Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 295(†?) Marktkirche 1596, 1666, 1784

Beschreibung

Schalldeckel der Kanzel, geschnitzt und gefaßt, vielfach – zuletzt zwischen 1968 und 1975 – restauriert.1) Skulpturengeschmückter und an allen Teilen reich dekorierter Aufbau mit der Grundfläche eines achtstrahligen Sterns, wobei sich anstelle des achten, nach Süden gerichteten Strahls der Langhauspfeiler befindet, an dem der Schalldeckel befestigt ist. Umrahmt von vielgestaltigem Ornament findet sich an der Schmalseite jedes Strahls des Schalldeckels eine Kartusche mit Putto, ausgenommen die nach Süden gewandten Schmalseiten, wo den Kartuschen Jahreszahlen eingeschrieben sind (E).2) Unter dem Schalldeckel schwebt die Taube des Heiligen Geistes in einem Strahlenkranz. Auf den Spitzen des Schalldeckels kleine Postamente mit Engeln, die die Leidenswerkzeuge Christi vorweisen; auf dem Schalldeckel ein hoher siebenstrahliger, säulengetragener Baldachin von geringerer Ausladung. Dieser Aufsatz überdacht ein Kruzifix und die sitzenden Evangelisten, denen die symbolischen Wesen beigegeben sind. Zwei der Evangelisten halten aufgeschlagene Bücher, auf deren Seiten die Meisterinschriften B, C und D stehen; die zwei anderen halten Täfelchen, die Inschriften aus dem 18. Jh. tragen.3) Auf dem Baldachin erhebt sich der verklärte Christus, flankiert von Moses mit den Gesetzestafeln (A)4) und Elias. Vor ihnen knien Petrus, Johannes und Jakobus. Die Inschriften A (?) und E geschnitzt, die übrigen mit Rötel aufgetragen; die Kanzel vielfach restauriert und neu gefaßt.

B–D nach Kirchner.5)

Maße: H.: ca. 300 cm; B.: ca. 350 cm.

Schriftart(en): Hebräische Schriftzeichen (A).

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Markus Scholz [1/1]

  1. A

    אנכי / יהוה / אלהך / לא תש(א) / זכור / את ים / השבת 6) //(ככד / לא תר(צח) / לא תן(אף) / לא תגן(ב) / לא תע(נה) / לא תח(מד) / לא תחמ(ד 7)

  2. B (†?)

    M(eister)a) henricus Heyden Reitter der hatt diesse Bilder gesnittzett am gantzem Werk An(n)o 1596. M(eister)a) hans stelwagen Discher diessen Brediger stul gemacht Anno 1596. Ludwig Weis sein Gessell.

  3. C (†?)

    von Hubenscheinb) M(eister)a) hennericus Heitereiter Der hat die bilter geschnitzet. Deaternusc) Heyer sein geselle. Hans stelwagen der Meister, der die Kunst gemacht hat. Lodewicus Weiss ein geselle. Georgius ströter der ander geselle. Wolff Wagener der 3 geselle (15)96.d) Samuel Karpwig.

  4. D (†?)

    1666 hat Herr Michel Beier diese Kantzel gestaffiret undt die Decke wieder ausgeputzet mit Weis. sein gesel gewessen Heinrich Kuhrs. Christopf Beier sein sohn Halle den 28 October 1666.

  5. E

    1784 // 1596

Übersetzung:

A Ich (bin) der Herr, dein Gott. Du sollst nicht miß(brauchen) (...). Denke an den Tag des Sabbats. // Ehre (...) Du sollst nicht tö(ten). Du sollst nicht eheb(rechen). Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht (falsch) ant(worten). Du sollst nicht bege(hren) (...). Du sollst nicht begeh(ren) (...).

Kommentar

„Die Dekalogfassung (A) stammt aus Ex 20,2–17 und erscheint hier in der Einteilung und Zählung nach Luthers Kleinem Katechismus, d. h., auf der rechten Seite stehen drei Gebote, auf der linken sieben. Da das 2. Gebot לא תעשה, ‚Du sollst dir kein Abbild machen‘, entfällt bzw. als ‚Sonderfall‘ unter das erste Gebot gezählt wird, rückt das 3. Gebot an die zweite Stelle. Dafür wird das 10. Gebot, hier auf der linken Seite, geteilt und nun als 9. und 10. Gebot gezählt.“8)

