Die Inschriften des Altkreises Witzenhausen

5. Die Schriftformen

Die Zusammensetzung des Inschriftenbestandes und seine zeitliche Verteilung bestimmen weitgehend die aus den Schriftformen zu gewinnenden Erkenntnisse. Diese sind für das Spätmittelalter und die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts angesichts der vergleichsweise dünnen Überlieferung nur eingeschränkt verwertbar.

5.1 Gotische Majuskel und Gotische Minuskel

Die Gotische Majuskel, die sonst als Standardschrift von der zweiten Hälfte des 13. bis zum Ende des 14. Jahrhunderts gelten kann,118) erscheint im Bearbeitungsgebiet erstmalig in der zweitältesten Inschrift (Kat.-Nr. 2), nämlich auf der Grabplatte des Segehardus genannt Emmichin, der 1371 verstarb. Es sind dort die für die Schrift typischen Schaftverbreiterungen, Schwellungen an Bögen und Abschlussstrichen nachvollziehbar. Dann ist sie mit wenigen Buchstaben und mit Minuskeln vermischt ein weiteres Mal in der Inschrift am Diebesturm in Witzenhausen belegt, die aus dem Jahr 1413 stammt (Kat.-Nr. 7). Es fehlen im Bestand offenbar entsprechend frühe Grablegen mit den verbreiteten Umschriftplatten, die meist länger die Majuskel bewahrten als Bauinschriften seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Daher fand die Majuskel über die eine Platte (Kat.-Nr. 2) hinausgehend nur am Rande als eingestreute Schriftform zumeist im Bereich des Datums Anwendung (Kat.-Nrr. 7, 8, 19, 20).119) Die Versalien des frühen 15. Jahrhunderts entfernen sich nicht weit von jenen des 14., bei jüngeren muss man immer mit Kontamination durch frühhumanistische Einflüsse rechnen.

Die Gotische Minuskel ist eine Auszeichnungs- und auch Monumentalschrift, die der seit dem 11. Jahrhundert aus der karolingischen Minuskel entwickelten Textura verwandt ist. Ihre wesentlichen Merkmale sind die Auflösung der Bögen in Schäfte und Brechungen sowie die meist als Quadrangel ausgeformte Brechung der Schäfte auf der Grundlinie, bei kurzen Schäften auch an der oberen Mittellinie. Die Verwendung der Gotischen Minuskel setzt in Deutschland im 14. Jahrhundert zu unterschiedlichen Zeiten in fast allen Regionen ein.120)

Gegenüber der Majuskel ist die Gotische Minuskel,121) die eigentlich jüngere Schriftart, im Bearbeitungsgebiet jedoch schon früher belegt, nämlich in der ältesten Inschrift von 1369 (Kat.-Nr. 1/I), damals noch eingehauen. Sie dominiert dann über ein Jahrhundert in ihrer erhabenen Variante die Bauinschriften (Kat.-Nrr. 1/II, 7, 8, 9, 10, 17) und die Glocken (Kat.-Nrr. 5, 11†, 12†, 13, 15†, 16, 20†, 26, …) sowie gemalt die spätmittelalterlichen Wandmalereien (Kat.-Nrr. 3, 4, 6); nur dort tritt sie früh mit eigenen Versalien auf. Die Minuskel bleibt auch lange die probate Schrift für Inschriften am Bau (Kat.-Nr. 19) und für spätgotische Goldschmiedearbeiten (Kat.-Nrr. 18, 2123, 38, Kelche). Insofern stimmt das Bild mit dem einzigen gut überschaubaren Nachbarbestand, dem des Landkreises Göttingen im Norden von Witzenhausen,122) überein.

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Die Verwendung neuer Schriften deutet sich in dem Wechsel der Versalien bei Minuskelschriften an, wenn auf der Witzenhäuser Kortrog-Glocke von 1505 (Kat.-Nr. 25) und auf dem Uengsteroder Taufstein von 1506 (Kat.-Nr. 27) nicht mehr Majuskeln oder gar Versalien der späten Minuskel (s. Kat.-Nr. 28), sondern Buchstaben aus dem variantenreichen Reservoir der Frühhumanistischen Kapitalis integriert werden. Daneben bleiben reine Minuskelverwendungen bestehen (Kat.-Nrr. 30, 31, 32, 33(?), 38). Letztmalig erscheinen Gotische Minuskeln in reiner Form und als Hauptschrift eines zusammenhängenden(!) Textes auf der 1521 für Hilgershausen (Kat.-Nr. 35) gegossenen Glocke, die inzwischen verloren ist. Nur einer gewissen Beharrungskraft im Milieu ist die 1572 in einer Hausinschrift (Kat.-Nr. 59) vorkommende breit eingetiefte Minuskel für den Namen des Baumeisters zuzuschreiben. Minuskeleinfluss in jüngeren Schriftarten ist jeweils dort zu betrachten. Er konzentriert sich auf verminderte Rundung bei Frakturen und eckige Bildungsweisen einzelner Kapitalisbuchstaben wie U.

