichtlichen Eckdaten ergeben sich aus dem Datum 1568 am Saalkamin mit dem gleichen Wappenpaar (vgl. Nr. 64) und der Bauinschrift von 1571. Deren Zuschreibung an Hermann Wulff geht zurück auf Otto Gaul; vgl. Kat. Renaissance, Bd. 1, Nr. 424, S. 241 (mit der älteren Literatur). In Lemgo ist Hermann Wulff erstmals 1565 mit dem Bau der Rathauslaube faßbar (vgl. Nr. 59).
  10. Vgl. José Kastler, Die Sündenfall-Reliefs am Schloß Brake – Ausdruck konfessioneller Konflikte am Hofe Simons VI. In: Kat. Renaissance, Bd. 2, S. 128–144, hier S. 131f., Abb. 41 (Portal). Renate Jürgens, Malerei und Plastik im Bereich der „Weserrenaissance“ – ein Überblick. In: Kat. Renaissance, Bd. 2, S. 71–92, hier S. 76. Das Thema des ersten Menschenpaares begegnet mehrfach an Bauten Hermann Wulffs, so an einem Portal des Schlosses Hessisch-Oldendorf, ebenfalls in vollplastischen Figuren; sowie als Relief über dem Portal am Nordflügel des Schlosses Brake, in beiden Fällen fehlt jedoch die Gestalt des Erlösers.
  11. Zum weiteren Schicksal der Witwe vgl. Meier, Geschichte, S. 91–94. Elisabeth Fürstenau starb am 9. September 1591; Sta Lemgo, Plögersche Sammlung (Kruwel).

Nachweise

  1. Zeiß, Zeichnung, dat. 1863, LLB Detmold, Lippe-Bildsammlung, 4 L 1,85.
  2. Hausinschriften in Lemgo. In: Lemgoer Sonntagsblatt 1880, Nr. 5, 31. Oktober (A).
  3. Preuß, Alterthümer2, S. 67 (A).
  4. Dewitz, Zeichnungen, dat. 1882, LLB Detmold, Lippe-Bildsammlung, 4 L 85 (A unvollständig), 4 L 86–90 (B–F).
  5. Henrici, Reiseaufnahmen, Bl. 15 (D–F).
  6. Wehrhan, Hausinschriften, S. 52 (A ohne Datum).
  7. Rädeker, Häuser, S. 67 (A).
  8. Weerth, Hausinschriften, S. 36 (A ohne Datum).
  9. Meier, Geschichte, S. 90 (A).
  10. BKD Lemgo, S. 652 (A) mit Abb. 743 u. S. 654 (B–F).
  11. Fred Kaspar, Das Hexenbürgermeisterhaus in Lemgo als Beispiel bürgerlichen Wohnens zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert. Bielefeld 1984, S. 21 (A) mit Abb.

Zitierhinweis:
DI 59, Lemgo, Nr. 73 (Hans Fuhrmann, Kristine Weber, Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di059d006k0007304.