Inschriftenkatalog: Stadt Baden-Baden und Landkreis Rastatt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 78: Stadt Baden-Baden und Landkreis Rastatt (2009)

Nr. 66 Karlsruhe, Badisches Landesmuseum M. 15. Jh., A. 16. Jh.?

Beschreibung

Altar- und Vortragekreuz. 1807 im Inventar der Stiftskirche zu Baden-Baden erwähnt; am 16.10.1811 nach Karlsruhe überführt, wo es 1814 der Kirche St. Stephan übereignet wurde.1 Seit 1971 als Dauerleihgabe im Badischen Landesmuseum.2 Silber, getrieben, gegossen, graviert, teilvergoldet und mit Steinen und Perlen besetzt. Spuren von Email erkennbar. Der ursprüngliche Steinbesatz wurde für die Herstellung der Krone des 1806 gegründeten Großherzogtums Baden verwendet.3 Letzte Restaurierung 1973 durch Michael Amberg, Würzburg.4

Das Kreuz ist mit dem in acht Pässe gegliederten und auf einem hölzernen Untersatz befestigten Fuß durch einen oktogonalen Schaft verbunden, der durch Maßwerk, einen flachen Nodus und mehrere gefaßte Steine verziert ist. Kreuzstamm und -arme sind mit applizierten Krabben besetzt. Die Vorderseite ist von plastisch gekräuseltem Blattwerk bedeckt, das jedoch hinter dem teils getriebenen, teils gegossenen Kruzifixus fehlt. Auf der Rückseite florale Gravuren vor schraffiertem Grund. Im Kreuzungsfeld ein rundes Gelaß zur Aufnahme der Hostie, das rückseitig durch ein Medaillon mit der gravierten Abbildung des Agnus Dei verschließbar ist. Die Stamm- bzw. Balkenenden sind als Vierpässe gestaltet, deren spitz ausgezogene Bögen Perlenfassungen tragen. Auf den Schauseiten die getriebenen und mit gegossenen Händen versehenen Brustbilder Moses’ und Davids sowie der Propheten Jesaja und Zacharias. Diese halten je ein langes, teilweise verschlungenes Schriftband mit eingravierten Inschriften in ihren Händen: links Jesaja mit Bibelzitat (A), oben David mit (B), rechts Moses mit (C) und unten Zacharias mit (D). In die Rückseiten der Vierpässe sind kleine Holzmedaillons mit den gegossenen Symbolwesen der Evangelisten eingelassen. Auch sie tragen Spruchbänder, auf denen jedoch keine Schrift verzeichnet ist.

Maße: H. 104, B. 55, Bu. 0,3 (A, C, D), 0,4 cm (B).

Schriftart(en): Gotische Minuskel (B), Gotico-Antiqua (A, C, D).

Heidelberger Akademie der Wissenschaften; Pfarrgemeinde St. Stephan, Karlsruhe; Badisches Landesmuseum Karlsruhe [1/8]

  1. A

    Expandi //a) manus meas //a) tota die ad populum //a) infidelem5) Esab) lxv

  2. B

    foderu(n)t manus meas //a) et pedes //a) meos6) //a) psalmoc)

  3. C

    Moyses //a) Erit Vita tua pendens //a) ante te7) //a) deuterod) //a) xxviii

  4. D

    [– – –] queme) //a) confix//eruntf)8) // Sachg) xii

Übersetzung:

Ich streckte meine Hände den ganzen Tag aus zu einem treulosen Volk. Jesaja 65. (A) – Sie haben meine Hände und meine Füße durchbohrt. Psalm (B). – Moses: Es wird dein Leben vor dir schweben. Deuteronomium 28. (C) – (Sie werden mich anschauen,) den sie durchstochen haben. Zacharias. (D)