Besondere Ausprägungen der Minuskel sind in den frühen Bauinschriften, zumeist erhaben bzw. ausgespart hergestellt, kaum nachzuvollziehen, da die Drängung der Buchstaben und ihre Anlehnung an die gliedernden Stege, außerdem der oft schlechte Zustand genauere Beobachtungen verstellen. Ihre Charakterisierung als erhabene Schriften leugnet nicht die Nähe zu ausgesparten, doch fehlt deren konsequente Zusammendrängung und dichter Anschluss an die trennenden Stege; den ausgesparten Minuskeln nahe kommt allenfalls die Berlepsche Bauinschrift von 1475/78 (Kat.-Nr. 1/II), noch weniger die älteren des Wilhelmitenklosters (Kat.-Nr. 9). Hervorzuheben sind florale Zierden bei mehreren Kelchen (Kat.-Nrr. 18, 2123) und die singuläre Verwendung einer Bandminuskel bei einer von drei sonst gleichartigen Beschriftungen eines spätgotischen Kelchs (Kat.-Nr. 38).

5.2 Frühhumanistische Kapitalis, frühe und gereifte Renaissancekapitalis

Noch lange vor dem Ausgang des Mittelalters in der Mitte Europas bahnte sich in Italien eine Kulturrevolution an, die mit dem Namen Renaissance belegt wurde und mit der Wiederentdeckung der römischen Antike deren Errungenschaften in Kunst und Kultur wiederzubeleben versuchte. Dazu gehörte auch die quasi-Neuentdeckung der alten Schriftformen. Den Bewohnern Italiens – und auch den neugierigen Besuchern aus dem Norden – standen die antiken Werke vor Augen, die das Erbe der Schriftkunst öffentlich bewahrt hatten. Auch war die Tradition der Kapitalis in Italien nicht annähernd so lange unterbrochen worden wie im Norden, und die Aufnahmebereitschaft für das Neue war durch die weitaus geringere Nutzung der Gotischen Minuskel als Monumentalschrift gewiss größer. Nach einer längeren Experimentalphase seit Beginn des 15. Jahrhunderts gelangen dann nach der Mitte des 15. Jahrhunderts die ersten besseren Adaptationen der römischen Kapitalis, die mit der Kunst der Zeit Papst Sixtusʼ IV. (1471–1484) verbunden sind. Größtenteils zeitlich parallel finden sich unklassische Schriften verschiedenster Ausprägung, vor allem außerhalb Italiens sogar mit der sogenannten Frühhumanistischen Kapitalis die Kapitalis gezielt verfremdende Tendenzen, die trotz eines hohen Stilisierungsgrades eine große Vielfalt und Vermischung mit alten und fremden (griechischen) Elementen hervorbrachten.123)

Ohne ein eigenes überragendes geistiges Zentrum in einer geistlichen Korporation oder einer prägenden Residenz im Bearbeitungsgebiet oder dicht dabei blieb die Aussicht, schnell [Druckseite LXIV] an die neuen Schriftenentwicklungen in den süddeutschen und rheinischen Hochburgen des Humanismus anzuschließen, gering, da die Wahl und Ausführungsqualität von Renaissanceschriften immer von Impulse gebenden Personen einer bestimmten Prägung abhingen. Nicht zu vernachlässigen, aber im Ganzen noch nicht erfasst ist der mögliche Einfluss eines länger bestehenden und neue Formen verbreitenden frühen Zentrums des Buchdrucks, das hier ebenso fehlt. Aus diesen Gründen und weil erneut die Belegdichte fehlt, lässt sich die Aufnahme der Renaissanceschriften nicht in ausreichendem Maße nachverfolgen.

Die Kategorisierung einer Schrift als Frühhumanistische Kapitalis wurde schon vor längerer Zeit fixiert.124) Diese Schriftart umfasst allerdings einen großen Variantenreichtum auch in geschlossenen Buchstabenbeständen einzelner Inschriften; zusätzliche Schwierigkeiten ergeben sich durch unreine Anwendungen, also bei jenen Inschriften, in denen sich Formen der Frühhumanistischen Kapitalis und solche früher Varianten der Renaissancekapitalis mischen. Einzelne Elemente lassen sich sogar noch sehr spät nachverfolgen, wie das nicht zu seltene Vorkommen des zweibogigen, also epsilonförmigen E um 1600 und noch danach zeigt.

