Inschriftenkatalog: Altkreis Witzenhausen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 87: Witzenhausen (Altkreis) (2017)

Nr. 57 Bad Sooden-Allendorf-Hilgershausen, Kirche 1570

Beschreibung

Glocke. Umlaufende Inschrift A an der Schulter zwischen Doppelstegen, Worttrenner: Zapfen. Die Flanke ist verziert mit zwei einander gegenüberliegenden Reliefdarstellungen: 1. in dünnem Rahmen Madonna mit Kind auf dem linken Arm, einen Apfel reichend, und 2. Kruzifixus (mit geringen Spuren eines Titulus B?) mit zwei Frauen(!) zu Seiten des Kreuzes. Am Wolm oben ein Dreifach-, unten ein Doppelsteg. Inschriften erhaben gegossen; größtenteils erkennt man noch die Montage von Einzelbuchstaben auf Plättchen.

Maße: H. 52, Dm. 64, Bu. 2,3 (A), 1 cm (B).

Schriftart(en): Kapitalis.

© Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz, Fotograf: Christian Feist [1/10]

  1. A

    MARIA HEIS ICHHANS HEKMANa) VON · ERSHAVSEN · GOS · MICb) ·1570c) ·

  2. B

    I(ESVS) N(AZARENVS) R(EX) [I(VDAEORVM)]1)

Versmaß: Deutsche Reimverse (A).

Kommentar

Die korrekte Lesung der Inschrift und die Datierung der Glocke stellen angesichts widersprüchlicher Angaben und Bezüge ein Problem dar. Heinrich Wenzel zitiert in Band 3 (Kreis Eschwege) seiner Hessischen Glockenkunde eine Glockeninschrift in Motzenrode (Gemeinde Meinhard im Werra-Meißner-Kreis, Altkreis Eschwege) mit folgendem Wortlaut: HANS HECKEMAN SCHULTHEISE VON ERSHAUSEN HAT MICH GEGOSEN 1511. Damit scheint ein Gießer Hans Heck(e)mann zum Jahr 1511 nachgewiesen. Ihm hat Wenzel auch die Hilgershäuser Glocke zugeschrieben.2) Walter kennt aber einen Glockengießer Hans Hermann von Ershausen (Gemeinde Schimberg, Lkr. Eichsfeld, Thüringen), der um 1570 tätig war;3) Eichler übernimmt diese Angabe und bemerkt dazu: „Glockengüsse sind nicht bekannt.“4) Es handelt sich offenbar um dieselbe Person, deren Name von Walter oder seinem Gewährsmann samt Jahreszahl anders gelesen worden war, was durch die Form der Zeichen verständlich wird: Das K scheint gelegentlich dem Unkundigen einem R sehr ähnlich. Die Ziffer links von der 5, die mit Sicherheit eine 1 ist, ist erkennbar anders geformt als die Ziffer rechts von der 5: Die leicht rechtsschräge Haste sowie der kurze rechtsschräge Balken der Zehnerziffer sprechen für eine 7. Mindestens bei der Jahreszahl muss man Walter zustimmen, denn diese Form der 7 ist im weiteren Raum auch in Steininschriften stark präsent,5) während in anderen Gegenden die vollständige Aufrichtung der 7 dominiert. Diese Sichtweise und damit neue Datierung auf 1570 stützen die steile Rippe der Glocke und die Schriftformen, auch wenn A mit nach links überstehendem Deckbalken und geknicktem Mittelbalken sowie M mit weit ausgestellten äußeren Hasten einen leicht altertümlichen Eindruck machen. Das liegt jedoch noch in der Variationsbreite des 16. Jahrhunderts, denn alle übrigen Buchstabentypen und -auffassungen entsprechen einer entwickelten Kapitalis, insbesondere das R mit der zur Haste zurückgebogenen Cauda. Bei der Glockeninschrift von Hilgershausen liegt also nicht die früheste Verwendung einer Kapitalis auf einer Glocke des Bearbeitungsgebiets vor. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Wenzel und Kollmann beide Gussjahre (1510 und 1511) aus 1570 und 1577 verlesen haben, weil die alte 7 in dieser speziellen Ausprägung einer modernen 1 gleicht.

Die Spätdatierung um 60 Jahre stützt auch das Relief der Kreuzigung mit den modernen Gewändern der beiden Frauen.

Der Glockenspruch ist weit verbreitet, nicht nur in der Form Maria heiß ich, xy von z goß mich; das Formular scheint sich von Köln ausgehend seit dem Ende des 14. Jahrhunderts im Rheinland und weit darüber hinaus verbreitet zu haben.6) Wenn die Glocke 1570 gegossen wurde, wie oben dargelegt, scheint ein Widerspruch zum protestantischen Umfeld in den Orten der Landgrafschaft zu bestehen, denn das Kloster Germerode, Kirchenherr in Hilgershausen, war im Zuge der hessischen Reformation schon lange davor aufgelöst worden. Die Marienglocke, deren Anschaffung 1570 für Hilgershausen nur schwer nachzuvollziehen ist, wurde von einem Gießer aus dem katholischen Eichsfeld gegossen und könnte zunächst für einen anderen Standort bestimmt gewesen sein; wann sie wirklich nach Hilgershausen kam, weiß man nicht. Im Übrigen scheinen Applikationen aus dem altgläubigen Umfeld nicht per se als anrüchig angesehen worden zu sein, denn auf der Glocke von 1603 in der Witzenhäuser Liebfrauenkirche (Kat.-Nr. 127) sind Siegel mit Heiligendarstellungen aufgelegt und Reliefs von Heiligen sind auch auf die Großalmeröder Glocke von 1617 (Kat.-Nr. 140) aufgebracht.

Textkritischer Apparat

  1. So auch Wenzel, Kollmann (Chronik Hilgershausen). Zur Lesung und Datierung s. unten im Kommentar.
  2. Sic!
  3. So auch Walter, s. unten Kommentar; Wenzel und Kollmann (Chronik Hilgershausen) lasen 1510.

Anmerkungen

  1. Joh 19,19.
  2. s. Wenzel, Glockenkunde 3 im Anhang, wo die Gießer aufgeführt sind. Die Kenntnis der Glockeninschrift von Motzenrode verdanke ich Karl Kollmann, Eschwege.
  3. Walter 768.
  4. Eichler 126 s. v. Hermann Hans.
  5. s. DI 91 (Hersfeld-Rotenburg), Einleitung Kap. 5.6, S. XLVI u. diverse Nrr. der Inschriftenproduktion von Valentin Hep.
  6. s. Poettgen, Trierer Glockengießer 75f.

Nachweise

  1. Wenzel, Glockenkunde 4, fol. 34v, Glockenkunde 24, fol. 34r.
  2. Ganßauge 133 (A, unvollständig).
  3. Chronik Hilgershausen 187.

Zitierhinweis:
DI 87, Witzenhausen (Altkreis), Nr. 57 (Edgar Siedschlag, Mitarbeit: Fuchs, Rüdiger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di087mz13k0005706.