Inschriftenkatalog: Stadt Baden-Baden und Landkreis Rastatt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 78: Stadt Baden-Baden und Landkreis Rastatt (2009)

Nr. 136 Baden-Baden-Lichtental, Kloster Lichtenthal, Museum 4. V. 15. Jh.

Beschreibung

Indulgenztafel. Herkunft ungewiß; 1942 erstmals im Kloster bezeugt.1 Tempera auf Leinwand, die auf eine hochrechteckige Holztafel gespannt ist. Die Malfläche horizontal zweigeteilt: Im oberen Bereich die nackte Halbfigur Christi als Schmerzensmann2 vor einem nahezu quadratischen, schwarz umrandeten Feld. Darin die Leidenswerkzeuge und Passionsszenen auf olivefarbenem Grund. Vor dem Leib hat der Gemarterte die Hände überkreuz gelegt und hält darin Rute und Geißel. Hinter ihm das Kreuz, an dessen oberen Stammende sich ein weißes Schriftband mit dem schwarz aufgemalten Kreuztitulus entrollt (A). Im unteren Viertel der Tafel eine zweite, querrechteckige und ebenfalls schwarz umrandete Fläche, in der auf weißem Grund die Ablaßinschrift (B) in schwarzer Farbe zeilenweise aufgemalt ist. Die verbleibenden Randflächen braun eingefärbt. Offenbar mehrfach restauriert.3

Maße: H. 75,5, B. 53, Bu. 2,2 (A), 2,7 cm (B).

Schriftart(en): Gotische Minuskel.

Heidelberger Akademie der Wissenschaften; Zisterzienserinnenabtei Lichtenthal, Baden-Baden [1/2]

  1. A

    ·a) i · n ·b) · r · i ·a)4)

  2. B

    ·a) wer · den · srin · kniuwindc) · ert · der · hat · ablavsz / xxxiiii · duse(n)t · iar · vn(d) ·d) xii · iar ·d) vn(d) sechs ·d) vn(d) · xxxe) ·d) malf) / · xxxg) · tag · vn(d) · lxh) · hvnd(er)t · vn(d) · ist · bestät · von · diem ·a) / ·d) papst · clemensi)

Übersetzung:

Wer den Schrein kniend anbetet, der hat 34 tausend Jahre und 12 Jahre und sechs und 30 mal 30 Tage und 60 hundert (Tage) Ablaß, und (dies) ist von Papst Clemens bestätigt worden.

Kommentar

Ein Vergleich mit dem Photo von 1944/45 zeigt, daß die Schriftformen einem älteren Zustand entsprechend nachgezogen wurden, der jedoch selbst schon das Ergebnis einer deutlich ungeschickteren Auffrischung darstellte.3 Somit sind nur wenige, anscheinend unverändert gebliebene Merkmale anzuführen: Der untere, nach rechts ausholende Bogen des g ist in den Mittelbandbereich hineingezogen. Am oberen Ende des Schaftes sitzt ein nach rechts überstehender Zierbalken, den eine rechtwinklig angesetzte Haarlinie begrenzt. Die Fahne des r und das rechte Balkenende des t tragen einen senkrechten Zierstrich. Als Worttrenner dienen auf halbe Zeilenhöhe gesetzte Punkte, paragraphzeichenförmige Quadrangel oder Blütenornamente in roter Farbe.