Die dem Grundbestand der Frühhumanistischen Kapitalis im vorliegenden Corpus am nächsten kommende Beschriftung zeigt eigenartigerweise der Allendorfer Hirsetopf von 1584 (Kat.-Nr. 81); das charakteristische zweibogige E fehlt in der Hausinschrift der Walburger Straße 7 in Witzenhausen von 1563 (Kat.-Nr. 48). Sonst sind in beiden Schriftcorpora Nodi bzw. Halbnodi oder Ausbuchtungen an Schäften und Balken, in Allendorf offene runde D und G, der kurze Mittelteil und die konischen Außenschäfte von M, deren verbreiterte Enden wie beim A einen Winkel zur Grundlinie bilden, in Allendorf das R mit kleinem Bogen und langer gerader Cauda vorhanden. In Witzenhausen ist das R manieristisch aus der Bogenvariante zu Z verformt, D und G nicht vollrund, stattdessen offen und spiegelbildlich mit übergreifendem Bogenende; bei einzelnen Buchstaben wie L lassen sich dort Bildungsweisen nach dem Vorbild von Minuskeln feststellen. Ähnliche Formen, aber mit mehr Zumischung regulärer Kapitalisbuchstaben finden sich 1565 in Werleshausen (Kat.-Nr. 46). Ansonsten beschränkt sich die Verfremdung von Kapitalisschrift durch diese scheinbar ältere Formensprache meist auf einzelne Buchstaben (Kat.-Nrr. 16, 25, 27, 39, 46). Einen besonderen Fall stellt die Glocke von Fürstenhagen von 1512 (Kat.-Nr. 29) dar, bei der neben frühen Kapitalisbuchstaben, die noch ohne klassizierende Elemente auskommen, Anleihen aus der Frühhumanistischen Kapitalis, aber auch aus älteren Schriften gemacht werden: So wirkt das unziale E fast hochmittelalterlich.

In den meisten Inschriftenbeständen, sofern sie nicht von ausgesprochen humanistischen Kreisen beeinflusst werden, zeigen sich Kapitalisverwendungen wenigstens ansatzweise in einzelnen Spezimina, gegebenenfalls sogar als Importkunst. Nur selten kann man an den meist dünnen Beständen die Ausbildung stark klassizierender Schriftformen oder die Annäherung daran über einen längeren Zeitraum beobachten. Vielfach drängen schnell auch bei künstlerisch anspruchsvollen Werken lokale oder individuelle Auffassungen von Kapitalisschriften ein, die schon mit der zweiten oder spätestens dritten Dekade klassizierende Ambitionen überwiegen und in die werkstattgebundenen Individualschriften überleiten.125) Eine Inschrift mit typischer noch klassizierender Renaissancekapitalis gibt es im Bestand vor [Druckseite LXV] 1550 und lange danach nicht, und dann wegen der schon einsetzenden Neuerungen nur mit großen Einschränkungen.

In dem für die Ausbildung der lokalen Kapitalisformen wichtigen zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts, in dem sich quasi entscheidet, wie nahe die lokalen Werkstätten bei klassizierenden Formen bleiben und wie sie sich weiterentwickeln, fehlen im Bestand genügend große Buchstabenmengen, um überhaupt etwas auszusagen. In dem Jahrhundertviertel danach war die verspätete Nutzung der Frühhumanistischen Kapitalis zu erkennen, auch in der gelegentlichen Integration von typischen Einzelformen. Eine breite Grundlage für eine Traditionsbildung fehlt also.

Die ersten Kapitalisschriften ohne typologische Verfremdung, freilich mit wenig klassizierendem Anspruch finden sich auf zwei Glocken von 1568 in Dohrenbach (Kat.-Nr. 54) und weniger deutlich 1570 in Hilgershausen (Kat.-Nr. 57).126) Das geringe Verständnis für die neue Formensprache, die ja damals gar nicht mehr neu war, zeigt die Rechtsschrägenverstärkung des A in Dohrenbach. Erst in den Jahren danach eröffnet sich mit der ansteigenden Zahl von Grabmälern höherer Qualität die Gelegenheit zur Verwendung ambitionierter Kapitalisschriften, die jeweils einzeln untersucht und beurteilt werden müssen, da sich keine größere Werkstatt etablierte. Nur in wenigen Fällen sind Hausinschriften in Holz belastbare Zeugnisse, da sich viele Formen durch Verluste oder restauratorische Verfälschungen nicht beurteilen lassen (s. Kat.-Nrr. 59f.). Überblickend und vorausgreifend darf man feststellen, dass sehr individuelle Schriften fern der klassizierenden Ausprägungen bei weitem überwiegen.

Einen gewissen Anspruch an dekorativem Schriftempfinden darf man den figürlichen Grabplatten der Berlepsch-Grablege (Apel Kat.-Nr. 56, Margaretha Kat.-Nr. 66, Anna von Bodenhausen um 1600, Kat.-Nr. 120) in der Witzenhäuser Liebfrauenkirche und dem monumentalen Bodenhausen-Denkmal (Kat.-Nr. 63) nicht absprechen. In geradezu manierierter Weise sind besonders bei letzterem die Balken von E und L geschwungen, einmal bei T (EPITAPHIVM), die Sporen zu inneren Spitzen abgeschrägt, Schäfte und Schrägschäfte zum Ende hin verbreitert; dabei ist größtenteils Linksschrägenverstärkung gewahrt. Verfremdend wirken auch Ausbuchtungen am Balken des H, die Verbreiterungen der beiden Bogenteile des O, sodass innen Spitzen entstehen, und auch die fast halbmondförmigen, doch asymmetrischen C ohne Sporen an den Bogenenden. Den gleichfalls erhabenen, jedoch wesentlich kleineren Buchstaben der Deckenfelder des Unterbaus fehlen die meisten dieser Eigenheiten; hier sind die unteren Balken des E auffällig überlängt, die Cauden des G ebenfalls eingestellt, die Schwingung der Cauda des R hingegen sehr zurückgenommen. Das eigenartige O wiederholt sich in der Berlepsch-Grablege, nicht jedoch die dekorativen Elemente. Ein Nachläufer könnte der Wappenstein von 1582 (Kat.-Nr. 78) sein.

