Inschriftenkatalog: Stadt Lemgo

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 59: Lemgo (2004)

Nr. 72† Breite Str. 53 um 1570, 1593

Beschreibung

Schwellbalken. Dreigeschossiges giebelständiges Fachwerkhaus, Ende des 19. Jahrhunderts abgebrochen.1) Das zweite Obergeschoß und der Giebel kragten über Stichbalken vor, wie eine Fotografie (um 1870) und Zeichnungen (1873 und 1882) mit Teilansichten der Fassade zeigen. Deren Fachwerkbestandteile trugen reiche Zierschnitzereien, auf den Brüstungstafeln Fächerrosetten, in drei Feldern des zweiten Obergeschosses figürliche Darstellungen. Auffallend war die Verzierung der Eckständer mit aus Vasen hervorwachsenden Akanthusranken, die sich auf einem breiten Fries oberhalb der Fenster des zweiten Obergeschosses fortsetzten. Erhalten sind von den beschnitzten Holzteilen lediglich die drei figürlichen Reliefs der Obergeschoßbrüstung.2) Die Giebelschwelle trug in der Mitte die erbauliche Sentenz A, erhaben in eingetieftem Schriftfeld. Weiter oben am Giebel war, vermutlich mit einer weiteren Inschrift verbunden, ein Datum angebracht (B).3) Auch der rückwärtige Giebel trug reich verzierte Balken und Brüstungstafeln mit Fächerrosetten und anderem Ornament.

Inschrift A nach Fotografie, ergänzt nach Clemen, Dewitz und BKD Lemgo; Inschrift B nach Clemen.

Schriftart(en): Kapitalis.

Lippische Landesbibliothek Detmold, Signatur: 4 L 95 [1/1]

  1. A

    ATERa) DANTEb) DEO LIVOR4) NEc) PROFICITb) HILVM:NIL LABOR EST ILLO SED RETRAHE[NTE MANVM] 5)

  2. B

    ANNO DOMINI 159[3]d) [V].M[D]Ie)

Übersetzung:

Wenn Gott gibt, hat der hämische Neid nicht den geringsten Erfolg. Alle Mühe ist aber umsonst, wenn er seine Hand zurückzieht. (A)

Versmaß: Elegisches Distichon, einsilbig zäsur- und endgereimt (Versus collaterales) (A).

Kommentar

Die Kapitalis enthält A mit beidseitig überstehendem Deckbalken, R mit geschwungener Cauda, konisches M mit kurzem Mittelteil und kleines hochgestelltes T.

Die Zierschnitzereien werden stilkritisch um 1570 datiert und demselben Meister zugeschrieben wie diejenigen am Haus Breite Str. 47. Die Jahreszahl 1593 dagegen gilt als zeitlicher Anhaltspunkt für einen möglichen Umbau, bei dem die beschnitzten Fachwerkbestandteile des oberen Giebelgeschosses entfernt wurden.6) Sinn der religiösen Sentenz in lateinischen Versen ist: Mit Gottes Hilfe ist der Mensch vor böswilligen Neidern geschützt, ohne seine Unterstützung bleibt alle seine Mühe jedoch vergeblich. Der zweite Teil des Spruchs entspricht konkret auf den Hausbau bezogen sinngemäß Ps 126 (127),1 Wenn der Herr nicht das Haus baut, so mühen sich diejenigen, die es bauen, umsonst. Die erhaltenen Reliefbilder gehören zu den raren Belegen figürlicher Darstellungen an Lemgoer Häuserfassaden. Eine Szene illustriert das Gleichnis Jesu vom Kritiker, der den Splitter im Auge seines Bruders moniert, aber den Balken im eigenen Auge nicht sieht (Mt 7,3–5; Lc 6,41–43), ein moralisierender Wink an den Betrachter, vor dem negativen Urteil über seinen Mitmenschen Selbstkritik zu üben.

Textkritischer Apparat

  1. Cauda des R fehlt (Fotografie um 1870).
  2. T kleiner und hochgestellt (Fotografie um 1870).
  3. NEC(?) korrigiert in nec Clemen. Sicher lesbar ist NE, wobei das E beschädigt ist. Grammatikalisch korrekt wäre die Verneinung mit non. Die Wendung proficere hilum ist in Verbindung mit non und neque belegt. Vgl. C. Lucilius, Saturarum fragmenta (in aliis scriptis servata) LLA 148 [Ref. nach Cetedoc], v. 1021, p. 69, u. v. 1375, p. 94.
  4. 1593 BKD Lemgo (dort nur die Jahreszahl). Clemen kennzeichnet die letzte, nicht mehr lesbare Ziffer durch Punktlinien.
  5. Möglicherweise verstümmelter Rest des abgekürzten Spruches Verbum Domini manet in aeternum (1 Pt 1,25).

Anmerkungen

  1. BKD Lemgo, S. 672 (1876 abgebrochen). Kaspar, Fachwerkbauten, S. 136 (1893 abgebrochen).
  2. Die fünffeldrige Brüstung zeigte im ersten Feld links außen eine Darstellung des Gleichnisses vom Balken im Auge (Mt 7, 3–5; Lc 6, 42) und rechts der Mitte, im dritten und vierten Feld einander zugewandt, Löwe und Greif; die beiden übrigen Brüstungsbohlen trugen Fächerrosetten. Die drei figürlichen Reliefs wurden beim Abbruch von Pastor Rothert gerettet und befinden sich seit 1936 an dessen Haus in Münster, Martin-Luther-Str. 18. Vgl. BKD Lemgo, S. 672; Gaul, Zierschnitzereien, S. 71.
  3. Oberhalb seines ersten Geschosses war der Giebel vermutlich schmucklos bis auf die Inschrift B und eine nicht sicher bestimmbare, auf einer Kugel stehende Figur (Fortuna?) am Mittelständer (Fotografie um 1870). Vgl. BKD Lemgo, S. 673 zu Abb. 771.
  4. Die eher seltene Verbindung ater livor findet sich bei Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii, lib. 5, par. 566, ed. James Willis, Leipzig 1983, S. 201.
  5. Die Wendung retrahere manum / manus ist biblischer Sprachgebrauch vgl. Ios 10,6 und Gn 38,29; dort allerdings in anderem Kontext.
  6. BKD Lemgo, S. 672f. (um 1570); Rädeker, Häuser, S. 67 (um 1576); Gaul, Zierschnitzereien, S. 70 (um 1580).

Nachweise

  1. Fotografie, um 1870, WAfD Münster (Foto Ohle Lemgo): Teilansicht vom zweiten Obergeschoß und ersten Giebelgeschoß ohne das rechte Gefach (A).
  2. Clemen, Zeichnung, dat. 1873, LLB Detmold, Lippe-Bildsammlung, 4 L 95,1: Inschriften und Skizze der Fassade (A, B).
  3. Preuß, Alterthümer1, S. 68 (A).
  4. Dewitz, Zeichnung, dat. 1882, LLB Detmold, Lippe-Bildsammlung, 4 L 95: zweites Obergeschoß und erstes Giebelgeschoß (A).
  5. Rädeker, Häuser, S. 67f. (A).
  6. BKD Lemgo, S. 672f. (A, B) mit Abb. 771 (Foto Ohle Lemgo).

Zitierhinweis:
DI 59, Lemgo, Nr. 72† (Hans Fuhrmann, Kristine Weber, Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di059d006k0007206.