Inschriftenkatalog: Stadt Lemgo

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 59: Lemgo (2004)

Nr. 108 Rathaus, Neue Ratsstube / Echternstr. 6 1589

Beschreibung

Gebälkfriese und Fenstersäulen an der Neuen Ratsstube. Der südliche der vier Einzelbauten, die die Marktfront des Rathauskomplexes bilden, schließt im Osten an den Saalbau, im Norden an das sogenannte ‚Winteppenhaus‘1) an. Schlichter Südgiebel zum Altstadtscharren, Marktfassade nach Westen mit Doppelerker.2) Auf bestehendem spätgotischen Erdgeschoß, das sich marktseitig in zwei flachbogigen Arkaden öffnet, wurde als neues Obergeschoß die Ratsstube als verputzter Bruchsteinbau errichtet, die Gliederung und der Erker aus rötlichem Sandstein. Der Erker wurde wegen Baufälligkeit 1958/59 vollständig abgetragen und in originalgetreuer Kopie unter weitgehender Wiederverwendung der inschriftentragenden Teile neuaufgeführt.3) 1978 Neufassung in Weiß, Werkstein in Brauntönen abgesetzt. Der sehr breite, weit vorkragende Doppelerker ruht mit zwei Flachbögen auf Konsolen, die unmittelbar über den drei Pfeilern der beiden Erdgeschoßarkaden ansetzen. In der Mitte der niedrigen Erkerbrüstung eine flache Rundbogennische im Zwickel über der mittleren Konsole, darin ein von einem Engel gehaltener Wappenschild mit der Lippischen Rose. Als Brüstungsabschluß und Basis der Fensterzone ein Gebälk mit fünf konsolartigen Verkröpfungen. Darüber markieren fünf ionische kannelierte Ziersäulen die Hauptachsen, reich ornamentierte Zwischenpfosten unterteilen die Front in vier dreibahnige Fenster, die Schmalseiten mit nur einer Fensterbahn. Das darüberliegende Deckgebälk trägt zwei gleichartige Giebel mit geschweiftem Umriß, Kugelknäufen sowie Masken mit Fruchtgehängen. Beschlagwerkbänder rahmen die Giebelflächen und umschließen mittig je ein Vollwappen. Die Erkerfront trägt je eine einzeilige Mahnung am Gebälkfries über (A) und unter (B) der Fensterzone, erhaben in eingetieftem Feld. Beide Inschriften sind teilweise erneuert.4) Zwei zusammengehörige Fragmente der unteren Inschrift (B, ASSERITE bis PIOS) sind an der Rückseite des Hauses Echternstraße 6 erhalten. Die fünf Fenstersäulen zeigen am unteren Schaftdrittel Tugenden im Flachrelief vor Beschlagwerk. Die stehenden, antikischen Frauengestalten mit kennzeichnenden Attributen sind in Kopfhöhe durch erhaben ausgeführte Tituli in eingetieftem Feld bezeichnet: Fides (C), Prudentia (D), Justitia (E), Fortitudo (F), Temperantia (G). Bis auf die Mittelsäule sind die originalen Säulen wiederverwendet, das stark verwitterte Original der Justitia ist heute im Treppenhaus des Saalbaus aufgestellt. Alle Inschriften sind in Gold gefaßt, die am Haus Echternstr. 6 eingebauten Fragmente der Inschrift B in Gold auf Blau.

Maße: Bu. ca. 8 cm (A, B), ca. 4 cm (C–G).

Schriftart(en): Kapitalis.

AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften [1/15]

  1. A

    DER OBRIGKEIT DAS WOL STEHT AN ,FVR IHR GEMEIN GVTH SORG ZV HAN :DIE VNTERTHANEN AVCH DABEIIHRR OBRIGKEIT GEHORSAM SEIDOCH WIS , DAS BEID DAS AVGE MERK ,VND DAS OHR HOR , IST GOTTES WERCK

  2. B

    IVDICIIS INOPES DEFENDITE , SVSCIPITE ORBOS //ASSERITE OPPRESSOSa) , IVSTIFICATE PIOS . //REDDITE PAVPERIBVS IVS , ERIPITE INSVPER IPSOS //SI QVOS IN VINCLIS IMPIVS HOSTIS HABETPSL 82 5)

  3. C

    FIDES

  4. D

    PRVDENTIA

  5. E

    IVSTITIA

  6. F

    FORTITVDO

  7. G

    TEMPE/RANT[IA]

Übersetzung:

Verteidigt die Armen in Prozessen, nehmt euch der Waisen an, widmet euch den Bedrängten, rechtfertigt die Frommen. Gebt den Armen das Recht zurück, überdies rettet jene, wenn sie der gottlose Feind in Fesseln hält. (B)

Der Glaube. Die Klugheit. Die Gerechtigkeit. Die Stärke. Die Mäßigung. (C–G)

Versmaß: Deutscher Reimvers (A), elegische Distichen (B).