Eine Reihe von Inschriftenträgern des letzen Viertels des 16. Jahrhunderts ist zwar mit klaren und meist vor Beschädigungen gut lesbaren Kapitalisschriften beschrieben, doch weisen die wenigsten stark individualisierte Schriften mit höherem künstlerischem Anspruch auf, so der Brückenstein in Allendorf von 1578 (Kat.-Nr. 69), die Hausinschriften des Wedekind Meinhart von 1579 in Witzenhausen (Kat.-Nr. 70) mit fast sporenloser Kapitalis, die sehr unregelmäßig geformten Schriften am Bau der Kirche von Berge (Neu-Eichenberg) von 1583 (Kat.-Nr. 80, eingehauen) und 1595 (Kat.-Nr. 95, erhaben); beim Grabstein Geilfuß von 1587–90 (Kat.-Nr. 88) steht die Unregelmäßigkeit der Schrift in Kontrast zur ambitionierten Sprache. Diese Unregelmäßigkeit, gepaart mit eigenwilliger Formensprache bis [Druckseite LXVI] hin zu Anleihen bei „volkstümlicher“ Buchstabenformung, setzt sich vor allem im ländlichen Bereich fort, wofür die Kanzel in Velmeden von 1593 (Kat.-Nr. 92) ein sprechendes Beispiel liefert.

Bei den insgesamt schlanken eingehauenen Schriften der Epitaphien Berlepsch und Behn von 1581 (Kat.-Nrr. 71, 73) lässt sich zwar wieder ein gewisser Formungswille feststellen, doch widersprechen ausgreifende Cauden des R dem Duktus und viele Buchstaben, allen voran die A, fallen aus der Senkrechten.

Einen besonderen Akzent setzt das verlorene, aber durch ein historisches Foto überlieferte Epitaph für Georg Meisenbug von 1597 (Kat.-Nr. 100). Der vom Landgrafen Moritz und seinem Geheimen Rat Otto von Starschedel gedichtete Text ist in einer außergewöhnlich regelmäßigen Schrift ausgeführt. Es handelt sich offenbar um eine Metallplatte, deren Schrift gegossen wurde. Sie besticht in allen Belangen (Position und Ausrichtung, Duktus, Regelmäßigkeit) durch höchste Qualität und zeigt bis auf die Verwendung von U eine klare Orientierung an besten Renaissanceschriften und deren Gestaltungsparametern. Die typischen Verstärkungen der Linksschrägen bei Schäften und Bögen sind ebenso vorhanden wie die tief herabgezogenen Mittelteile von M und die stachelartigen Cauden der R.127) Die formale Analyse von nur wenigen vorhandenen und gemeinsamen Buchstaben erlaubte es, zwei Fragmente mit zusammen weniger als einem Viertel des Textes einer(!) Hand zuzuschreiben und damit ihre Zuweisung zur Grabplatte des Georg Meisenbug (Kat.-Nr. 99) zu stützen. Maßgeblich waren die rechtsschräge Ausrichtung der Serifen, die keilförmigen unteren Balken von E und L sowie die halbrunde und nicht regelmäßig durchgehauene Kerbe.

Trotz antikisierender Texte sind die Stiftungsinschrift und die Beischrift zur Michaelsstatue der Familie Hombergk in Kleinvach (Kat.-Nrr. 104, 106) weit von ähnlichen Ambitionen in den Schriftformen entfernt. Der qualitative Kontrast der drei letzterwähnten Inschriften, deren Texte aus dem landgräflichen Umfeld stammen, zeigt, wie sehr die graphische Umsetzung hinter gelehrter Formulierkunst hinterherhinken kann.

5.3 Jüngere Kapitalis

Betrachtet man die Entwicklung der Kapitalis nach 1600, wenngleich dieses Jahr nicht als Zäsur gedacht ist, so darf man getrost einige Beobachtungen des vorangehenden Kapitels weiterschreiben. Darüber hinaus sind neue Entwicklungsschritte der Schrift zu beachten, vordringlich außerhalb der Überlegungen zu Qualitäten und klassizierenden Tendenzen, also im Wesentlichen hinsichtlich neuer Buchstabentypen und sich verfestigender morphologischer Veränderungen und Besonderheiten. Es bietet sich an, mehrere Schrifteigenheiten über längere Zeit zu verfolgen und anhand datierter Inschriften mögliche Abfolgen zu untersuchen: offenes D, Stellung der Außenschäfte und Größe und Form des Mittelteils von M, geschwungener Schrägschaft bei N, Form des O (selten kreisrund, eher oval oder spitzoval), Varianten von A und U.