Die Inschriften B bis D sind anläßlich der Instandsetzung des Schalldeckels 1760 von Johann Georg Kirchner aufgezeichnet worden. Es ist fraglich, ob sie und andere, nach 1650 angebrachte Inschriften die schwere Schädigung der gesamten Kirchenausstattung durch austretenden Heizungsdampf im Jahr 1967 überdauerten. Der Anfang der Inschrift C von Hubenschein bezieht sich vielleicht auf den Herkunftsort des Meisters. Die Fehllesung des Namens Maternus (Deaternus in Inschrift C) läßt vermuten, daß es sich bei seinem Versal wie bei allen anderen Großbuchstaben um einen Frakturbuchstaben handelt.9)

Über die Bildschnitzer und Tischler ist wenig bekannt. Henricus Heydenreitter war vielleicht mit dem hauptsächlich zwischen 1611 und 1626 in Kiel, Hamburg und Lübeck nachweisbaren Henning Heidtreiter (auch Heidtrider) verwandt. Dieser kam vermutlich aus Hamburg, wo der Name häufig war.10) Der Tischler Hans Stelwagen war aus Schwäbisch-Gmünd nach Halle eingewandert11) und hat vermutlich mit dem sogenannten Bräutigamsgestühl der Marktkirche sein erstes Meisterwerk geliefert (Nr. 292). Die Fassung des Schalldeckels besorgte der Maler Heinrich Lichtenfelser.12) Der Maler Michael Beyer ist als Schöpfer eines Gemäldezyklus für die Moritzkirche hervorgetreten (Nr. 521). Die Jahreszahl 1784 hält wohl das Jahr einer weiteren Instandsetzung fest.

Textkritischer Apparat

  1. Meister] Ergänzt nach dem ausgeschriebenen Wort in Inschrift C.
  2. Hubenschein] Oder: Huttenschein Kirchner.
  3. Deaternus] Sic! Lies Maternus. Draternus Runde, der aber auch die Lesung Maternus erwägt.
  4. 1596.] Minderzahl.

Anmerkungen

  1. Zur Geschichte der Kirche und ihrer Ausstattung s. Einleitung, S. XXII f.
  2. Die ältere Jahreszahl befindet sich auf dem südöstlichen, die jüngere auf dem südwestlichen Strahl. Beide Inschriften sind von der Südempore aus sichtbar.
  3. Die umfangreichen Inschriften aus den Jahren 1710 und 1760 betreffen Instandsetzungen des Schalldeckels und sind bei Kirchner 1761, Sp. 341 f. (Anm. g), 341–344 (Anm. i), 348 abgedruckt. Wahrscheinlich wurde auch der hebräische Gottesname, der sich einst unter dem Schalldeckel befand (Kirchner 1761, Sp. 344), bei einer solchen Instandsetzung hinzugefügt.
  4. Die hebräischen Verse sind wie üblich von rechts nach links wiedergegeben.
  5. Die Inschriften B bis D konnten nicht in Augenschein genommen werden, da die in ca. sechs Meter Höhe befindlichen Inschriftenträger ohne geeignete technische Hilfsmittel nicht erreichbar sind.
  6. 2 Mo 20,2 und 20,7–8.
  7. 2 Mo 20,12–17.
  8. Für die Lesung, Kommentierung und Übersetzung der hebräischen Inschriften sei Herrn Jens Kotjatko-Reeb M. A., Halle (Saale), herzlich gedankt.
  9. Eine Ausformung des M-Versals, die eine ähnliche Fehllesung begünstigte, zeigt eine Inschrift aus dem Jahr 1609; DI 62 (Lk. Weißenfels), Nr. 227.
  10. Thieme/Becker 16, 1923, S. 266 f. (R.). Gegen eine Gleichsetzung beider, die bei Harksen 1984, S. 23 erwogen wird, spricht der Umstand, daß der Name Henning sich nicht von Heinrich (henricus, hennericus), sondern von Johannes herleitet; vgl. Bahlow 1999, S. 228 f.
  11. Schulze 2010, S. 270. Kilian Stelwagen, der 1609 einen Tisch für die Marienbibliothek geliefert hat (Jahn 2, 1889, o. S.), ist vermutlich ein Verwandter gewesen.
  12. Herrfurth 2009, S. 180 nach einem Manuskript Heinrich L. Nickels von 1993; zu H. Lichtenfelser s. Nr. 266.

Nachweise

  1. Kirchner 1761, Sp. 327 f. (Anm. g: D), 339 f. (Anm. c: B, C).
  2. Runde 1933, S. 59 f. (B unvollständig, C), 61 (D).

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 295(†?) (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0029503.