Inschriftenkatalog: Landkreis Hersfeld-Rotenburg

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 91: Hersfeld-Rotenburg (2015)

Nr. 34 Bad Hersfeld, Evangelische Stadtkirche, vom Pestfriedhof      1356–ca. 1360

Hinweis: Die vorliegende Online-Katalognummer ist im Vergleich zum gedruckten Band mit Ergänzungen und Korrekturen versehen. Sie finden diese am Ende des Artikels. [Dorthin springen]

Beschreibung

Gedenkinschrift außen an der Ostwand des südlichen Schiffs, neben der ins Eck an den Chor gebauten Vorhalle. Schlegel lokalisiert 1721: „Nempe ad ostium magnum, ab ea parte qua ad chorum itur, hi leguntur versiculi“. Auf der Tafel aus rotem Sandstein ist die Inschrift in vier durch Linien voneinander abgetrennten Zeilen angebracht; an den seitlichen Rändern ist das Inschriftfeld nach hinten gerundet. Vor allem am oberen und unteren Rand ausgebrochen.

Maße: H. 35, B. 106, Bu. 6 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien, erhaben.

© Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Brunhild Escherich) [1/3]

  1. Anno milleno ter c semel la) q(uoque) senoDe tumidab) peste q(ue)c) tu(n)c viguitd) ma(n)ifesteEx vi divina cecideru(n)t miliae) trinaHic svbterrata req(ui)esca(n)t pace beataf)

Übersetzung:

Im Jahre 1000, dreimal 100, einmal 50 und sechs (1356). Aufgrund der schwellenden Pest, die damals offenbar in voller Kraft stand, starben durch die göttliche Gewalt 3000, die hier beerdigt worden sind. Sie mögen in heiligem Frieden ruhen.

Versmaß: Vier Hexameter, leoninisch zweisilbig rein gereimt.

Kommentar

Die erhabene Schrift ist nur leicht erhöht in flachen, aber breiten Bändern ausgeführt. Die Versalien der Versanfänge entstammen der gotischen Majuskel und sind in gedrungener (außer A) Proportion flächig mit breiten Bogenschwellungen geformt, die noch keine Anspitzung besitzen. Nur beim D ist der Bogen nach innen gerundet (Innenschwellung). Dieses Merkmal fehlt beim unzialen E, das jedoch einen Abschlußstrich besitzt, der etwa zwei Drittel der Breite des rechten Schaftes von A aufweist. Die Buchstaben sind in dieser Form 1356, aber auch wenig später möglich. Die Kombination von Minuskeln mit Majuskelversalien läßt sich schon früh auf herausragenden Arbeiten wie der wohl zwischen 1335 und 1337 geschaffenen Tumbenplatte für den Mainzer Erzbischof Matthias von Bucheck und der zwischen 1335 und 1338 gefertigten Tumbenplatte für den Mainzer Erzbischof Peter von Aspelt nachweisen,1) aber auch auf dem Hochgrab des hl. Wigbert und den Grabplatten des Johann von Falkenburg und des Werner Grebe in der Stiftskirche zu Fritzlar von 1340, 1348 und 1351;2) bei den Denkmälern in Fritzlar, zu dem es von Hersfeld aus wegen der gemeinsamen Wigbert-Verehrung engere Beziehungen gab als nach dem fernen Mainz, sind alle Schriften ebenfalls erhaben gearbeitet, jedoch etwas stärker reliefiert. Beachtenswert ist auch die übereinstimmende Verwendung der Majuskelversalien an den Versanfängen, obwohl das in Hersfeld und Fritzlar (Wigbert) wegen der zeilenweisen Ordination der Inschriften nicht nötig gewesen wäre.