Wappen:
Lippe oder Lemgo6)
Lippe7)Holstein-Schaumburg-Sternberg8)

Kommentar

Die Inschriften sind in einer regelmäßig gehauenen Kapitalis mit verhältnismäßig breiten Buchstabenelementen ausgeführt. Abgesehen von einer leichten Rechtsneigung zeigen die Inschriften keine auffälligen Besonderheiten; F mit kurzem Mittelbalken, gerades M mit kurzem Mittelteil, zweistöckiges Z, R in unterschiedlicher Ausführung mit gewölbter und durchgebogener Cauda.

Das Obergeschoß der Neuen Ratsstube errichtete der Baumeister Georg Crosmann im Jahr 1589. Der Bau kostete 300 Taler.9) Durch ein Empfehlungsschreiben des Lemgoer Rates an den Rat von Stadthagen aus dem Jahr 1592 wurde letzterer über die Fähigkeiten Crosmanns in Kenntnis gesetzt. Da der Stadthagener Rat ein neues Gebäude errichten wollte, das mit gehauwenen steinen zierlich gemacht werden sollte und einen entsprechend befähigten Baumeister suchte, empfahl der Lemgoer Rat Crosmann uneingeschränkt und wies darauf hin, daß der Baumeister am Lemgoer Rathaus die Neue Ratsstube, eine Repositur und anderes gebaut habe. Das Zeugnis enthält auch den Hinweis, daß Crosmann sehr fähig sei, Bilder und anderes in Stein zu hauen und zu staffieren, also farbig zu fassen.10)

Die am Giebel befindlichen Wappen stehen für den zur Bauzeit regierenden Grafen Simon VI. zur Lippe und seine Gemahlin Elisabeth von Holstein-Schaumburg. Zu dem in der Anbringung der Wappen dokumentierten engen Verhältnis der Stadt Lemgo zu den Landesherren in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vgl. Nr. 59.

Textkritischer Apparat

  1. An dem am Haus Echternstr. 6 eingemauerten Original OPP[RES]SOS. Die Fehlstelle erscheint für drei Buchstaben zu knapp, daher möglicherweise ehemals OPPRESOS.

Anmerkungen

  1. Winteppe = Weinzapfer. Vgl. dazu BKD Lemgo, S. 470f., u. Nr. 111, Anm. 1.
  2. Zur Einordnung der Neuen Ratsstube innerhalb des Rathausensembles s. Nr. 33.
  3. BKD Lemgo, S. 474, 502, 534–537, Abb. 539 (Neue Ratsstube von Nordwesten, vor 1895), Abb. 608 (Neue Ratsstube, Westseite, 1980). Auf der Südseite des Erkers die Inschrift ERNEUERT 1958.
  4. In der Literatur gehen die Angaben dazu auseinander: laut Einzelberichten Denkmalpflege 1953–61, S. 138, erfolgte die Erkererneuerung 1958/59 unter „Wiederverwendung ... des Hauptspruchbandes“; in den BKD Lemgo heißt es im baugeschichtlichen Überblick (S. 502), der obere Fries (A) sei im Original erhalten, laut Baubeschreibung (S. 535) handelt es sich um eine Kopie, während der untere Fries (B) original erhalten sein soll.
  5. Nach Ps 81,3f. Die Kapitelangabe der Bibelstelle nach der Zählung der Lutherbibel, nicht nach der Vulgatazählung.
  6. Lippische Rose, vgl. Siebmacher/Hefner, Wappenbuch, Bd. 1, Abt. 1, Teil 1, S. 46 u. Tafel 102.
  7. Wappen Lippe (quadriert: 1. u. 4. Lippe, 2. u. 3. Schwalenberg), vgl. Siebmacher/Hefner, Wappenbuch, Bd. 1, Abt. 1, Teil 1, S. 46 u. Tafel 102.
  8. Wappen Holstein-Schaumburg-Sternberg vgl. ebd., Bd. 1, Abt. 1, Teil 2, S. 35 u. Tafel 39.
  9. BKD Lemgo, S. 502. Die Quelle konnte nicht verifiziert werden.
  10. Sta Lemgo, A 2063.

Nachweise

  1. Preuß, Alterthümer2, S. 52.
  2. Meier, Rathaus, S. 24 (A).
  3. BKD Lemgo, S. 535; Abb. 608, S. 534 u. Abb. 610/1, S. 536.

Zitierhinweis:
DI 59, Lemgo, Nr. 108 (Hans Fuhrmann, Kristine Weber, Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di059d006k0010801.