Kommentar

Die bereits von Anneliese Seeliger-Zeiss9 herausgestellte Verschiedenheit der auf den Banderolen erkennbaren Schriftarten läßt sich durch eine detaillierte Untersuchung der Buchstabenformen zweifelsfrei belegen: Die ältere und vermutlich noch originale Inschrift (B) zeigt eine relativ schmal proportionierte Minuskel, deren Lettern dicht aneinandergereiht sind. Die Enden der einzelnen Schaft- und Bogenabschnitte sind fast regelmäßig gespalten, wodurch die Brechungen wie mit spitzen Dornen besetzt scheinen. Die Balken von f und t tragen rechts eine senkrechte, nach links durchgebogene und unten hakenförmig endende Zierlinie. Dieselbe läßt sich an der Fahne des r beobachten. Das Bogen-s ist rechtsschräg durchstrichen, das Schaft-s auf der linken Seite des oberen Schaftabschnitts mit einem einzelnen Zacken ausgestattet. Auf den übrigen Spruchbändern stehen die Buchstaben hingegen nur in losem Verbund zusammen. Sie tragen keinerlei Haar- oder Zierstriche. Als typische Merkmale der Gotico-Antiqua weisen sie die Proportionen der Textura bei gleichzeitiger fast vollständiger Ausrundung der Bögen auf. Auch die Schaftbrechungen sind weitgehend ausgerundet. Das d hat die halbunziale Form. Unter den Versalien sind das M und das E in Expandi (A) der Kapitalis entnommen, die übrigen E der Unziale.

Nachdem die Herkunft des Kreuzes lange Zeit im Dunkeln lag, konnte sie vor wenigen Jahren durch Emilie Ruf (Baden-Baden) geklärt und zur 1000-Jahr-Feier der Kirchengemeinde Baden-Baden vorgestellt werden.10 So besteht nun kein Zweifel mehr daran, daß sich Franz Josef Herr mit dem Verweis auf „das große, sehr schwere und vortrefflich gearbeitete Capitels Kreuz“ auf eben dieses Altarkreuz bezog.11 Nach seinen Quellen hatte es Kaiser Friedrich III. dem Kollegiatstift verehrt, als er 1473 bei seinem Schwiegersohn Karl I. von Baden und seiner Tochter Katharina für sechs Wochen zu Besuch war. Diese hatte dem Kapitel aus ihrer Mitgift einen Kelch gestiftet, der in Straßburg umgearbeitet wurde.12 Das Altarkreuz wirft nun vor allem durch die stilistisch uneinheitliche Ausführung einzelner Bestandteile zahlreiche Fragen zu seinem Entstehungsprozeß auf.13 So scheinen die Brustbilder und die Gravuren auf der Rückseite des Kreuzes älter zu sein als der Korpus des Gekreuzigten, der ohne den 1467 von Nikolaus Gerhaerts geschaffenen Kruzifixus14 als Vorbild nicht denkbar ist. Auf der Grundlage der geklärten Provenienz erhält Johann Michael Fritz’ Vermutung, das Kreuz sei in Straßburg überarbeitet worden, größeres Gewicht.15 Denn für diese Lokalisierung spricht nicht mehr allein die Zuweisung des getriebenen Kruzifixus an Nikolaus Gerhaerts’ Schwiegersohn, den Goldschmied Georg Schongauer zu Straßburg,16 sondern auch die Straßburger Beschau auf dem gleichzeitig gestifteten Kelch. Beide Stücke gehörten zu den wertvollsten Ausstattungsstücken des Kollegiatstifts, das sie zur Überarbeitung sicher derselben vertrauenswürdigen Werkstatt aushändigte. Im Zuge der Ausbesserungen sind am Kreuz offenbar auch die unteren drei Schriftbänder erneuert worden. Da sich die Verwendung der Gotico-Antiqua im 15. Jahrhundert nördlich der Alpen bisher nur in Einzelfällen belegen läßt,17 dürfte die Umgestaltung wohl erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts geschehen sein. Die ursprüngliche Herstellung des Kreuzes kann nach kunstgeschichtlichen Kriterien in die Mitte des 15. Jahrhunderts eingeordnet werden.15

Textkritischer Apparat

  1. Wechsel auf die andere Seite des Schriftbandes.
  2. Ergänze zu Esaiae o. ä.
  3. Der folgende Bandabschnitt nicht einsehbar und im weiteren Verlauf abgebrochen; ergänze vermutlich zu psalmo xxi, vgl. Anm. 6.
  4. Ergänze zu deuteronomio.
  5. Der vordere Abschnitt des Schriftbandes verloren, der verbliebene Rest eingerollt, das q deshalb nicht sichtbar. Ergänze vermutlich zu: [Aspicient ad me] quem, vgl. Anm. 8.
  6. Innerhalb des Wortes Wechsel auf die andere Seite des Schriftbandes; die Silben durch weite Spatien getrennt.
  7. Sa hinter dem linken Arm der Figur verborgen. Auch Zach möglich. Ergänze zu: Sachariae.

