Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 198 Rannische Straße 9 um 1560/70

Beschreibung

Im Erdgeschoß des zweigeschossigen Gebäudes ein hallenartiger Raum, der an drei Seiten durch Nischen gegliedert und im Osten durch drei Pfeilerarkaden abgegrenzt wird. Über dem südlichen Bogen vermutlich eine Spruchweisheit (A), über dem Wandpfeiler zwischen der mittleren und der westlichen Nische der Nordwand ein Bibelzitat (B); beide mit dunkler Farbe aufgemalt und heute nur fragmentarisch erhalten.

Maße: Bu.: 6,5–7,5 cm (A), 2 cm (B).

Schriftart(en): Kapitalis.

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Franz Jäger) [1/2]

  1. A

    [- - -] VNIVS ANGVSTA ESTa) [.]E[- - -]b) / QVAM SVNTc) DIVITIAE C[- - -]d)

  2. B

    [AV]ERTE [FACIE]Me) [TVA]M A PECC[A]TIS [M]E[I]Sf) / [ET OMNES INIQUITATES M]PASg) DELE / [COR M]VN[DVM] CRE[A I]N ME DEVS.h) / [ET SPI]R[IT]VM [RECT]VM I[N]NOVA IN VISC[E]RIBVS [MEI]S / [NE PR]OIJ[CIA]Si) [ME] A [FAC]I[E] TVA / [ET S]PIR[ITVM] SANCT[V]M T[V]VM NE AUFERAS A [ME.]1)

Übersetzung:

A (...) des Einzelnen ist beschränkt (...) als (oder: wie es) Reichtümer sind (...)

B Wende dein Antlitz von meinen Sünden ab und tilge alle meine Missetaten. Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und erneuere den rechtschaffenen Geist in meinem Leib. Verschmähe mich nicht vor deinem Angesicht und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir.

Kommentar

Die Inschrift A ist unregelmäßig ausgeführt. Einige Buchstaben (M, V) zeigen eine Links-, andere (A und ein V-Buchstabe) eine Rechtsschrägenverstärkung. Der Mittelteil des M reicht gerade bis zur Zeilenmitte herab. Die rechten Schäfte der N-Buchstaben weisen unterschiedliche Strichstärken auf.

Die breit proportionierten Buchstaben der Inschrift B sind von großer Regelmäßigkeit. Sie zeichnen sich durch eine Linksschrägenverstärkung mit breiten Schattenstrichen und durch markante, zumeist strichförmige Sporen aus. Die Balkensporen sind an E, F, L und T zumeist rechtsschräg, nur an den oberen Balken von E und F linksschräg angesetzt. Das obere Bogenende des C und die Bogenenden des S zieren geschwungene Sporen. Der Mittelteil des M reicht bis auf die Grundlinie hinab; die Cauda des R schwingt unter die Grundlinie aus. Von einer mutmaßlichen Schriftfeldbegrenzung der Inschrift B sind die obere und die untere rotbraune Begrenzungslinie erhalten.

Wände und Decke der Erdgeschoßhalle weisen mehrere Farbfassungen auf, deren erste wohl bald nach Errichtung des Hauses um 1560 entstanden ist. Die Decken- und wahrscheinlich auch die Wandfassung wurde nach einem Umbau um 1570 erneuert.2) Beide Fassungen konnten durch Zuweisung an die dendrochronologisch datierten Bauphasen zeitlich fixiert werden.3) Bauherr war der Ratsverwandte Ciliax Kopitz, der das Grundstück 1559 erworben hatte und 1577 an den Ratsmeister Jakob Redel veräußerte (s. Nr. 244).4)

Inschrift A wird nach Errichtung des Gebäudes entstanden sein. Unmittelbar über ihr sind noch Reste eines gemalten Frieses erhalten, der einst die ganze Halle umzog. Die qualitätvolle Inschrift B, die sich in paläographischer Hinsicht deutlich von A abhebt, könnte nach dem Umbau geschaffen worden sein.5) Paläographisch vergleichbare Inschriften sind zeitlich weit gestreut. Die unter die Grundlinie herabschwingende Cauda des R erscheint in einigen der Stadt Halle benachbarten Regionen erstmals in gemalten Inschriften des späten 16. Jh.6) Inschrift B wird den Vergleichsbeispielen um einige Jahre vorausgegangen sein. Bei einem weiteren Umbau um 1580 wurde der Teil der Erdgeschoßhalle, in dem sich B befindet, als Flur abgetrennt, in dem anspruchsvolle Inschriften wahrscheinlich nicht zu erwarten sind. Die dezentrale Plazierung beider Inschriften im Haus Rannische Straße 9 deutet darauf hin, daß sie Teile größerer Inschriftenzyklen waren, die mehrere Wandteile bedeckten. Eine derartige Ausmalung repräsentativer Privaträume war in dieser Zeit durchaus typisch. Gleichzeitige und vergleichbare, Bibel- und Literaturzitate umfassende Wandinschriften haben sich in weitaus besserem Zustand in einem Haus am Markt in Wittenberg erhalten.7)

Textkritischer Apparat

  1. EST] Der obere Balken des E ist auffällig kurz.
  2. [.]E[- - -] Vor und nach dem Buchstaben sind mehrere Schäfte erkennbar.
  3. SVNT] Der rechte Schaft des V ist verloren.
  4. C[- - -] Dem C folgen wohl zwei links- und zwei rechtsschräge Schäfte.
  5. FACIEM] Ergänzung unsicher, da dem einzig lesbaren Buchstaben M ein überaus großes Spatium vorausgeht.
  6. MEIS] Es folgt ein Satzzeichen oder Ornament.
  7. MPAS] Lies MEAS; fehlerhaft restauriert.
  8. DEVS] Der erste Buchstabe deutlich überhöht.
  9. PROIJCIAS] Sic! Für PROICIAS.

Anmerkungen

  1. PsG 50,11–13.
  2. Freundliche Mitteilung von Frau Dipl. phil. Barbara Pregla, LDA Halle.
  3. Vgl. LDA Dendrochronologischer Bericht Halle, Rannische Straße 9. Eine dritte Raumfassung ist bislang nur durch die Farbschichtenfolge als jüngste bestimmt, aber nicht genauer datiert worden.
  4. Dittrich/Löhr 2007, S. 35 f.
  5. Ein substantieller Zusammenhang der Inschrift B mit einer der Raumfassungen konnte nicht nachgewiesen werden.
  6. Vgl. DI 39 (Lk. Jena), Nr. 237 (1597); DI 45 (Stadt Goslar), Nr. 105 (1581); DI 76 (Lüneburger Klöster), Nr. 145 (1590).
  7. Vgl. Jäger 2011a.

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 198 (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0019809.