Zwei Grabsteine bei der Stadtkirche von Großalmerode sollen die Vorgehensweise illustrieren und erste Fragen mit Lösungsansätzen aufwerfen: Beim Grabstein Wenzel von 1600 [Druckseite LXVII] (Kat.-Nr. 110) ist offenes kapitales D vorhanden, beim M sind die äußeren Schäfte konisch gestellt, der Mittelteil flach und niedrig, der Schrägschaft von N dünn, aber gerade, das O oval, eine durch den knappen Ansatz am Bogen fast stachelartig wirkende Cauda des R, U ist nicht benutzt. Konfrontiert man damit den benachbarten Stein eines Anonymus (Kat.-Nr. 193), der leicht zeitnah datiert werden könnte, stellt man nicht nur erhebliche Unterschiede in der künstlerischen Qualität fest, sondern auch bei den Schriftformen, nämlich reguläres D, dreieckige I-Punkte, spitzes O, N mit regelmäßig geschwungenem Schrägschaft, das M konisch mit niedrigem Mittelteil, das R mit stärker sichtbarem Anschwung der Cauda am Bogen, auch kein U; die Begrenzung der Inschrift diszipliniert Form und Ansatzpunkt der Sporen in hohem Maße wie selten.

Zwar nimmt die Verwendung einzelner Phänomene zu, wie etwa die des spitzen O, des geschwungenen Schrägschaftes bei N oder des Graphems U statt V, doch lässt sich das noch nicht und vielleicht auch nie statistisch stützen, denn die Wahl des Herstellers scheint auch von seinen handwerklichen Fähigkeiten bestimmt zu werden; auch kommen einzelne neue Sonderformen neben älteren Formen vor wie das angesprochene N einmal neben der „Normalform“ 1581 auf dem Epitaph Behn (Kat.-Nr. 71). Nicht in jedem Fall kann man klar entscheiden, ob der Schrägschaft geschwungen ist oder nicht, wie beim Grabstein Kindervater (Kat.-Nr. 116) oder beim Taufstein von 1590 in Ellershausen (Kat.-Nr. 87); manche Form kann auf den Restaurator zurückgehen wie 1606 (Kat.-Nr. 131). Erst ab der Mitte des 17. Jahrhunderts setzt sich die im dünnen Bestand immer noch selten verwendete Form durch; gleichwohl kommt sie vorher auf einem undatierten Stein (Kat.-Nr. 116), in einer restaurierten Bauinschrift von 1606 (Kat.-Nr. 131), in der Reminiszenz an von Buttlarsche Bauherren von 1616 (Kat.-Nr. 44), auf einer Meisenbug-Grabplatte von 1619 (Kat.-Nr. 141) ungleichmäßig und 1632 (Kat.-Nr. 153) andeutungsweise vor, schon 1639 (Kat.-Nr. 158) geschnitzt, wenngleich der Zustand der Inschrift sonst durch Überarbeitungen gestört ist. Ihre Verwendung wird aber erst 1643–1648 (Kat.-Nr. 167) präziser und danach dichter. Dieser Umstand, das Nebeneinander von Typen und die unstete Umsetzung von Neuerungen, erschwert Datierungen mit dieser und anderen Formen erheblich. Ein Paradebeispiel für dieses Problem liefert die Wappentafel am Ermschwerder Schloss (Kat.-Nr. 44/III–V), die an von Buttlarsche Bauherren von um 1551 erinnert und selbst die Bauzahl 1616 trägt. Das extrem breite und daher mit stark geschwungenem Schrägschaft versehene N kommt so prägnant zeitnah zu 1616 nur einmal bei den Meisenbug vor (Kat.-Nr. 141). Dieses Bild mag aber von der damals recht löchrigen Überlieferung verursacht sein.

Die Schwierigkeit der Datierung nach Schriftformen ergibt sich also aus dem Umstand, dass nach den Erstverwendungen unterscheidender Typen keine konsistente Anwendung folgt und sich Phänomene bunt mischen, daraus also wohl zunächst nur Tendenzen abzuleiten sind. Beheben könnte man diesen Mangel mit umfangreichen Alphabettafeln, wie sie aber bisher nur und dann auch selten mehr als nur ansatzweise für weniger umfangreiche und zudem frühe und hochmittelalterliche Bestände vorgelegt wurden.128) Die Menge des Materials nach 1500 lässt solche Studien innerhalb der umfangreicheren Editionsbände nicht zu. Erinnert sei daran, dass etwa das retrograde N schon ein Phänomen der frühhumanistischen Schriften war, sich mit deren verspäteter Aufnahme weit im 16. Jahrhundert festsetzt, um dann nach zögerlicher Verwendung um 1600 ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, wenn nicht in Mode, doch zu hoher Blüte zu kommen. Ähnliches wird man für die meisten der oben angesprochenen Phänomene feststellen dürfen.

