Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 196† Stadtgottesacker 1569

Beschreibung

„Ein feines Gemälde des zwischen zwo Mördern gecreutzigten Heylandes nebst einem schönen prospect der Stadt Jerusalem: wobey (...) Wolff Holtzwirth sam(m)t den Seinen aufn Knien liegt“.1) Auf dem Gemälde außerdem ein Stiftervermerk (A), ein Epigramm mit Verweisen auf einschlägige Bibelstellen und Jahresangabe (B). Die Schriftform der vermutlich gemalten Inschriften nicht sicher feststellbar; das Epitaph einst in der Bogenkammer 47, heute verloren.

Nach Olearius.

Schriftart(en): Kapitalis (A)?2)

  1. A

    SPE RESURRECTIONIS WOLFGANGUS HOLZWIRTH F(IERI) F(ECIT) SIBI, CONJUGI CATHARINAE D(OCTORIS) M(ELCHIORIS) CLINGII FILIAE, LIBERIS CHRISTINAE CATHARINAE BARBARAE CLARAE, ELISABETHAE.

  2. B

    Legifer erexit colubrum Christiqve figuram /In cruce qvi pendens crimina nostra luit. /Non juvat hic vidisse soli vestigia sancti, /Includit Christum pectore sola fides. /Illius effusus cruor e nece liberat orbem, /Eqve hac ad coelum nos revocabit humo. /Num. 21. Joh. 3. 1. Joh. 1. Jobi 19.3) /Anno 1569.

Übersetzung:

A In der Hoffung auf die Auferstehung ließ Wolfgang Holzwirth für sich, (seine) Ehefrau Katharina, die Tochter des Dr. Melchior Kling, (und seine) Kinder, Christine, Katharina, Barbara, Klara (und) Elisabeth (dieses) fertigen.

B Der Gesetzgeber richtete eine Schlange auf als Sinnbild Christi, der am Kreuz hängend unsere Schuld beglich. Es hilft hier nicht, die Spuren auf heiligem Boden gesehen zu haben, (denn) allein der Glaube schließt Christus in das Herz ein. Das vergossene Blut (Christi) befreit den Erdkreis vom Tod. Er wird uns von dieser Erde zum Himmel abberufen. (...) Im Jahr 1569.

Versmaß: Drei elegische Distichen (1. bis 6. Zeile von B).

Kommentar

Am Ende der Inschrift werden die zugrundegelegten Bibelstellen ausgewiesen, auf denen die bekenntnishafte Dichtung beruht. Sie zeigen an, daß sich der Verfasser dem lutherischen Sola-scriptura-Prinzip verpflichtet weiß. Der erste Stellenverweis läßt sich klar verifizieren: Legifer (in der ersten Zeile) meint Moses, der mit dem Bild der gekreuzigten Schlange die Israeliten von todbringenden Schlangenbissen heilte (4 Mo 21,8–9). Der Begriff figura bestimmt die Schlange in herkömmlicher Weise zum Typus Christi.4) soli vestigia sancti im dritten Vers meint die Stätten des Lebens, Wirkens und Sterbens Jesu in der Stadt Jerusalem, die auch abgebildet war. Das Distichon führt aus, daß nicht die vermeintliche Segenswirkung heiliger Orte das Heil zu spenden vermag, sondern allein der Glaube an den gekreuzigten Christus, d. h. an das Erlösungswerk Christi.5) Der Autor polemisiert gegen den altkirchlichen Glauben, durch Pilgerfahrten an heilige Stätten einen höheren Anteil am himmlischen Gnadenschatz erwerben zu können, und setzt der herkömmlichen Heilssuche explizit die neue Heilsgewißheit entgegen, die sich auf drei maßgebliche Bibelstellen stützt (Jh 3,16–18; 1 Jh 1,7; Hi 19,25–26). Er schreibt: includit Christum pectore sola fides. Schon die Alte Kirche wußte, gestützt auf die Bibel (z. B. Rm 10,10), daß das Herz (pectus) der Sitz des Glaubens ist. Unter dem strengen lutherischen Schriftverständnis behielt es seine Bedeutung bei6) und fand Eingang in die lutherischen Grabinschriften.

Wolfgang (oder Wolf) Holzwirth (1522–1579) entstammte einer alteingesessenen hallischen Familie, deren Männer seit dem 15. Jh. im Amt des Ratsmeisters und in anderen angesehenen öffentlichen Ämtern ihrer Heimatstadt dienten. Wolfgang war Apotheker, immatrikulierte sich 1543 an der Universität Wittenberg,7) ging aber schon im folgenden Jahr nach Italien. Von dort reiste er 1546 nach Palästina und wurde in Jerusalem zum „Ritter des Heiligen Grabes“ geschlagen.8) Obwohl diese durch päpstliche Privilegien approbierte Ehrung altgläubigen Adligen vorbehalten sein sollte, erlangten vor allem in der zweiten Hälfte des 16. Jh. immer wieder auch Bürgerliche und Protestanten die Ritterwürde des Heiligen Grabes.9)

Die Abbildung Jerusalems auf dem Epitaph, die bei Kreuzigungsszenen nicht unüblich ist, erhält durch Holzwirths Aufenthalt am Heiligen Grab einen sehr persönlichen Bezug, zumal sich Holzwirth durch Anbringung eines Wappenschilds mit dem Ordenszeichen, dem sogenannten Jerusalemkreuz, an seinem Bogen auf dem Stadtgottesacker zur Ritterwürde des Heiligen Grabes bekannte (Anhang 1, Nr. 47). Darin lag möglicherweise die konfessionelle Polemik der Inschrift B begründet. Holzwirth könnte wegen des Ritterschlags in Jerusalem dem Vorwurf einer nicht bekenntniskonformen Frömmigkeit ausgesetzt gewesen sein, so daß es ihn zu einer Klarstellung im Sinne des lutherischen „sola fide“ gedrängt haben mochte: Non juvat hic vidisse soli vestigia sancti, Includit Christum pectore sola fides.

