Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 314† Kleiner Sandberg 22 † 1600

Beschreibung

Portal mit Inschriften und reichem Skulpturenschmuck emblematischer Art, ursprünglich am Haus Leipziger Straße 6, vor Neubebauung des Grundstücks 1898–19001) als Hoftor versetzt und am neuen Standort auf dem Kleinen Sandberg bei der Beschießung der Stadt 1945 zerstört.2) Großes Rundbogenportal mit Sitznischen, ornamental reliefiertem Bogengewände und einem Löwenkopf als Scheitelstein. Neben den Bogenkämpfern Kopfkonsolen, die Büstenhermen (mit Jahresangabe E) und ein den Portalbogen überdeckendes verkröpftes Gebälk tragen. In den Bogenzwickeln Reliefs des Sol mit Fackel und einer Abbildung der Sonne (links) sowie der Diana mit Pfeil und Bogen und einer Abbildung des Mondes (rechts).3) Über den Hermen vollplastische Personifikationen der Justitia mit Schwert und Waage (links) und der Wasser einschenkenden Temperantia (rechts).4) Dazwischen, über dem Scheitelstein des Portals, Samson im Kampf mit dem Löwen. Die figürlichen Allegorien an jeder der beiden Portalseiten durch Bild- bzw. Namensbeischriften, die in rechteckigen Kartuschen über den Sitznischen angebracht sind, aufeinander bezogen (links A, rechts C). Zwischen den das Portal bekrönenden Figuren ursprünglich zwei querovale Kartuschen mit Rollwerkrahmung und Fruchtgebinden. Darauf emblematische Subscriptiones (links B und rechts D), die die bildlichen Darstellungen zusammenführen und auslegen. Bei Umsetzung des Portals auf den Kleinen Sandberg die Kartuschen an anderer Stelle eingemauert.5) Die Inschriften B und D erhaben.

Nach Denkmäler 4, 1899, E nach BKD Prov. Sachsen NF 1.

Schriftart(en): Kapitalis.

Ältere Denkmäler der Baukunst und des Kunstgewerbes in Halle a. S., IV. Heft, Halle 1899, Taf. 8 [1/1]

  1. A

    SOL / IVSTITIAE

  2. B

    SPLENDIDA IVSTITIAE / SIMSON SPECTATVRa) / IMAGO /IMMANEMb) MANIBVS / DVM NECATc) IPSE / FERAM

  3. C

    LVNA / TEMPERAN/TIAE

  4. D

    IVSTITIAE SOROR EST / QVAE TEMPERAT OMNIA / VIRTVS /HANC NOTAT OCCISAEd) / MEL QVOD AB ORE / CADITe)

  5. E

    [ANNO DOMINI // 1600]f)6)

Übersetzung:

A Die Sonne der Gerechtigkeit.

B Als leuchtendes Bild der Gerechtigkeit ist Samson anzuschauen, während er das wilde Ungeheuer mit den Händen tötet.

C Der Mond der Mäßigung.

D Die Schwester der Gerechtigkeit ist die Tugend, die alles lindert. Diese bezeichnet der Honig, der aus dem Maul des getöteten (Ungeheuers) tritt.

E Im Jahr des Herrn 1600.

Versmaß: Zwei elegische Distichen (B, D).

Kommentar

Der erste Buchstabe jedes Verses ist überhöht.

Samsons Kampf mit dem Löwen (Ri 14,5–6) war ein seit frühchristlicher Zeit bekanntes Gleichnis auf die Überwindung des Bösen.7) Durch den Begriff der IVSTITIA wird der Löwenbezwinger als Typus Christi gedeutet (B), der auch den Beinamen SOL IVSTITIAE, wie er in Inschrift A und einem älteren Grabgedicht des Stadtgottesackers (s. Anhang 1, Nr. 56) auftaucht, trägt. Die Gleichsetzung Christi mit der „Sonne der Gerechtigkeit“ des Propheten Maleachi (Mal 3,20) und die Auslegung dieser Schriftstelle als Sinnbild der Auferstehung geht schon auf frühchristliche Autoren zurück.8) IVSTITIA wird in diesem Zusammenhang als die eschatologische Rechtfertigung verstanden, die durch den Sieg Christi über das Böse (d. s. Sünde, Tod und Teufel) wirksam ist.