Die Tafel vereint den seit dem 13. Jahrhundert auch in Westeuropa verbreiteten byzantinischen Typus des Passionsbildnisses „König der Herrlichkeit“ mit den arma Christi, den Bildelementen des Schmerzensmannes, der ab dem Ende des 14. Jahrhunderts in den Kontext der Gregorsmesse gestellt wurde.5 Der damals ins Leben gerufenen Legende nach gewährte Papst Gregor der Große aufgrund der Erscheinung Christi einen Ablaß, der in der Kirche Santa Croce in Gerusalemme zu Rom – dem angeblichen Ort des Geschehens – erworben werden konnte.6 Dort verehrte man seit langem einige Reliquien der arma Christi sowie eine kleinformatige, um 1300 entstandene Mosaikikone mit dem Abbild Christi, die erst um 1385 hierher verbracht worden war.7 Im Zuge der Jubeljahre soll der zunächst auf 14 000 Jahre festgelegte Straferlaß durch verschiedene Päpste, unter anderem auch durch Clemens VI. (reg. 1342–1352), bestätigt und schrittweise bis auf 77 000 Jahre erhöht worden sein.8 Auch außerhalb Roms konnte diese Indulgenz erlangt werden, indem man vor einem der römischen Mosaikikone nachempfundenen Bildnis des Erlösers ein bzw. mehrere Vaterunser oder Ave Maria mit gebeugten Knien sprach.9 Die deshalb zahlreich in Auftrag gegebenen Bildwerke wurden ab der Mitte des 15. Jahrhunderts häufiger mit entsprechenden Inschriften ausgestattet, die dem Betenden den angestrebten Ablaß verbindlich zusichern.10 Obwohl die Höhe des in Aussicht gestellten Straferlasses darin durchaus variiert, so sind die Abweichungen in der Anzahl der Jahre und Tage dennoch gering.11 Wie auf der Lichtenthaler Tafel werden diese in der Regel in zu summierenden oder zu multiplizierenden Teilmengen angegeben, die mit dem von Papst Gregor selbst gewährten großen Ablaß einsetzen. Dieser schwankt zwischen ursprünglich 14 000 und später 33 000 bzw. 34 000 Jahren. Nachfolgende Päpste – meist zwei, 40, 43 oder 46 an der Zahl – erhöhten ihn jeweils um sechs weitere Jahre. Der Beitrag der Bischöfe an der Ablaßvermehrung beläuft sich auf jeweils 40 Tage. Angesichts der üblichen Teilmengen von sechs Jahren und 40 Tagen ist davon auszugehen, daß es im Zuge der Überarbeitungen der Lichtenthaler Indulgenztafel zumindest zu einer Verfälschung der inschriftlichen Tagesangaben gekommen ist. Denn während der große Ablaß auch auf einer Relieftafel im Regensburger Domkreuzgang 34 000 Jahre umfaßt und die zwölf Jahre mit dem mehrfach bezeugten sechsjährigen Straferlaß durch zwei Päpste korrelieren,12 stehen die Angaben von 36 mal 30 und 60 hundert Tagen bisher allein. Vielleicht lautete die ursprünglich Version deshalb: sechs · vn(d) · xxxx · mal / · xxxx · tag · vn(d) · ii · hvnd(er)t. Zumindest ist mehrfach überliefert, daß 46 Bischöfe den Ablaß um jeweils 40 Tage13 und verschiedene Päpste bisweilen zusätzlich um 200 Tage14 erhöht hätten.

In welchem lokalen Zusammenhang sich die Tafel ursprünglich befand, ist nicht bekannt. Laut der Inschrift muß sie Teil eines Schreins (srin) gewesen sein, womit vermutlich ein Reliquienschrein bzw. Altar gemeint ist.15 Obwohl die Lichtenthaler Herkunft des Bildes nicht gesichert ist und seine Ausmaße zu gering sind, als daß zu dessen Datierung notwendig ein Bezug zur Baugeschichte der Abtei hergestellt werden müßte, läßt sich doch ein möglicher Zusammenhang postulieren. An der Lichtenthaler Klosterkirche fanden um 1470 umfangreiche Baumaßnahmen statt,16 die eine aufwendige Neuausstattung der Kirche nach sich zogen. So stammt der ehemalige Hochaltar aus dem Jahre 1489, der Frauenchoraltar von 1496 und die sog. Votivtafel mit dem Bildnis des seligen Bernhard von Baden aus den Jahren zwischen 1484 und 1503.17 Die Indulgenztafel könnte somit auch im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts entstanden sein, zumal die Regensburger Relieftafel als einziges Parallelbeispiel für einen großen Ablaß von 34 000 Jahren ebenfalls erst aus dem Ende des 15. Jahrhunderts datiert.18

Textkritischer Apparat

  1. Blütenornament. Um einen zentralen Punkt vier Strahlenbündel kreuzförmig angeordnet.
  2. Danach ein schwarzer senkrechter Strich.
  3. Das erste i kleiner ausgeführt und über das u gestellt.
  4. Um einen zentralen Punkt sind fünf bis sieben kleinere Punkte angeordnet.
  5. Lies vermutlich: xxxx, vgl. Kommentar.
  6. Das l gänzlich und das a zur Hälfte außerhalb des schwarz gerahmten Schriftfeldes.
  7. Lies vermutlich: xxxx, vgl. Kommentar. Auf dem Photo von 1944/45 scheint die Fahne eines zusätzlichen, voranstehenden x unter der Rahmenleiste des Schriftfeldes noch erkennbar zu sein, vgl. RP Karlsruhe (Denkmalpflege), Photoarchiv, Neg.-nr. 0889.
  8. Lies vermutlich: ii, vgl. Kommentar.
  9. Danach eine langgestreckte Fadenranke, die den gesamten Zeilenrest ausfüllt.

