Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 207† Stadtgottesacker 1575 (?)

Beschreibung

„Grabstein“ für Magdalena Oehm, „darauff der Verstorbenen Bildnüß nach Lebens-Grösse gehauen“ und „wohl verwahrt eingefüget“ eine „Meßingen Taffel“ mit biographischen Angaben, Totenlob und Grabbezeugung (A) sowie Sterbe- und Stiftervermerk (B),1) heute verloren. Die Inschrift war gegossen, die Schriftform ist nicht überliefert.

Nach Olearius.

  1. A

    Condidit hac thalami LAURENTIUS OHMIUS urna /Consortem, postqvam fata superna subit. /Magdalidos referens nomen ceu turris abactam /Celsa solet fortis vim superare manus. /Sic ea, devictis immoto pectore monstris, /Tartareis superae sedis adivit iter. /Moribus aucta fuit sanctis, pia, casta, pudicis, /Comis (et)a) ingenio candidiore fuit. /Qvattuor a lustris annum transegerat unum /Mergeret hanc Lachesis funere qvando truci. /Est ter hyems, aestas sed ei bis reddita, nuptae /Bis Laurenti ex te facta Parente Parens, /Faemineae Genitrix sobolis Genitricis (et)a) una /Nomine laetata est. Altera Margaridos. /Sed prior heu tenero lactantis ab ubere rapta est /Sol roseis cum sex signa peregit eqvis. /Haecq(ve) supervixit matri qvam plurima natae /Oscula libantem, Parca severa tulit. /Corpus in hac mortale qvidem tellure qviescit /Parte sui vivit sed meliore DEO.

  2. B

    MAGDALENAE civi coelesti Conjugi dulcis(simae) / LAURENTIUS OHMIUS Illustriss(imi) Princ(ipis) / JOACH(IMI) FRIDER(ICI) March(ionis) Brand(enburgensis) Administr(atoris) / Magd(eburgensis) (et)c.b) a Secretis, Amoris (et)a) doloris / sui monumentum P(oni) C(uravit) Ob(iit) 4. non(as) Jun(ii) / 1575. Triumphat aeternum.

Übersetzung:

A In dieser Urne bestattete Lorenz Oehm seine Ehefrau, nachdem sie zu ihrem himmlischen Schicksal aufgestiegen war. Gleichwie ein aufragender Turm, der an den Namen der Magdalena erinnert, die abgewehrte Streitkraft einer starken Truppe zu übertreffen pflegt, so beschritt sie, nachdem sie mit unbewegtem Herzen die Dämonen der Hölle besiegt hatte, ihren Weg auf höheren Gefilden. Sie war erhaben durch heilige ehrbare Sitten, fromm, rein, freundlich und von allzu lauterem Charakter. Nach vier Jahrfünften hatte sie noch ein einziges Jahr gelebt, als Lachesis diese in schaurigem Grab versenkte. Als Ehefrau verblieben ihr drei Winter, aber nur zwei Sommer. Zweimal wurde sie, die Gebärerin einer weiblichen Nachkommenschaft, von Dir, Lorenz, dem Familienvater, zur Mutter gemacht. Und die eine Tochter ist mit dem Namen der Mutter, die andere mit dem Namen der Margarete beglückt worden. Aber ach, die ältere wurde der zarten Brust der stillenden Mutter entrissen, als Sol den feurigen Pferden sechsmal das Zeichen gegeben hatte. Die andere aber überlebte die Mutter, die, als sie ihrer Tochter die meisten Küsse gab, von der strengen Parze davongetragen wurde. Ihr sterblicher Körper ruht gewiß in dieser Erde, doch lebt sie in ihrem besseren Teil bei Gott.

B Magdalena, der Himmelsbewohnerin, der sanftmütigsten Ehefrau, hat Lorenz Oehm, des durchlauchtigsten Fürsten Joachim Friedrich, Markgrafen von Brandenburg, Administrators von Magdeburg usw. Sekretär, dies als Zeichen seiner Liebe und seines Schmerzes setzen lassen. Sie starb am 4. (Tag) vor den Nonen des Juni 1575 (und) frohlockt über die Ewigkeit.

Versmaß: Zehn elegische Distichen (A).

Datum: 1575 Juni 2.

Kommentar

Magdalena war die erste Ehefrau des Lorenz Oehm; er wurde sechzehn Jahre später neben ihr beigesetzt (s. Nr. 275). Magdalena starb schon einundzwanzigjährig. Das zweite Distichon erinnert daran, daß ihr Name von dem hebräischen Wort für Turm, migdol, abgeleitet ist.2) Der Name wird hier zum Symbol ihrer Standhaftigkeit, die sich offenbar in schwerer Anfechtung bewährt hat. Die konkrete Lebenssituation ist aber nicht näher erläutert. Die Parca (Parze oder Moire) Lachesis, die das Lebenslos zuteilt (fünftes Distichon),3) wurde vermutlich mit der Parze Atropos gleichgesetzt, die den Lebensfaden durchschneidet, also das Leben Magdalenas beendete. Sie wird im vorletzten Distichon noch einmal erwähnt.

Die ältere, gleichnamige Tochter der Magdalena ist wahrscheinlich nur sechs Tage alt geworden. Jeden dieser Tage hatte der italische Gott Sol, der mit dem griechischen Sonnengott Helios identifiziert wurde, mit dem Aufstieg seines von feurigen Pferden gezogenen Gespanns beginnen lassen (achtes Distichon).4)

Die guten Kenntnisse der antiken Mythologie und die in Gleichnisse gekleidete Herleitung der Vornamen, die in eine gekünstelte Dichtung eingebettet sind, sowie die ähnliche Ausführung der Inschriften in „Messing“ deuten auf eine gleichzeitige Entstehung der Grabsteine für Magdalena und Lorenz Oehm hin (s. Nr. 275).

Textkritischer Apparat

  1. et] Olearius: et-Ligatur.
  2. etc.] Olearius: et-Ligatur und c.

Anmerkungen

  1. Alle Zitate nach Olearius 1674, S. 145.
  2. Sleumer 1996, S. 489.
  3. LdA 1986, S. 362 (Ilse Becher).
  4. Zu Sol s. Pauly 5, 1975, Sp. 258 f. (Gerhard Radke); zu Helios s. Pauly 2, 1967, Sp. 999–1001 (Hans von Geisau).

Nachweise

  1. MBH Ms 319, 3, o. S.
  2. Olearius 1674, S. 145 f.
  3. Dreyhaupt 2, 1750, S. 681.

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 207† (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0020702.