Bei den Minuskeln fehlen bei l, m, n, r und langem s zum Teil die unteren Brechungen des Schaftes, der stumpf auf der Zeile endet. Dasselbe Phänomen läßt sich bei den Buchstaben l, m und n auf der Grabplatte des Johann von Falkenburg in der Stiftskirche zu Fritzlar von 1348 beobachten.3) Der linke Bogen des v in vi ist gerundet, doch zeigt die Tumbenplatte für Peter von Aspelt in viceno ein vergleichbares v; dort findet sich auch das t mit rechts weit überstehendem Balken.4) Auffällig bei der Hersfelder Inschrift ist allerdings das flachgedeckte g, das sich sonst in frühen Minuskelinschriften nicht nachweisen läßt; es fällt durch seine Schleifenform ohnehin aus dem üblichen Rahmen und ist auch nicht mit den späten flachgedeckten Versionen vergleichbar. Außer beim g zeigt die Inschrift somit einen Duktus, der 1356 durchaus möglich ist, weil neben den Majuskeln mehrheitlich frühe Erscheinungen vorkommen. Die Formulierung De tumida peste que tunc viguit manifeste („Aufgrund der schwellenden Pest, die damals (!) offenbar in voller Kraft stand“)5) könnte jedoch darauf hindeuten, daß die Inschrift nicht 1356, sondern etwas später geschaffen wurde, als die Vorgänge schon eine Zeit zurücklagen, also in den Augen des Verfassers „damals“ vorgefallen waren. Da es andererseits um das Gedenken an die bei der Pest Verstorbenen ging, sollte man nicht mit einem zu großen zeitlichen Abstand rechnen. Höchstwahrscheinlich entstand die Inschrift in den Jahren bald nach 1356.

Die 1347 auf dem Seeweg nach Europa eingeschleppte Pest brach in Deutschland wohl 1349 aus, doch läßt sich ihre Verbreitung nicht gut verfolgen, da für etliche Städte überhaupt keine Quellen über den Ausbruch der Pest vorliegen.6) Viele Städte blieben relativ lange von der Pest verschont. So brach auch in Würzburg die Pest erst 1356 aus, in Nürnberg sogar erst 1359.7) Es ist jedoch fraglich, wieweit der in der Inschrift angegebenen Opferzahl vertraut werden kann, da sich die in zeitgenössischen Quellen genannten Zahlen für andere Orte und Regionen als höchst unzuverlässig erwiesen8) und die Zahl von 3000 Pesttoten im Jahr 1356 für Hersfeld angesichts der geringen Größe der Stadt weit überzogen erscheint. Die Inschrift, so wird man beim Fehlen weiterer Zeugnisse zur Pest in Hersfeld konstatieren müssen, markiert entweder den verzögerten Ausbruch der Seuche in Hersfeld und gibt mit der gerundeten Opferzahl 3000 nur einen Hinweis auf die große Menge der Toten, oder sie ist lediglich als ungefähre Bilanz einer 1356 endenden Krise zu verstehen.9) Den Schrecken der Zeit nahm man zum Anlaß, jenen zahlreichen anonym bestatteten Toten, die gewiß nur selten mit den Gnadenmitteln der Kirche versehen worden waren, durch die eindringliche Mahnung zur Fürbitte Heil zu verschaffen. Wegen der unsicheren Deutung und zeitlichen Einordnung taugt die Inschrift nicht dazu, die Verfolgung und Vertreibung der Juden, deren Güter Abt Johannes von Elben mit Hilfe der Bürger der Stadt Hersfeld im Jahr 1350 beschlagnahmte,10) auf den Ausbruch der Seuche zurückzuführen oder aus dem Zusammenhang mit der Pest zu lösen. Eine Verfolgung der Juden vor dem Ausbruch der Pest ist freilich für einzelne Orte bekannt, weil die schon ältere religiöse Kriminalisierung dafür den Boden bereitet hatte. Die Hersfelder Quellen berichten nur von Enteignung, nicht von Exzessen der Gewalt.

Michael Fleck machte auf die Ausbrüche am Stein aufmerksam und erkannte darin ein Indiz, daß die Tafel ausgebaut und an den heutigen Standort verbracht wurde. Wie man an den runden Seitenrändern sieht, war sie ursprünglich doch eher einer Wand aufgelegt als bündig eingemauert. Richtig ist aber die Überlegung, sie müsse von einem kapellenartigen Bau oder – weniger wahrscheinlich – von einer Mauer beim vor der Stadt gelegenen Totenhof, einem Pestfriedhof, an die Stadtkirche versetzt worden sein; darüber weiß man freilich überhaupt nichts. Das Hic des vierten Verses meint also nicht zwingend die Umgebung des heutigen Standortes.11) Hic svbterrata wirkt andererseits zu konkret, als daß man diese Ortsangabe von einer Anbringung an der Stadtkirche aus gesehen auf das Vorland der Stadt beziehen könnte. Auch diese Überlegung legt eine Herstellung der Inschrift kurz nach 1356 nahe.