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Beim Buchstaben M werden üblicherweise Studien zu mehreren Erscheinungen angestellt und deren zeitliche Entwicklung beobachtet. Dazu gehören neben der Proportion vor allem die Ausrichtung der äußeren Schäfte, die Platzierung und die Höhe des Mittelteils, nach 1650 auch die mögliche Krümmung der inneren Schrägschäfte. Unterschieden sich die M in klassizierenden Schriften der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts von älteren und jüngeren durch den tief in Richtung Grundlinie gezogenen Mittelteil, so bildet dieser nach einer quasi normalen Phase, in der er bis etwa zur Zeilenmitte reicht, ein Experimentierfeld, dessen zeitliche Schichtung noch unklar ist, dessen Formenextreme aber beschrieben werden können als konische Gesamtform, also mit schräg stehenden Außenschäften (Kat.-Nrr. 29, 71, 81, …, 136, … 272), als ausgesprochen niedriges, aber breites V zwischen weit auseinanderstehenden schrägen Außenschäften 1600 (Kat.-Nr. 110) oder extrem niedriges und gleichzeitig schmales zwischen davon abstehenden Außenschäften 1731 (Kat.-Nr. 299) und etwa ein Viertel bis ein Halb der Zeile hohes V mit gewölbten Innenschrägschäften bis zum Ende des 17. Jahrhunderts (Kat.-Nr. 247 von 1694) und vielleicht noch 1707 (Kat.-Nr. 282), jeweils mit graduellen Varianten.129) Die Ursprünge des letzteren Typs liegen früh, im Bestand bei der Grabplatte Meisenbug von 1619 (Kat.-Nr. 141), und fließen nur langsam in die Buchstabengestaltung ein, man vergleiche die leichte Wölbung auf der Patene von 1632 (Kat.-Nr. 153), auf dem Kelch von 1655 (Kat.-Nr. 178) und der Grabplatte Hanstein von 1665 (Kat.-Nr. 187).

Weil von übergeordnetem Interesse, soll hier kurz die Veränderung des U vorgestellt werden.130) Nach der erstmaligen und besonderen Verwendung im Meisenbugschen Epitaph (Kat.-Nr. 100) scheint U entgegen den Verhältnissen etwa im Landkreis Hersfeld-Rotenburg131) lange nicht benutzt worden zu sein, sondern erst wieder ab den 1620er Jahren (Kat.-Nrr. 147, 149, 151). Anders als das verbreitete U, das aus zwei Schäften und einem Verbindungsbogen besteht, präsentiert sich das U an der unteren Werra schon früh in einer Sonderform, bei der die Verbindung zwischen den beiden Schäften durch einen Schrägrechtsbalken bewerkstelligt wird, der am linken Schaft unten mehr oder weniger scharf abknickend in die untere Hälfte des rechten Schaftes reicht, meist aber nicht über das untere Viertel hinaus. Dieser Typ lässt sich erstmals mit einer Durchbiegung des Schrägschaftes 1626 (Kat.-Nr. 147) in der erhabenen Umschrift und dann kurz darauf 1629 (Kat.-Nr. 149) im gelehrten lateinischen Grabgedicht in eingetiefter Schrift und 1639 (Kat.-Nr. 157) an einem Holzportal eingetieft und gefasst im deutschen Text feststellen. Erstaunlich ist die Verbreitung in den unterschiedlichen Umgebungen, Materialien und Techniken. Von dem eigenartigen Intermezzo einer U-Form mit zweifacher Brechung der Schäfte unten und Abschrägung oben sowie überschriebenen diakritischen Zeichen (Kat.-Nrr. 164f.) absehend, setzt die ab 1626 fassbare Variante erst in den 1660er Jahren in aussagefähiger Dichte (Kat.-Nrr. 185, 187) ein und floriert dann lange. Dabei können befremdende Varianten entstehen wie das U aus zwei Schäften und einem die volle Länge überquerenden Schrägrechtsschaft (Kat.-Nr. 185), das dann, obzwar mit diakritischem Zeichen darüber, aussieht wie ein retrogrades N;132) der Typus begegnet auf dem undatierten Grabstein Hubenthal (Kat.- [Druckseite LXIX] Nr. 185), der aber auf 1660 datiert werden kann. Auf einem(!) Träger (Kat.-Nr. 187) können Varianten in Form einer Spiegelung auftreten, bei der der Verbindungsbogen am linken Schaft ein Viertel der Buchstabenhöhe über dessen unterem Ende ansetzt. Selbstredend bleibt der „reguläre“ Typus gleichzeitig präsent wie etwa schon 1655 (Kat.-Nr. 177). Der neue Typus besaß seine Vorteile bei eng zusammengedrängten Schriften wie die Zweitverwendung von 1717 (Kat.-Nr. 147) eindrucksvoll zeigt. Seine Spiegelung, bei der der Verbindungsbogen vom unteren Ende des rechten Schaftes ausgeht (Kat.-Nr. 186), stellt wie bei der eben erwähnten Variante eine unvorteilhafte Nähe zum Buchstaben N her.

