Inschriftenkatalog: Altkreis Witzenhausen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 87: Witzenhausen (Altkreis) (2017)

Nr. 10(†) Witzenhausen, Steinstraße 19 (Wilhelmitenkloster) 1428, 1471, 1491

Beschreibung

Zwei Steintafeln am Verwaltungsgebäude des Deutschen Instituts für tropische und subtropische Landwirtschaft (DITSL). Sie befinden sich auf der Gartenseite des Gebäudes neben einer Treppe, die zu einem dem Eingang vorgelagerten Podest führt, und sind rechts und links neben den Stufen in die Vorderseite des Podests eingelassen, links Inschrift I, rechts Inschrift II. Beide Inschriften erhaben in vertiefter Zeile, also zwischen eng an den Buchstaben anliegenden Stegen (Lineatur). Sie erinnern an das Wilhelmitenkloster in Witzenhausen und seine ehemalige Kirche, die an dieser Stelle stand. 1740 war sie verfallen und wurde zu einem Amtshaus umgebaut. Aus diesem wurde Ende des 19. Jahrhunderts ein Teil der Witzenhäuser Kolonialschule. Ihr Erbauer bezog Reste der Kirchenarchitektur in sein Bauwerk ein und bewahrte so die Inschrifttafeln.

Die Inschriften am Wilhelmitenkloster sind kopial überliefert im Bericht 1711, aus dem auch ihr ursprünglicher Platz ersichtlich ist: „Noch ist eine Kirche alhier am Closter S. Wilhelmi ... In vorgedachter Kirche befinden sich nachfolgende alte Nachrichtungen und Urkunden als (1) außerhalb an solchem Gebeu gegen Mittag an einem Pfeiler nechst dem Chor gelegen im untersten Stockwercke an einem Steine in unleserlichen alten Müncheschrift diese Worte (folgt Inschrift I) (2) Noch außerhalb solchen Gebeuws gegen Mittag ahn einem Pfeiler nach der Sonnen Niedergang gelegen am untersten Stockwercke diese Verba (folgt Inschrift II). (3) In der Kirchen befindet sich ein klein Bolwerck und gewolbeter Scheidt, wodurch das Chor und unterste Theil gegen Abend separiret werden, worauf in der Mitten gegen Morgen ein Predigtstuhl mit außgehauenen großen Steinen ahngebauet und unter demselben diese Jahreszahl alß (folgt Inschrift III) eingehauen stehet. (4) Ferners in dem Chore gegen der Sonnen Aufgang auf der Seiten an der Wandt gegen Mitternacht zu, über der Thür eines Windelssteges wirdt ein Gemählde in zimlicher Größe befunden, in welchem auch verschiedene Bildnüsse in kleiner Statur und deren Nahme darüber stehet, desgleichen noch unter solchem Gemahlde in der Mitten zwey Wapen und zu beiden Seiten solchen Wapen einige Schrift von verschiedenen Zeilen in Münchsbuchstaben und Latein bestehendt befunden, so aber, weilen solche Schrift mehrentheils verblichen, auch wegen der unförmlichen Buchstaben nicht wohl mehr zusammengebracht und ein gründtlicher Verstand darauß genommen werden kann; doch ist darauß, weilen vielmahlen in solchen Zeilen das Wort „genuit“ wiederholet wirdt alß (folgt Inschrift IV) und so weiter, ist zu präsumieren und zu schließen, daß darinnen die Genealogia und Geburthslinie des St. Wilhelmi als fundatoris selbigem Closter vorgestellet und beschrieben werde.“1) Inschriften erhaben in vertiefter Zeile (I, II).

Ergänzt nach Regnerus Engelhard.

Maße: Tafeln: H. 42, B. 82, Bu. 5,5 (I), H. 43, B. 82, Bu. 5,5 cm (II).

Schriftart(en): Gotische Minuskel (I), mit Versal (II).

© Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz, Fotograf: Christian Feist [1/2]

  1. I

    anno · domini · m · ccccoa) · / xxviii · hoc · inceptvm / est · qvarta · feria · post · / penthecosten

  2. II

    Anno · domini · m · ccccoa)· / septvagesimo · primo · / hoc · opvs · est · in · cep/tv[(m)]b) · feria · 4ac)· p(ost)d) · t(ri)nit(a)tise)

  3. III†

    1491

  4. IV†

    [– – –] genuit Karolum, Karolus Emetrudemf) [– – –]

Übersetzung:

(I) Im Jahre des Herrn 1428 wurde dies begonnen am Mittwoch nach Pfingsten (26. Mai 1428).

(II) Im Jahre des Herrn 1471 wurde dieses Werk begonnen am Mittwoch nach Trinitatis (12. Juni 1471).

