Inschriftenkatalog: Landkreis Hersfeld-Rotenburg

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 91: Hersfeld-Rotenburg (2015)

Nr. 97 Neukirchen (Haunetal), Evangelische Kirche 1499

Beschreibung

Gußjahr, Gebet und liturgischer Text auf einer Glocke im Glockenturm (12/23/127C). Inschrift (A) läuft zwischen doppelten Stegen auf der Schulter um. Auf der Flanke sind zwei große Medaillons (Dm. 12,5 cm) mit identischen Darstellungen der Heiligen Sippe angebracht. Auf einer durchgehenden Bank sitzt in der Mitte Anna, die Mutter der Maria und Großmutter Christi. Zu ihrer Rechten stehen Josef und Maria, sowie deren Halbschwester Maria Salome mit ihrem Mann Zebedeus. Vor ihnen auf der Bank sitzen das Christuskind sowie die beiden Kinder der Maria Salome, Johannes Evangelist und Jacobus maior. Zu Annas Linken stehen hinter der Bank ihr Ehemann Joachim sowie ihre Tochter Maria Kleophas mit ihrem Mann Alpheus. Davor sitzen die vier Kinder aus dieser Verbindung, Jacobus minor, Simon Zelotes, Joseph Iustus gen. Barnabas/Barsabbas und Judas Thaddäus. Alle Kinder halten Spruchbänder, deren Text auf dem Abdruck der Glocke aber nicht leserlich ist. Auffälligerweise tragen nur die Frauen einen Nimbus, während die Männer (außer Joachim) durch spitze Judenhüte gekennzeichnet sind. Zu Füßen Annas sitzen zwei musizierende Engel, und über ihrem Haupt schweben drei Engel, die ein Spruchband mit der Inschrift (B) halten. Grundlage der Abbildung ist ein Model.1) Nur mit Hilfe von dessen Original bzw. Abdrücken sind Teile der Beischriften (C) identifizierbar.2) Als Worttrenner dienen in (A) Kreuze und in (B) Quadrangel.

Ergänzt mit Bode/Volbach (wie Anm. 1) (C).

Maße: H. 62, Dm. 80, Bu. 3 (A), 0,4 (B, C) cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versal.

© ADW Göttingen (Sabine Wehking) [1/3]

  1. A

    anno + d(omi)ni + m + cccc + xcix + ave + maria3) xxxxxa)

  2. B

    Gloria // ∙ in ∙ excelsis // ∙ deo4)

  3. C

    [ioh(ann)es evangelista] // iacob(us) maiorb) // ihes[us ch]rist[us] //c) iacob(us) minorb) / [sy]mon / ios[eph]us iustus / iudas [tat]he[us]d)

Kommentar

Die Abbildung der Heiligen Sippe in den beiden Medaillons erklärt sich aus der im Spätmittelalter stark gewachsenen Verehrung für Anna und ihre Familie, die mit einer häufigen Darstellung dieses Themas verbunden war.5) Auffälligerweise fehlen hier allerdings die beiden weiteren Ehemänner der Anna, Kleophas und Salomas.

Das Medaillon mit der Darstellung der Heiligen Sippe erscheint fünfzehn Mal in identischer Weise auf den Glocken des Erfurter Gießers Heinrich Ciegeler (1496–1524).6) Da auch sonst Beziehungen aus dem Raum Hersfeld-Rotenburg zu Glockengießern in Thüringen bestanden, wie die von Stefan Hofmann für Nentershausen gegossene Glocke zeigt (Nr. 95),7) könnte die vorliegende Glocke sehr wohl von Ciegeler gegossen worden sein,8) zumal hier auch die für Ciegelers Güsse typischen flachen Minuskeln9) wiederkehren.

Eine etwas ältere Glocke von 1493 soll im I. Weltkrieg abgeliefert worden sein;10) besser bekannt ist jedoch nur eine von 1471 (Nr. 68).

Textkritischer Apparat

  1. Die fünf x dienen offenbar als Zeilenfüller.
  2. Hier lasen Bode/Volbach (wie Anm. 1) wechselnd minor und maior; Arens, Verwendung 114 Nr. 15 mit Taf. 24 bietet dazu nichts, liest nicht, sondern übernimmt Bode/Volbach. Anscheinend stammt auch die Lesung bei Poettgen, Heinrich Ciegeler 102 aus Bode/Volbach. Die vorliegende Lesung stimmt mit der Genealogie der Hl. Sippe überein.
  3. Übergang auf die rechte Seite.
  4. Bode/Volbach nannten Iosephus iustus nicht; lasen cacheus wohl falsch für tatheus, so Poettgen, Heinrich Ciegeler 102. Auch die Transkriptionen zur anderen Heiligen Sippe, vgl. Bode/Volbach (wie Anm. 1) 129 Nr. 34 u. Taf. II, 2, stimmen nicht.

Anmerkungen

  1. Berlin, Kunstgewerbemuseum, Inv.Nr. 86166, abgebildet bei Bode/Volbach, Mittelalterliche Ton- und Steinmodel, Taf. II, 3, beschrieben ebd. S. 129 Nr. 35 und bei Schilling, Glocken 338 zu Abb. Nr. 407.
  2. Weder Schilling, Glocken (wie Anm. 1) noch Ernst Schubert in DI 9 (Lkr. Naumburg) Nrr. 411, 420, 421 konnten von Abdrücken auf den Glocken lesen.
  3. Beginn des „Ave Maria“.
  4. Incipit des Gloria im Ordo missae, nach Lk 2,14 und Antiphon der Weihnachtsmesse, vgl. Corpus antiphonalium officii Bd. 3, 236, Nr. 2946.
  5. Dörfler-Dierken, Verehrung der heiligen Anna 15–17.
  6. Poettgen, Heinrich Ciegeler 101 f.
  7. Vgl. Einleitung Kap. 4.2, am Ende eine knappe Statistik.
  8. Freundlicher Hinweis von Jörg Poettgen, Overath.
  9. So schon Schubert in DI 9 (Lkr. Naumburg) Nr. 411. Die Buchstabenformen Ciegelers bei Schilling, Glocken 152 f. Abb. 303–314.
  10. So Haase, Geschichte 35.

Nachweise

  1. Kietzell, Kirche von Neukirchen 49 (tw.).
  2. Sturm, Bau- und Kunstdenkmale des Fuldaer Landes II 278 (A).

Zitierhinweis:
DI 91, Hersfeld-Rotenburg, Nr. 97 (Sebastian Scholz und Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di091mz14k0009707.