Das runde symmetrische U, das keinen Schaft erkennen lässt, steht erstmals 1677 (Kat.-Nr. 209) auf einem Türsturz vor Augen. Die prekäre Erhaltung der Inschrift und die unsaubere Übermalung verhindern einen sicheren Erstbeleg, den man doch erst nach 1700 erwarten würde. Auch die Hausinschriften in Hilgershausen von 1686 (Kat.-Nr. 224) und Ermschwerd (Kat.-Nr. 266) besitzen nicht die notwendige Klarheit; die Ermschwerder Kanzel (Kat.-Nr. 271) ist nicht über jeden Zweifel einer Modernisierung erhaben. Ein für Datierungen nutzbarer Beleg für diesen Typus des U bleibt also kaum fassbar und somit eher nutzlos.133) Die Wappenbeischrift auf dem Hof Weiden bei Bad Sooden-Allendorf (Kat.-Nr. 293) stammt nicht aus dem Jahr des nebenan eingemauerten Baudatums 1669, sondern von dem 1697 bzw. 1703 bis 1742 dort lebenden Johann Heinrich Rückersfeld(er); neben diesen Spätbeleg wird man den Grabstein Coriarius (Kat.-Nr. 309) von 1754 stellen. Bezeichnenderweise findet sich die Grundform dieses U in den Typographien von Anton Janson (1620–1687, ca. 1674) und Giambattista Bodoni (1740–1813), um nur zwei prominente Schriftschneider zu nennen.134)

Eine kaum nachvollziehbare Variante ist das späte U des Grabsteins Koppen von 1781 (Kat.-Nr. 316), das wie das zeitgenössische M auf den Kopf gestellt aussieht, unten also statt des Verbindungsbogens deutlich den knappen Mittelteil des M – auf den Kopf gestellt – erkennen lässt.

Vor allem nach 1600 und mit einem erneuten Schub nach 1650 vergrößert sich die Varianz der Kapitalis in erheblichem Maße. Wie in kaum einem anderen Bestand – die ja meist paläographisch nicht bis ins ausgehende 17. oder 18. Jahrhundert betrachtet wurden – kristallisierten sich kleinteilig verteilte Entwicklungszonen heraus. Eine große Betrachtung lässt sich vom Material des Altkreises Witzenhausen her noch nicht bewerkstelligen; das kann nur im Zusammenwirken mit den Beständen in den naheliegenden Zentren Kassel und Eschwege geschehen. Anhand der in Frakturschrift eingestreuten Kapitalisbuchstaben bei wiederverwendeten Grabsteinen in Kammerbach (Stadt Bad Sooden-Allendorf) ließen sich Datierungen und besonders auch Herstellungszeiten lange nach den vermerkten Todesfällen (Kat.-Nrr. 212, 217, 228) sicherstellen und somit die Anwendbarkeit der paläographischen Analysen auch der Spätzeit belegen. Diese Mischungsweise nimmt ab, es bleibt länger die Kombination von Textteilen in verschiedenen Schriften wie etwa die Angabe der Bibelstelle (LEICHTEXT) in Kapitalis und das nachfolgende deutsche Zitat in Fraktur.

5.4 Fraktur

Die Fraktur wurde im frühen 16. Jahrhundert aus kalligraphisch geprägten spätgotischen Gebrauchs- und Kanzleischriften entwickelt und in gereift stilisierter Form zuerst in Prachtdrucken [Druckseite LXX] Kaiser Maximilians I. (Gebetbuch 1513, „Theuerdank“ 1517) verwendet.135) Typisch für diese Schrift sind durch Stellung und variierenden Druck der Breitfeder entstandene Schwellzüge und Schwellschäfte, die außerhalb der Schreibschrift in der Typographie und der epigraphischen Anwendung mehr oder weniger konsequent nachgebildet werden. Die Großbuchstaben zeichnen sich durch S-förmige Anschwünge sowie Verdoppelung und Aufbrechung der Bögen und Schäfte aus. Die Kleinbuchstaben sind durch an- und abschwellende Linien sowie spitzoval geschlossene Bögen gekennzeichnet. Das einstöckige a ist zwar der dominierende Typ, stellt jedoch keinen zuverlässigen Leitbuchstaben dar, wenn es darum geht, Mischformen von nachwirkender Gotischer Minuskel zu unterscheiden; das tun besser f und lange s, deren Schäfte nicht an der Grundlinie abknicken, sondern spitz auslaufend oft weit darunter geführt werden.

Durch ihre Rezeption als Druckschrift und über Schreibmeister fand die Fraktur zwar rasch Verbreitung, doch wurde sie im Bearbeitungsgebiet nicht vor dem ausgehenden 16. Jahrhunderts als monumentale Textschrift verwendet. Hier ist darauf hinzuweisen, dass Frakturen mehrfach als historisierende Schriftform empfunden und als nachgefertigte Schrift verwendet wurden, so in einer modernen Fassung eines Gedichtes zu einem Haus von 1480 (Kat.-Nr. 14), beim erneuerten Motz-Epitaph von 1590 (Kat.-Nr. 94) oder einem Haus von 1623/24 (Kat.-Nr. 144). Versalien der Fraktur zieren den Namen eines Baumeisters, der diesen noch 1572 in Minuskel (neben der Kapitalis der Haupttextes) schreiben ließ (Kat.-Nr. 59). Es dauert lange, bis nach der Witzenhäuser Kanzel (Kat.-Nr. 117) Fraktur 1639 an einem Haus (Kat.-Nr. 157), 1649 auf einem Humpen (Kat.-Nr. 168) und schließlich 1651 erstmals auf einer Grabplatte (Kat.-Nr. 170) erscheint. Einen Sonderfall im Zuge der langsamen Annäherung an Frakturschriften stellt die Schrift auf dem Glashumpen des Franz Gundelach dar (Kat.-Nr. 123). Es ist wohl eine Frakturschrift mit unzialen Elementen, die auch humanistische Minuskeln und kursive (?) Tendenzen aufweist. So enthält das Wort Christof das lange s und das f der Fraktur mit unter die Grundlinie geführten Schäften, d und h sind unzial, g ohne Brechungen, der untere Bogen offen, th und ch jeweils durch Schleife verbunden, sie setzt am t-Balken bzw. am rechtwinklig abgeknickten oberen Bogenarm des c an, durchschneidet den Schaft des h und biegt sich zurück zu dessen oberem Schaftende. Die Versalien entstammen der Fraktur bis auf ein kapitales C, und analog dazu könnten humanistische Minuskeln neben Frakturminuskeln benutzt sein.