Anmerkungen

  1. Vgl. SpMAORh, T. 2, Bd. 1, 99 nr. 178.
  2. Vgl. DI 20 (Karlsruhe) nr. 60. Im Badischen Landesmuseum unter Inventar-nr. L I geführt, vgl. BLM 117.
  3. Vgl. Zum 1000jährigen Jubiläum der Kirchengemeinde in Baden-Baden, in: Aquae 1987, 35–39, hier 36.
  4. Vgl. DI 20 (Karlsruhe) nr. 60. Siehe dazu Fritz, Die Restaurierung etc. (wie unten) 23–26.
  5. Paraphrase nach Is 65,2: „expandi manus meas tota die ad populum incredulum“.
  6. PsG 21,17.
  7. Paraphrase nach Dt 28,66: „et erit vita tua quasi pendens ante te“.
  8. Za 12,10.
  9. Vgl. DI 20 (Karlsruhe) nr. 60.
  10. Vgl. ecclesia 30f. nr. 6. S. a. DI 47 (Böblingen) nr. 123.
  11. Vgl. GLA Karlsruhe Hfk-Hs nr. 510, Herr, Begräbnisse Stiftskirche, fol. 25v.
  12. Vgl. nr. 61.
  13. Vgl. Fritz, Goldschmiedekunst 280; DI 47 (Böblingen) nr. 123 (hier die Argumentation im Zusammenhang mit dem äußerst ähnlich gestalteten Kreuzreliquiar in Weil der Stadt, Lkr. Böblingen); DI 20 (Karlsruhe) nr. 60.
  14. Vgl. nr. 84.
  15. Vgl. Fritz, Goldschmiedekunst 280.
  16. Vgl. ebd. und Ludwig Moser, Jörg Schongauer und sein Kreuzreliquiar in St. Stephan zu Karlsruhe, in: Baden 1 (1949) Ausg. 2, 39f.; siehe dagegen SpGORh 248f. nr. 209. Zu Georg Schongauer vgl. Johann Michael Fritz, Martin Schongauer und die Goldschmiede, in: Le beau Martin: études et mises au point, éd. p. Albert Chatelet, Pantxika Beguerie, Fabienne Keller et Marianne Matthis, Colmar 1994, 175–183; ThB, Bd. 30, 249.
  17. Vgl. zur Gotico-Antiqua in Inschriften v. a. Epp, Minuskel 167–221, hier insbes. 171f.; DI 41 (Göppingen) LVf. Hier werden als die frühesten Belege die Inschriften am Ulmer Chorgestühl (1469–74), auf dem Grabdenkmal Albrechts von Sachsen im Mainzer Dom (1484) und am sog. Strohhut-Relief in St. Stephan zu Mainz (1485) mit den entsprechenden Literaturverweisen angeführt.

Nachweise

  1. Kat. d. Bad. Kunst- und Kunstgewerbe-Ausstellung 25 nr. 194 (erw.).
  2. Fritz Hirsch, 100 Jahre Bauen und Schauen, Karlsruhe 1928, 537 (Abb. 148).
  3. Schroth, Mittelalterliche Goldschmiedekunst 53f. nr. 77 (Lit.), Taf. 47 (Abb. 77).
  4. Ausst. Mittelalterliche Kunst 22 nr. 128 (Abb.).
  5. SpGORh 248f. nr. 209 (Abb. 186f.).
  6. SpGORh Nachträge 169f. nr. 209, 272 (Abb.).
  7. Richard Bellm, Die St. Stephanskirche in Karlsruhe (Schnell, Kunstführer nr. 372), 2. Aufl., München 1974, 21 (Abb.).
  8. Johann Michael Fritz, Die Restaurierung des spätgotischen Altarkreuzes von St. Stefan in Karlsruhe, in: Denkmalpflege in Baden-Württemberg. Nachrichtenblatt des Landesdenkmalamtes 5 (1976) H. 1, 24 (Abb. 1), 26 (Abb. 6).
  9. Carl Hernmarck, Die Kunst der europäischen Gold- und Silberschmiede von 1450 bis 1830, München 1978, 310 (Abb. 927, 927a).
  10. DI 20 (Karlsruhe) nr. 60 (Lit.).
  11. Fritz, Goldschmiedekunst 280f. (Abb. 676–680; Lit.).
  12. ecclesia 30f. nr. 6 (Abb. 6).
  13. BLM 117 (Abb.).
  14. SpMAORh, T. 2, Bd. 1, 99 nr. 178 (Abb. 178).

Zitierhinweis:
DI 78, Stadt Baden-Baden und Landkreis Rastatt, Nr. 66 (Ilas Bartusch), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di078h017k0006600.