Allegorie und Begriff der Justitia evozieren aber auch das Jüngste Gericht, dessen Urteil nicht nur gerecht, sondern auch maßvoll sein sollte. Die eher seltene Deutung der Bienen als Symbol der Mäßigung ist zwar schon bei mittelalterlichen Autoren zu finden,9) wird hier aber erst durch die programmatische Verbindung mit der Allegorie der Temperantia sinnfällig. Sie beschwört das milde Urteil, das der Mensch wegen Christi Sieg über Sünde und Tod erwarten darf.10) So wie aus dem Leib des getöteten Löwen Gutes erwächst (D), so entspringt der Überwindung des Todes das Heil. Die Hoffnung auf einen gerechten Richter bzw. auf ein gerechtes und barmherziges Urteil äußert sich seit dem späten 16. Jh. auch mehrfach in Grabinschriften.11)

Die Bezugnahme auf das Gericht leitet zu einer weiteren Deutungsebene über, die weniger eine religiöse als eine ethische Aussage im Blick hat. Justitia und Temperantia, Gerechtigkeit und Mäßigung, sind auch Tugenden, die insbesondere einem Richter gut zu Gesicht stehen – wie es Samson in Israel war. Diese Sicht läßt sich auch gut mit einer zeitgenössischen emblematischen Auslegung des Samsonmotivs verbinden, die den biblischen Helden zum Pazifikator macht. Die alttestamentliche Geschichte vom Löwen, der von Samson erschlagen wurde und in dessen Maul dann Bienen nisteten (Ri 14,5–9), war der Emblematik des 17. Jh. als Gleichnis auf die neuen Wohlstand verheißende Überwindung des Krieges bekannt.12) Unter diesem Blickwinkel thematisierte das Programm das Ethos eines irdischen Richters, das aber höherem, göttlichen Gesetz, personifiziert durch Sol Justitiae und Luna Temperantiae, unterworfen bleibt. Diese Deutung rückt das Portalprogramm in die Nähe der sogenannten Gerechtigkeitsbilder, die Richter zu einem maßvollen und gerechten Urteil auffordern,13) weil jeder irdische Richter sich selbst letztendlich vor einem höheren, dem göttlichen, zu verantworten hat.

SOL wurde als bärtiger (d. h. reifer Mann) dargestellt, der aber sicherlich dem bartlosen (d. h. jugendlichen) Apollon gleichzusetzen ist, der auch als Sonnengott Helios verehrt wurde.14) Seine Fackel symbolisiert das Licht der Sonne. Am gegenüberliegenden Bogenzwickel ist seine SOROR (D), die Jagdgöttin Artemis bzw. Diana, abgebildet, die in antiker Tradition auch LVNA, die Mondgöttin, verkörpert.15)

Das Bild-Text-Programm hat mehrere Deutungsebenen, die sich nur aus unterschiedlichen Blickrichtungen erschließen, was eine kohärente Deutung erschwert. Das aus christlich-humanistischen Allegorien geschöpfte Programm war in Halle einzigartig. Auftraggeber war Jakob Michael (Mühlbeck) (1559–1613), der das Haus 1599 erworben hatte.16) Jakob Michael war von 1592 bis 1599 Burggraf und seit 1594 Ratsmeister von Halle (s. Nr. 378). Damit hatte er zeitweilig die zwei höchsten städtischen Ämter inne, von denen das erste mit besonderer Vollmacht und Verantwortung begabt war. Der Burggraf war Richter im dreimal jährlich tagenden Burggrafengericht, mit der Befugnis, Strafen an Leib und Leben aussprechen zu dürfen.17) Mit dem Skulpturenportal an seinem Haus bekundete Jakob Michael ein Amtsethos, das einer gottesfürchtigen Gesinnung unterworfen war. Ehrfurcht vor dem Richter des letzten Gerichts spricht auch aus der Grabinschrift Jakob Michaels (Nr. 378).

Die Zuschreibung des Prunkportals an den Schöpfer der Kanzel der Moritzkirche, Zacharias Bogenkrantz, wurde durch die jüngsten Forschungen von Sebastian Schulze nicht bestätigt.18) Schäfer bezweifelt die Entstehung des Portals im Jahr 1600 und glaubt es erst nach 1689 als Portal des Gerichtshauses der Pfälzer Immigranten geschaffen.19) Dem stehen künstlerischer Stil und inschriftliche Datierung eindeutig entgegen.

