Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 270 Moritzkirche (1590–1592), 1616

Beschreibung

Kanzel aus Sandstein mit hohem Fuß am fünften Pfeiler der Südseite, einer den Pfeiler umziehenden Treppe und einem Treppenportal. Am runden Kanzelkorb und an der Treppenbrüstung je vier von Sockel und Gebälk begleitete szenische Reliefs. Zwischen den Reliefs Lisenen und vorgesetzte Säulchen auf Konsolen und Postamenten; die Reliefs am Korb von Blendbögen eingefaßt (von rechts nach links): Verkündigung Mariae, Anbetung der Hirten, Taufe mit Bibelzitat (A) und Auferstehung Christi, Erschaffung Evas, Sündenfall, Vertreibung aus dem Paradies und Jüngstes Gericht. Die teilweise erloschene Inschrift A umläuft eine Wolkenöffnung, in der eine Gloriole aufscheint. An allen Teilen der Kanzel Rollund Beschlagwerkdekoration. Im Ornament des schwellenden runden Pfeilers, auf dem der Korb ruht, ein Satyr, ein Skelett und ein Meerweib, Allegorien des Teufels, des Todes und der Sünde, gefangen. Das Treppenportal flankieren zwei auf hohen reliefierten Postamenten stehende Säulen mit verkröpftem Gebälk und weit vortretendem Gesims. Am Gebälk, unmittelbar über den Portalsäulen zwei Kartuschen mit Resten alter Fassung, auf deren leeren Binnenfeldern Initialen (D) gestanden haben sollen. Darüber ein Auszug mit ringförmigem Mittelteil, darin die vollplastische Halbfigur des Christus Salvator. Am Kreisbogen eine eingetiefte Schriftzeile mit Bibelzitat (B). Auf dem Gebälk seitlich die Statuetten der Evangelisten Matthäus (links) und Lukas (rechts); im aufgeschlagenen Buch des Lukas ein Bibelzitat (C). Darüber, seitlich des Salvators die Evangelisten Johannes (links) und Markus (rechts), unter denen Wappenkartuschen mit seitlich beigeschriebenen (links) bzw. dem Wappen eingeschriebene Initialen (rechts) angebracht sind (E). Weitere Wappen mit eingeschriebenen Initialen auf dem Postament eines Wappenhalters, der den Auszug bekrönt (F), und auf dem geteilten Schild, das dieser hält (G). Zwei Initialen (H) mit dazwischenstehender Marke1) am Fuß des rechten Portalpfostens. Türblatt mit Schnitz- und Sägewerk. An der Innenseite, am oberen Ende der Treppenbrüstung Ritzinschrift aus Initialen und Jahreszahl (I).2) Sämtliche Inschriften erhaben, nur H und I mit schmaler Kerbe eingetieft, C und D vielleicht aufgemalt.

Ergänzungen nach BKD Prov. Sachsen NF 1 (A, D) und Kirchner 1761 (C).

Maße: H.: 360 cm (Portal), 385 cm (Korb und Fuß); D.: ca. 170 cm (Korb); B.: 157,5 cm (Portal); Bu.: 0,7 cm (A), 2,3 cm (B), 1,8–2 cm (E, G), 1–1,2 cm (F), 3–3,5 cm (I), 5 cm (H).

Schriftart(en): Kapitalis.

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Markus Scholz) [1/4]

  1. A

    DIS IST MEI[N LIEBER S]ON DEN [SOL]T IR [H]ORENa)3)

  2. B

    ICH BIN DER WEG DIE WARHEIT VND DAS LEBEN NIEMANT KOMT ZVM VATTER DEN DVRCH MICH · IO · 144) ·

  3. C † (?)

    Und JEsus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bey GOtt und den Menschen.5)

  4. D †

    GT // IR

  5. E

    P(ETER) // E(ISENBERG) // Z(ACHARIAS) // V(ETTER)

  6. F

    Z(ACHARIAS) // B(OGENKRANTZ)

  7. G

    S(EBASTIAN) // T(REISSE)b) // A // K

  8. H

    W // G

  9. I

    C E H / 1616

Wappen:
Eisenberg6)Vetter (?)7)(E)
Bogenkrantz8)(F)
Dreisse (?)9)unbekannt10)(G)

Kommentar

Die entsprechenden Buchstaben der Inschrift B weisen bis auf eine Ausnahme eine Linksschrägenverstärkung auf und sind mit z. T. recht weit ausgezogenen Sporen verziert. Das untere Ende der Cauda des G ist gespalten, die Schrägschäfte des K und die Cauda des R sind geradlinig ausgeführt. Die Buchstaben der Inschriften E–G gleichen diesen zumeist. Über die Feinheiten der mit breitem Strich ausgehauenen Buchstaben von A läßt sich kaum etwas sagen, da der Erhaltungszustand zu schlecht ist.

Die Taufe Jesu, wie sie von den synoptischen Evangelien überliefert ist, wird hier mit dem Wort Gottes aus der Verklärung Jesu nach Mk 9,7 verbunden, das wie bei der Taufe die Gottessohnschaft bezeugt, die Jünger aber zur Gefolgschaft auffordert (A). Denn Jesus wird derjenige sein, der Sünde, Tod und Teufel überwindet, wie es am Kanzelfuß dargestellt ist, und alle, die sein Wort hören und glauben, an seinem Sieg teilhaben läßt. Darauf weist Inschrift B hin, die über dem Aufgang zur Kanzel angebracht ist.