Gemäß der Inschrift kam in der Pest Gottes Zorn zum Ausdruck. Die Menschen starben letztlich „durch die göttliche Gewalt“, wie es die Inschrift formuliert, die sich der Pest als Hilfsmittel bediente. Diese Vorstellung ist in jener Zeit auch sonst allgemein verbreitet. Die gelehrten ärztlichen Pesttraktate lehnten es allerdings fast alle ab, in der Seuche einen Ausdruck des Zorns Gottes zu sehen.12)

Textkritischer Apparat

  1. l fehlt bei Demme.
  2. rabida Schlegel; timenda Demme; tabida Butte.
  3. o Demme.
  4. vigint Demme.
  5. mitia Demme. Demmes Übersetzung ist näher am richtigen Text.
  6. Letzter Vers fehlt bei Schlegel.

Anmerkungen

  1. DIO 1 (Mainz), Nrr. 38, 39.
  2. DI 14 (Fritzlar) Nrr. 13, 16, 22.
  3. DI 14 (Fritzlar) Nr. 16. Dieses Phänomen wird gewöhnlich frühen Verwendungen der Minuskel zugeschrieben, vgl. DI 43 (Rheingau-Taunus-Kreis) LXXf. mit Anm. 508 u. Nr. 66 zu 1346; DI 45 (Goslar) Nr. 20 zur Glocke von 1314(?). Neumüllers-Klauser, Schrift und Sprache erwähnt dieses Phänomen unter den frühen Problemen der Herstellung nicht, weist es aber im Frühbeleg der Minuskel auf der Platte der Agnes de St. Amant († 1296) aus dem Kloster Bonport (heute in Rouen) nach.
  4. Vgl. die Abbildung bei Scholz, Totengedenken 45 und die Schriftbeschreibung bei Anm. 1.
  5. Nach Fleck übersetzt als: „An der schwellenden Pest, die damals weithin sichtbar wütete“.
  6. Bulst, Der Schwarze Tod 142–144 und kritisch Vasold, Grippe 50–53.
  7. Bulst, Der Schwarze Tod 143 f.; vgl. auch Bergdolt, Pest 44.
  8. Bulst, Der Schwarze Tod 144; Bergdolt, Pest 46.
  9. Hier ist der kritischen Betrachtung zu den Verhältnissen in Hersfeld bei Fleck unbedingt zuzustimmen, der für die Pestepidemien des 17. Jahrhunderts in Hersfeld zwischen 100 und 500 Toten per annum ansetzte. Diese Zahlen sind realistisch, da für zum Höhepunkt der Krise zwischen August und Oktober 1635 420 Tote gezählt wurden, die nicht alle einer Seuche erlagen, vgl. Demme, Nachrichten II 42. Im Übrigen beläuft sich die Zahl der Einwohner Hersfelds im Spätmittelalter, auch abschätzbar an der Zahl der Häuser, auf weit unter 1000.
  10. Urkunde des Abtes Johannes von Elben, vgl. Demme I 18 u. 122, Beilage 22; Butte 32 u. ders., Judenverfolgung 33 zu gegenüber Demme verbessertem Text; zu Johannes von Elben vgl. auch Nr. 211/AAA.
  11. So etwa gegen Demme. Auf die Bestattung der Pesttoten außerhalb hatte schon Zillinger, Friedhof 6 aufmerksam gemacht.
  12. Bulst, Der Schwarze Tod 147–150.