Anmerkungen

  1. Vgl. Kdm. (wie unten).
  2. Zum Bildtypus des Schmerzensmannes bzw. der imago pietatis vgl. LCI, Bd. 4, Sp. 87–95; Wiltrud Mersmann, Der Schmerzensmann, Düsseldorf 1952, passim; Gert von der Osten, Der Schmerzensmann. Typengeschichte eines deutschen Andachtsbildwerkes von 1300–1600, Berlin 1935, passim; Erwin Panofsky, Imago pietatis, in: Festschrift für Max J. Friedländer zum 60. Geburtstag, Leipzig 1927, 251–308.
  3. Befund nach Vergleich mit den Abbildungen in RP Karlsruhe (Denkmalpflege), Photoarchiv, Neg.-nr. 0889 sowie in Kdm. Baden-Baden 473 (Abb. 378).
  4. Io 19,19.
  5. Vgl. Heike Schlie, Welcher Christus? Der Bildtypus des „Schmerzensmannes“ im Kulturtransfer des Mittelalters, in: Grenze und Grenzüberschreitung im Mittelalter. 11. Symposium des Mediävistenverbandes vom 14. bis 17. März 2005 in Frankfurt an der Oder, hg. v. Ulrich Knefelkamp und Kristian Bosselmann-Cyran, Berlin 2007, 309–330, hier 314f., zur Verknüpfung mit der Gregorsmesse hier 317f. Zur Motivgeschichte der Gregorsmesse vgl. Das Bild der Erscheinung. Die Gregorsmesse im Mittelalter, hg. v. Andreas Gormans u. Thomas Lentes, Berlin 2008, passim; Karsten Kelberg, Die Darstellung der Gregorsmesse in Deutschland (Diss.), Münster 1983, passim; Die Messe Gregors des Grossen. Vision. Kunst. Realität, Katalog und Führer zu einer Ausstellung im Schnütgen-Museum der Stadt Köln, bearb. v. Uwe Westfehling, Köln 1982, 16–70; s. a. Gunhild Roth, Die Gregorsmesse und das Gebet „Adoro te in cruce pendentem“ im Einblattdruck. Legendenstoff, bildliche Verarbeitung und Texttradition am Beispiel des Monogrammisten d. Mit Textabdrucken, in: Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Probleme, Perspektiven, Fallstudien, hg. v. Volker Honemann, Sabine Griese, Falk Eisermann u. Marcus Ostermann, Tübingen 2000, 277–324, hier 278f. Ich danke Frau Dr. Christine Magin, Greifswald, für den Hinweis auf den Aufsatz von Heike Schlie und ihre gedanklichen Anregungen bei der Erarbeitung dieses Katalogartikels.
  6. Vgl. auch zu den folgenden Angaben Die Messe Gregors des Grossen (wie Anm. 5) 19–22.
  7. Vgl. Schlie (wie Anm. 5) 318.
  8. Vgl. Die Messe Gregors des Grossen (wie Anm. 5) 27, 77 nr. 16. S. a. den inschriftlichen Verweis auf die Ablaßbestätigung durch Papst Clemens VI. auf dem Epitaph des Erasmus von Paulsdorf und der Dorothea von Leublfing in DI 40 (Stadt Regensburg I) nr. 149.
  9. Vgl. zu den Stellvertreterindulgenzien Schlie (wie Anm. 5) 320.
  10. Vgl. ebd. Anm. 32. Eine Zusammenstellung der Überlieferungsträger mit den Legenden- und Ablaßtexten bietet Roth (wie Anm. 5) 291–301 nrr. 1–33.
  11. Vgl. auch zu den folgenden Angaben ebd.
  12. Vgl. ebd. 296 nr. 14 sowie ebd. 292 nr. 4; 295 nr. 12; 296 nr. 16.
  13. Vgl. ebd. 291–299 nrr. 1–16, 18–21, 23, 24, 28.
  14. Vgl. ebd. 292 nr. 3; 294 nrr. 9, 10; 296 nr. 14, 15.
  15. Vgl. zum Begriff Schrein bzw. schrin allg. Grimm/Grimm, Dt. Wörterbuch, Bd. 9, Sp. 1725–1728; Lexer, Mhd. Handwörterbuch, Bd. 2, Sp. 799f.
  16. Vgl. Coester, Klosterkirche 88, 94.
  17. Vgl. nrr. 114, 127, 155.
  18. Vgl. Roth (wie Anm. 5) 296 nr. 14. Zur Datierung s. a. SpMAORh, T. 2, Bd. 1, 123 nr. 229 (um 1500); Kdm. (wie unten) 472 nr. 7 (um 1500).

Nachweise

  1. Kdm. Baden-Baden 472 nr. 7, 473 (Abb. 378).
  2. RP Karlsruhe (Denkmalpflege), Photoarchiv, Neg.-nr. 0889 (Aufn. 1944/45).
  3. 750 Jahre Lichtenthal 264 nr. 98 (Abb. 98).
  4. KA Lichtenthal o. Sig., Krupp, Inventar, Bd.: Museum, Innerer Raum 11, Wand III, Wand IV, o. S.
  5. SpMAORh, T. 2, Bd. 1, 123 nr. 229, 124 (Abb. 229).

Zitierhinweis:
DI 78, Stadt Baden-Baden und Landkreis Rastatt, Nr. 136 (Ilas Bartusch), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di078h017k0013607.