(IV) (…) zeugte Karl, Karl die Ermetrud, (…)

Kommentar

Die stark verwitterten Inschriften weisen anscheinend punktförmige Worttrenner auf, doch handelt es sich um die verwaschenen Reste von in der Mitte spitz zulaufenden Quadrangeln. Die 4 in Inschrift II ist schlingenförmig. Auch die kopial überlieferte Inschrift III ist mit Schlingen-4 geschrieben.

Die Ähnlichkeit in der Ausführung der Tafeln und der Schrift legt die Vermutung nahe, dass beide Tafeln gleichzeitig bei Vollendung des Baues angebracht wurden. Darum ist zu prüfen, ob nicht die Inschrift von 1471 von der Vollendung des Baues spricht. In der Tat scheint es möglich, perfectum zu lesen, wo man bisher inceptum gelesen hat – mit einer Ausnahme, die das vermutete perfectum stützt: Die Katastervorbeschreibung von Witzenhausen, die im Witzenhäuser Lager-, Stück- und Steuerbuch überliefert ist, zitiert eine Inschrift am Wilhelmskloster so:2) „Quarta die post pentecosten anno millesimo quadringentesimo septuagesimo primo hoc opus est infectum“. Diese Inschrift, die so nicht existiert und auch nicht existiert hat, ist aufschlussreich. Sie beginnt mit vier Wörtern, die den Schluss von Inschrift I bilden, dann folgt der Wortlaut von Inschrift II (ohne den Schluss). Es liegt also eine Kontamination der beiden noch vorhandenen Inschriften vor, bei der man spekulieren mag, wie sie zustande gekommen ist. Eine Folgerung aber erscheint unausweichlich: auf infectum kann der „Kontaminator“ doch nur gekommen sein, wenn er die Inschriften im Original gelesen hat! Er hat sogar dieses Wort, dessen Bedeutung nicht passt, gewissenhaft beibehalten. Freilich ist eine Verlesung von c zu f in der auf zwei Linien zusammengedrängten Schrift eher nachvollziehbar als von p[.] zu in.

Nun sind aber die beiden Inschriften auch von Regnerus Engelhard überliefert worden, und dieser bietet eine ungemein exakte Wiedergabe insbesondere der Inschrift II: Er schreibt den Text in Minuskeln, die Zahlen in Majuskeln, wobei hochgestellte o den Ablativ der Ordnungszahl signalisieren. Weiter setzt er für jeden Worttrenner einen Punkt, ahmt die Schlingen-4 nach (durch ein kursives griechisches Delta?) und lässt hochgestelltes ta auf sie folgen. Weiter schreibt er post als p plus us-Haken, dann einen Worttrenner und als Schlusswort trintis. An der fraglichen Stelle steht est.in.ceptu mit einem Abkürzungsstrich über dem u; davon ist nur dieser Kürzungsstrich nicht mehr nachvollziehbar, an der obigen Lesung besteht also kein Zweifel.

Eine Klärung der Entstehungszeit der Inschrift I ergibt sich daraus aber nicht. Es bleibt die Alternative: entweder mit Staunen anzuerkennen, wie gut die jüngere Inschrifttafel der älteren nachgemacht ist, oder anzunehmen, dass der früher begonnene Bauabschnitt die seinen Beginn betreffende Inschrift erst 1471 bekommen hat.

Übrigens hat Engelhard auch Erklärungen für die verschiedenen Jahreszahlen in I und II. „Diese Inschriften haben ... an Pfeilern, doch außerhalb der Kirche, gestanden. Und die Umstände machen wahrscheinlich, dass die erste Jahreszahl 1428 auf die Erbauung des Chores, sowie die zweyte 1471 auf das Schiff zu deuten seyn möchte; Wie denn das Kloster selbst 1424 zu bauen soll seyn angefangen worden.“3) Dieser Deutung der Jahreszahlen ist auch unter paläographischen Gesichtspunkten zuzustimmen. Bauinschriften des 15. Jahrhunderts sind im Bestand und darüber hinaus ähnlich gestaltet, also als erhabene Minuskelinschriften zwischen erhabene Linien geschrieben; die Ähnlichkeit der Schriften ist daher nur vordergründig. Entscheidungshilfen für ihre Entstehung im Abstand von knapp über 40 Jahren geben Beobachtungen zu feinen Unterschieden im breiteren Duktus und in der breiteren Linienführung von Inschrift I, in deren Versal am Beginn, in den länglichen Brechungen gegenüber den mehr quadrangelartigen in Inschrift II und den, vor allem bei c und e zu beobachtenden, etwas abgesetzten oberen Bogenenden; in Inschrift II scheint das a der Kastenform nahezukommen. Diese Unterschiede mögen angesichts des ruinösen Zustandes nicht offensichtlich erscheinen, doch fallen sie als formale Individualitäten des Duktus ins Gewicht.