Das Relief der am Kanzelfuß Gefesselten könnte durch die rhetorische Figur der Überwindung von Sünde, Tod und Teufel angeregt sein, die Luther immer wieder in Predigten gebraucht hat, wenn er vom Heilswirken Jesu sprach.11) Das Relief des Sündenfalls an der Treppenbrüstung ist nach einem Stich von Hendrick Goltzius konzipiert;12) die anderen Brüstungsreliefs könnten ebenfalls nach graphischen Vorlagen entstanden sein.

Die Entstehungszeit und die Art der Ausführung der Inschrift C ist ungewiß; sie ist heute nicht mehr sichtbar. Die Bedeutung der Inschriften D, E und G ist unsicher. Bei E wird es sich um Initialen und Wappen der amtierenden Kirchväter Peter Eisenberg (s. Nr. 358) und Zacharias Vetter handeln,13) die in Vertretung der Gemeinde als Auftraggeber des Kanzelbaus auftraten. Zacharias Vetter (d. J.) war 1579 Kirchvater von St. Moritz und 1581 (?) Ratsmitglied geworden. Er gehörte dem Rat bis 1603, zuletzt als Kämmerer, an und starb 1606.14)

Inschrift G könnte Stifter bezeichnen, wie Sebastian Schulze annimmt. Die Anschaffung der Kanzel und die Anfertigung des ein Jahrzehnt später in Auftrag gegebenen Schalldeckels wurden zum größten Teil durch Anna, die Witwe Sebastian Dreisses, finanziert. Sie spendete 400 Gulden für die Kanzel und 200 Gulden für den 1604 vollendeten Schalldeckel (Nr. 331).15) Die geteilte Wappenkartusche an der Spitze des Auszugs des Kanzelportals zeigt oben vermutlich das Wappen Dreisses (hier mit T geschrieben) und unten das seiner Gemahlin Anna, deren Geburtsname mit K begonnen haben könnte.

Die Kanzel offenbart eine hohe künstlerische und handwerkliche Qualität. Die Initialen ZB (F) hat zuerst Gustav Schönermark als die des Bildhauers Zacharias Bogenkrantz gelesen.16) Der im Harzvorland ansässige Künstler war vermutlich ein Schüler des Berliner Bildhauers Hans Schenk gen. Scheußlich (gest. 1572) und hat im letzten Viertel des 16. Jh. zahlreiche Grabmäler im Südosten Sachsen-Anhalts geschaffen.17) Bogenkrantz empfing 1590 den Auftrag für die Kanzel und lieferte sie 1592.18) Sie ist „ein Hauptwerk des Zacharias Bogenkrantz, die einzige Arbeit zudem, mit welcher (...) der volle Name des Meisters überliefert ist“.19)

Das Monogramm des Bildhauers WG ist noch an anderen kirchlichen Ausstattungsstücken im Süden Sachsen-Anhalts nachweisbar.20) Die alte Kanzel, die offensichtlich an anderer Stelle stand, hat man erst 1593 abgebaut.21)

Textkritischer Apparat

  1. HOREN] Mit Umlaut?
  2. SEBASTIAN TREISSE] Auflösung der Initialen und Namensschreibung unsicher.

Anmerkungen

  1. Siehe Anhang 2, Nr. 19.
  2. An der Innenseite der Treppenbrüstung finden sich weitere datierte Ritzinschriften, die alle nach 1650, hauptsächlich in der zweiten Hälfte des 18. Jh. entstanden sind.
  3. Mk 9,7.
  4. Jh 14,6.
  5. Lk 2,52.
  6. Vgl. Nr. 256.
  7. Wilder Mann mit erhobener Keule.
  8. Andreaskreuz, dessen untere Enden durch einen Balken verbunden sind (Zirkel?). Identifizierung durch das Monogramm, das noch an zwei anderen zugeschriebenen Werken des Künstlers nachweisbar ist; vgl. Schulze 2010, S. 76–79.
  9. Geteilt: wachsender Widder, gespickelt.
  10. Gestummelter Ast mit dreifach verzweigter Lilie.
  11. Luther WA 16, S. 235; ebd. 29, S. 575; ebd. 33, S. 213; ebd. 46, S. 669.
  12. Ruhmer 1950, S. 124 f.
  13. Vgl. Schubart 1662, fol. E4v; Bindseil 1856, S. 14 f.
  14. StAH H B 2, S. 92, 94 f., 97, 99 f., 102 f.; Schubart 1662, fol. E4v; Olearius 1667, S. 71. Der zwischen 1581 (?) und 1591 amtierende gleichnamige Talbeamte ist Zacharias Vetter d. Ä. Er saß auch von 1583 bis 1589 im Rat; vgl. StAH H B 2, S. 93, 95 f.; ebd., fol. 91v, 92v, 93r, 94v.
  15. Zu Finanzierung und Anbringung von Kanzel und Schalldeckel s. Olearius 1667, S. 326, 347; Kirchner 1761, Sp. 362 f.; Wolf 1856, S. 54. Zu Anna und Sebastian Dreisse s. Nr. 358.
  16. BKD Prov. Sachsen NF 1, S. 156.
  17. Schulze 2010, S. 63–110; siehe auch Ruhmer 1950; AKL 12, 1996, S. 251 (Frauke Hinneburg).
  18. Kirchner 1761, Sp. 362.
  19. Schulze 2010, S. 99.
  20. Ebd., S. 100.
  21. Eckstein 1840, S. 1067 f.

Nachweise

  1. Kirchner 1761, Sp. 365 (B unvollständig, C, E unvollständig, G).
  2. BKD Prov. Sachsen NF 1, S. 154 (A), 156 (B unvollständig, D, F–H).

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 270 (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0027005.