Nachweise

  1. Schlegel, Abbatia, fol. 138r.
  2. Demme, Nachrichten I 18, Anm. 2.
  3. Butte, Peststein.
  4. Butte, Stift und Stadt 32, Anm. 4.
  5. Hörle, Hersfelder Inschriften (vor 1513) 125.
  6. Neuhaus, Geschichte Hersfeld 87.
  7. Ley, Friedhöfe 78.
  8. May, Hersfelder Inschriften 29 (Abb.).
  9. Wiegand, Kulturdenkmäler 158 (Abb.).
  10. Fleck, Lateinische Inschriften Hersfeld 33 mit Abb.
Addenda & Corrigenda (Stand: 22. Juli 2022):

Hinweis zum Kommentar:

Zum ursprünglichen Anbringungsort der Inschrift erwog Ernst-Heinrich Meidt (Der Peststein an der Hersfelder Stadtkirche. „Nichts ist unerwartet oder neu“ – Wir erinnern uns daran in der ausklingenden Corona-Krise, in: Mein Heimatland. Zeitschrift für Geschichte, Volks- und Heimatkunde 59/6 (2020), S. 23) zwei Alternativen, nämlich die alte Pfarrkirche auf dem Frauenberg, wo sich der erste Friedhof der Stadt befand, oder die Umgebung des Siechenhauses bei der alten Klauskirche im Nordosten vor der Stadt.

Die Pest des 14. Jahrhunderts (oder auch spätere Seuchenzüge) betreffende Inschriften gehen, soweit bekannt, nicht auf genaue Opferzahlen ein. So wird auch die in der Inschrift genannte Zahl von 3000 Toten nur eine ungefähre sein, die die große Zahl der Opfer anschaulich machen sollte. Ob dieser Zahl eine höhere Bedeutung unterliegt darf man nur vermuten, denn die wenigen biblischen Belege für die Zahl 3000 lassen sich größtenteils ausschließen. Nur die Tötung von 3000 um das goldene Kalb Tanzenden durch die Leviten könnte sich, nach den Kommentaren des Hrabanus Maurus zum Buch Exodus zu urteilen (vgl. Heinz Meyer/Rudolf Suntrup, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen (Münstersche Mittelalterschriften 56) München u. a. 1987, Sp. 863), auf die Pesttoten beziehen lassen, da die Tötung mit der auf dreifache Weise, nämlich in Taten, Worten und Gedanken, ausgeführten Sünde begründet wird und Sündhaftigkeit samt nachfolgender Strafe Gottes als ein Erklärungsmodell der Pest gilt, hier sich nur anspielungsweise in vi divina manifestierend. Die den Text abschließende Fürbitte relativiert diese Überlegung.

In Kassel hielt man mittels einer auf 1357 datierten Inschrift fest, dass nur ein Drittel der Einwohnerschaft überlebte, vgl. Christian Presche, Kassel im Mittelalter. Zur Stadtentwicklung bis 1367 I (Kasseler Beiträge zur Geschichte und Landeskunde 2/1) 513 mit Anm. 2390 zu der ebenfalls versifizierten lateinischen Inschrift an der Martinskirche. In Sontra (Werra-Meißner-Kreis) steht auf dem Grabstein des Ulfener Pfarrers Johann Bornmann (!) von 1628 (!) die genaue Zahl der 1626 an der Pest verstorbenen Einwohner, nämlich 547, vgl. Ilse Gromes, Sontra im Dreißigjährigen Krieg, in: Hess. Heimat 25/4 (1975), 105-108, hier 107 m. Abb. 9, in Übereinstimmung mit Aufzeichnungen des Sontraer Pfarrers Schimmelpfennig. Nach der Inschrift des Steines starben übrigens im Jahr 1623 137 Personen an der Roten Ruhr. Bornmann starb allerdings erst 1653 in Allendorf, vgl. DI 87 (Werra-Meissner-Kreis I, Altkreis Witzenhausen) Nr. 177. Zeitstellung der Rückseite 1708 (Grabinschrift der Tochter Beate) und komplizierte Umstände der Entstehung werden in DI Werra-Meißner-Kreis II geklärt werden.

Für die Zeit der großen Pest warnt Presche 506 m. Anm. 2369 methodisch gut begründet vor zu großem Vertrauen in scheinbar gut überlieferte Opferzahlen. Die Nachricht aus Ulfen dürfte eine Ausnahme bilden und ist fast 300 Jahre nach der „Großen Pest“ mit jener nicht zu vergleichen.

Zitierhinweis:
DI 91, Hersfeld-Rotenburg, Nr. 34 (Sebastian Scholz und Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di091mz14k0003402.