Inschrift I stimmt bis auf die geringe Abweichung des Tagesdatums: feria v ante penthecosten mit einer Inschrift von 1428(!) an der Johanneskirche in Uslar überein.4) Die zeitliche Nähe der Grundsteine von Uslar und Witzenhausen legte den Gedanken nahe, beide Geschehnisse mit einer Rundreise des Mainzer Weihbischofs Heinrich in Verbindung zu bringen.5)

In der Inschrift IV sind Ansätze einer Genealogie des Ordensgründers Wilhelm von Maleval zu erkennen, die aber aus einer Kontamination mit der Abstammung des aquitanischen Herzogs Wilhelm (von Gellone) entstand; dieser gilt als Enkel Karl Martells, ohne dass man das aus Quellen belegen und den Frauennamen diesem zuordnen könnte.6)

Textkritischer Apparat

  1. Die kreisförmige Erhöhung rechts oben in der Ecke neben dem letzten c ist als o zu deuten. Hinter m keine Spur eines hochgestellten o.
  2. s. den Kommentar. Mogge, Huyskens und Schäfer folgen dem Bericht 1711 und lesen est inceptum. Ich erkenne hinter opus einen Worttrenner, dann folgen 2–3 nicht mehr genau identifizierbare Buchstaben, die Deutung est ist passend und sehr naheliegend. Danach erkenne ich einen weiteren Worttrenner und 2–3 Buchstaben, hier könnte pf näherliegen als in, auch wenn sich das p ein wenig von den andern p unterschiede. Dann folgt anscheinend ein vierter Worttrenner, es könnte aber ein Rest eines e vorliegen. Allerdings sind die übrigen e alle besser erhalten. Kürzungszeichen (Querstrich/Nasalstrich über u) fehlt, Reste sind nicht erkennbar.
  3. Schlingenförmige 4; a hochgestellt.
  4. Kürzungszeichen: us-Haken. Huyskens schreibt p’.
  5. So sind die verwitterten und extrem gleichförmig aussehenden Buchstaben zu deuten. Das von Engelhard gelesene trintis lässt sich wegen des nicht nachvollziehbaren r (s. bei feria) nicht aufrecht erhalten. Kürzungszeichen fehlend oder nicht mehr erkennbar; die Verdickung über dem ersten t ist unspezifisch.
  6. So wohl verlesen aus erme(n)trud bzw. irme(n)trud. Dieser Name ist in karolingischer Zeit reichlich belegt, unter anderen hieß so eine Schwägerin Karls d. Gr., und Ermentrud († 869), Tochter Graf Odos von Orléans, war die erste Frau Karls d. Kahlen – daher könnte der Text auch anders konzipiert sein und diese Stelle nicht vom vorausgehenden genuit abhängig sein.

Anmerkungen

  1. Im Bericht 1711 folgen noch (5) und (6) mit der Erwähnung von Wappen, ohne Hinweis auf Inschriften. Die Quelle zitiert auch Huyskens 679ff.; die Inschriften hat er aufgenommen unter Nrr. 1510 (zu I) und 1567 (zu II). Über das Wilhelmitenkloster s. auch die Veröffentlichung des Geschichtsvereins Witzenhausen (s. Literaturverzeichnis), die auf S. 54 auf die Inschriften eingeht, und Schäfer 25–48 (zum ehemaligen Kloster in Witzenhausen und zum Schicksal der Klosterkirche).
  2. Die Quelle ist abgedruckt in: Eckhardt, Witzenhausen 1745; das Zitat stammt von S. 9.
  3. Inschriften, durch die zwei Bauabschnitte dokumentiert werden, gibt es auch sonst, z. B. an der Kirche St. Andreas in Hildesheim, vgl. DI 58 (Stadt Hildesheim) Nrr. 105, 135.
  4. Für den freundlichen Hinweis auf die beiden niedersächsischen Inschriften danke ich Christine Wulf, Göttingen; zu Uslar s. jetzt DI 96 (Northeim) Nr. 35.
  5. Vgl. ebd.
  6. Die Mutter Aldana war nach Wilhelms hochmittelalterlicher Vita von edler Abstammung, also wohl aus der Sippe der Pippiniden – mehr weiß man nicht.

Nachweise

  1. Bericht 1711 (= Eckhardt, Bausteine 30) (I–IV).
  2. Engelhard 1,267.
  3. Huyskens Nrr. 1510 (I), 1567 (II).
  4. Schäfer 27 (I, II).
  5. Mogge 54 (I, II).

Zitierhinweis:
DI 87, Witzenhausen (Altkreis), Nr. 10(†) (Edgar Siedschlag, Mitarbeit: Fuchs, Rüdiger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di087mz13k0001002.