Textkritischer Apparat

  1. SPECTATVR] spectatus Steffen, Schultze-Galléra.
  2. IMMANEM] Nexus litterarum unsicher.
  3. NECAT] Negat Steffen.
  4. OCCISAE] Sic! Das Genus entspricht FERAM in Inschrift B.
  5. CADIT] Bei Denkmäler 4, 1899 nicht sicher lesbar.
  6. ANNO DOMINI 1600] Bei Denkmäler 4, 1899 nicht erkennbar. 1601 vom Hagen, Schultze-Galléra.

Anmerkungen

  1. Schultze-Galléra 1920, S. 70 f.; Brülls/Honekamp 1996, S. 271, 273. Vgl. die Abb. bei Denkmäler 4, 1899, Taf. 8; Schäfer 1948, S. 22. Nach Steffen 1904, Taf. 9 soll das Portal bereits 1896 abgetragen, nach Steffen 1914, S. 245 aber erst 1909 umgesetzt worden sein.
  2. Eine Fotografie vom letzten Standort bei Harksen 1961, S. 1099 (Abb. 9).
  3. Vgl. auch BKD Prov. Sachsen NF 1, S. 419 f.
  4. Bei Knauth 1857, S. 803 et al. als Themis und Hebe bezeichnet.
  5. Weiske 1930, S. 30. Vgl. Abb. 9 bei Harksen 1961, S. 1099 (ohne B und D!).
  6. Nach BKD Prov. Sachsen NF 1, S. 420 die Inschrift auf beide Hermen verteilt.
  7. Die Samsonlegende bei Ri 13–16. Zur Deutung als Gleichnis s. LCI 4, 1994, Sp. 30–38, insbesondere 30 und 36 f. (Wolfger A. Bulst). Zum Löwen als Symbol des Bösen s. LCI 3, 1994, Sp. 112–119, insbesondere 115 f. (Peter Bloch).
  8. Dölger 1918, S. 100–110, insbesondere 104 f. Analog die Gleichsetzung Gottes mit dem „Licht der Gerechtigkeit“ nach Ps 37,6; vgl. Schild 1988, S. 49.
  9. RDK 2, 1948, Sp. 547 (Liselotte Stauch).
  10. Zur Rechtfertigung durch den Glauben s. Einleitung, S. XLI f.
  11. Vgl. Nr. 297, 303, 362, 378.
  12. Henkel/Schöne 1996, Sp. 401.
  13. Vgl. LCI 2, 1994, Sp. 134–140 (Rainer Kahsnitz); zur motivischen Vielfalt frühneuzeitlicher Gerechtigkeitsbilder vgl. Pleister/Schild 1988, passim.
  14. Vgl. Pauly 1, 1964, Sp. 441–448 (Wolfgang Fauth); Pauly 2, 1967, Sp. 999–1001 (Hans v. Geisau).
  15. Vgl. Pauly 1, 1964, Sp. 1510–1512 (Werner Eisenhut); Pauly 3, 1969, Sp. 779 f. (Werner Eisenhut). Die LVNA TEMPERANTIAE bedarf allerdings noch der vertiefenden Deutung.
  16. StAH H C 39, 1, fol. 8v.
  17. Dreyhaupt 2, 1750, S. 350 f.; vgl. auch Lück 1995 und Einleitung, S. XIII.
  18. Ruhmer 1950, S. 125 f.; Schulze 2010, S. 63–110.
  19. Schäfer 1948, S. 22 f. Der Hinweis auf das Pfälzer Gericht auch bei Knauth 1857, S. 803; Schultze-Galléra 1920, S. 70; Weiske 1930, S. 30. Näheres zu diesem seit 1689 tätigen Gericht bei Dreyhaupt 2, 1750, S. 536 f.

Nachweise

  1. Knauth 1857, S. 803.
  2. vom Hagen 1, 1867, S. 178 (A–D, E unvollständig).
  3. BKD Prov. Sachsen NF 1, S. 419 f.
  4. Denkmäler 4, 1899, Taf. 8 (Abb.).
  5. Steffen 1914, S. 246.
  6. Schultze-Galléra 1920, S. 70 f. (A–D, E unvollständig).
  7. Weiske 1930, S. 30 f. (A–D).

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 314† (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0031402.