Wolfgang Holzwirth kehrte über Kreta und Venedig nach Europa zurück, zog über Padua und Wien nach Polen und erreichte schließlich 1549 Reval (Tallinn) in Estland. Dort wirkte er mehrere Jahre als Apotheker – mit zeitlichen Unterbrechungen, u. a. durch eine Reise nach Amsterdam – und kehrte erst 1553 nach Halle zurück. Seine Reiseerlebnisse schildert Holzwirth in einem Bericht, der in der Bibliothek im thüringischen Sondershausen erhalten sein soll.10)

1554 heiratete Wolfgang Holzwirth Katharina (gestorben 1580), die Tochter des erzbischöflichen Kanzlers Melchior Kling. 1555 erlangte er ein Apothekenprivileg, das ihm aber zunächst keine kontinuierliche Geschäftstätigkeit als Apotheker erlaubte, weil die Rechtmäßigkeit des Privilegs angefochten wurde.11) Seine Tochter Elisabeth ehelichte den Apotheker Laurentius Hoffmann und gebar einen gleichnamigen Sohn, der Arzt und ein berühmter Kunstsammler wurde (s. Nr. 431). Der Enkel Laurentius Hoffmann erbte die großväterliche Apotheke.

Melchior Kling (1504–1571) wurde 1527 in Wittenberg immatrikuliert und 1533 daselbst zum Doktor beider Rechte promoviert. 1536 erhielt er eine Rechtsprofessur und den damit verbundenen Sitz im Wittenberger Hofgericht. Er wirkte schon seit 1541 als erzstiftisch-magdeburgischer Rat, bevor er sich 1547 in Halle niederließ und 1553 Kanzler des Erzbischofs Sigismund wurde. Seine Amtszeit ist bei Dreyhaupt und Lieberwirth nicht genau angegeben; da sein 1587 verstorbener Nachfolger Johannes Trautenbuhl aber über 30 Jahre amtiert haben soll (s. Nr. 250), kann Kling nur kurze Zeit Kanzler gewesen sein. Er genoß einen guten Ruf als Rechtslehrer und erwarb sich Verdienste um „die Systematisierung der Quellen des geltenden Rechts“.12)

Anmerkungen

  1. Olearius 1674, S. 49.
  2. Ebd. in Großbuchstaben wiedergegeben.
  3. Läßt sich der erste Verweis noch klar verifizieren (4 Mo 21,8–9), kann bei den übrigen nur eine Bezugnahme auf die geläufigsten sinnentsprechenden Bibelstellen angenommen werden. Das sind Jh 3,16–18 (bezüglich der Rechtfertigung durch den Glauben), 1 Jh 1,7 (bezüglich der Sündenreinigung) und Hi 19,25 (bezüglich der Auferstehung).
  4. Die Typologie ist schon durch Jh 3,14 begründet.
  5. Vgl. Einleitung, S. XLII.
  6. Vgl. Katalog Nürnberg 1983, S. 373–378 (Nr. 496–501; Dieter Koepplin); Koepplin 1988, S. 171–173.
  7. Dreyhaupt 2, 1750, Beylage B, S. 66 („Geschlechts-Register derer Holtzwirthe“); Götze 1869, S. 147.
  8. Cramer 1949, S. 139.
  9. Ebd., S. 93–95, 98–102.
  10. Neuß 1934, S. 116; Hein/Schwarz 1, 1975, S. 289 f. (Wolfgang-Hagen Hein); Poeckern 1987, S. 19; Poeckern 2004, S. 93, 259. Der bei Dreyhaupt mitgeteilte Reiseweg über die Türkei und Rußland (wie Anm. 7) beruht vermutlich auf Hörensagen, obwohl Dreyhaupt von der Reisebeschreibung Wolfgang Holzwirths Kenntnis hatte. Das Todesjahr Holzwirths wird hier nach Neuß wiedergegeben, Dreyhaupt ist es unbekannt. Das bei Hein/Schwarz und Poeckern überlieferte Todesdatum ist nach Dreyhaupt das der Katharina Holzwirth.
  11. Neuß 1935a, S. 11 f.
  12. Lieberwirth 2004, insbesondere S. 17; vgl. a. Dreyhaupt 2, 1750, S. 453, 649; Hünicken 13, 1937, S. 201; Scholz 1998, S. 72 (1552 erzbischöflicher Rat).

Nachweise

  1. MBH Ms 319, 2, o. S. (Nr. 47; A).
  2. Olearius 1674, S. 49.

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 196† (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0019603.