Neben der Mischung mit anderen Schriften stellt sich bei Inschriften in Fraktur immer wieder die Frage, ob die Verwendung der Fraktur über typologische Treue hinaus auch die morphologischen Besonderheiten aufgreift und in welchem Maße eine Näherung an Vorbildschriften erfolgt. Die gemalte(!) Inschrift eines Humpens von 1649 im Bad Soodener Salzmuseum (Kat.-Nr. 168) realisiert die der Schrift eigenen Wechsel der Strichstärke nur ganz unvollkommen. Auf der nur wenig jüngeren Grabplatte Laubinger von 1651 (Kat.-Nr. 170) hingegen finden sich diese frakturtypischen Erscheinungen erstmals im Bestand in guter Qualität, wenngleich einzelne Buchstaben die Mischung bzw. Beeinflussung aus anderen Schriftarten (Kapitalis, Humanistische Minuskel) verraten. Die nächste reine Fraktur erscheint 1666 in erhabener Schrift auf dem Grabstein Hartung (Kat.-Nr. 192), aber auch hier setzten sich Tendenzen zur Rundung durch, die sich trotz des schlechten Zustandes auch noch 1670 bei der Grabplatte(?) Homberg zu Vach (Kat.-Nr. 200) beobachten lassen, nun auch in Kombination mit eigenwilliger Gestaltung der Fahnen bei f und langem s. Von dem neuen, fast auch spielerischen Umgang mit nicht mehr kanonisch gehandhabten Schriften [Druckseite LXXI] legt auch der Trube-Grabstein von (1682)/1721 Zeugnis ab, da neben der Fraktur mehrfach Versalien der Kapitalis benutzt sind.136) Noch weiter in der Mischung innerhalb einzelner Wörter geht der Grabstein Klinckerfuß von 1688 (Kat.-Nr. 234). Auch in von der Kapitalis dominierten Schriften können Frakturbuchstaben – beim Grabstein Thon von 1688 (Kat.-Nr. 233) passagenweise – integriert und später – beim Epitaph des Adolf Karl Hombergk von 1699 (Kat.-Nr. 262) – sogar mit zusätzlichen humanistischen Minuskeln kombiniert sein. Dieser Fall ist von den anderen zu unterscheiden. Verbreitet sind Einschübe in Kapitalis bei Namen, Daten und einzelnen Wörtern in Latein oder lateinischen Ursprungs wie bei REPUBLIC, mit angefügtem Fraktur-k, bei einem weiteren Homberg-Epitaph von 1692 (Kat.-Nr. 242).137) Ausnahmen und Regellosigkeit, weil eben nicht mehr nur Wörter mit Bezug zu Latein in Kapitalis geschrieben werden, nehmen stark zu (Kat.-Nrr. 245, 247). Hinzu tritt die Mode, auch den Leichtext, also den Bibelbeleg dazu, in Kapitalis zu schreiben; freilich gibt es auch den umgekehrten Fall 1702 (Kat.-Nr. 274), wo zu Humanistischer Minuskel mit Kapitalis der Bibelstellenbeleg inklusive Text in Fraktur hinzutritt, Beleg in Kapitalis und Text in Fraktur zu den Haupttexten in Kapitalis kommt 1705 (Kat.-Nr. 276) vor. Diese Trennung scheint sich im frühen 18. Jahrhundert durchzusetzen.

Zwischen den typologischen und morphologischen Extremen und teils gewagten Mischungen scheinen die jüngeren Verwendungen der Fraktur zu oszillieren, anscheinend weil ihre Hersteller die in manchen Gegenden früh etablierte enge Bindung zu Typographie und Schreibmeistern verloren haben. Insofern gehen die Inschriften einen ähnlichen Weg zu Varianz und Vermischung wie in der Typographie, bei der freilich die Mischung von reinen Formen unterbleibt. Gestaltungswille und Unsicherheiten werden sich nicht immer unterscheiden lassen, wenn wie beim Grabstein Bickel von 1701 (Kat.-Nr. 273) im zweitletzten Wort noch ein langes Schluss-s erscheint.

Auch in jüngeren Frakturen zeigen sich Vorteile paläographischer Analysen, wenn bei Wiederverwendungen diese Schriften und die beigemischten Kapitalisbuchstaben sichere Zuweisungen zu zwei Zeitkorridoren erlauben und Inschriften zu Sterbefällen in den 1680er Jahren als zeitnah (Kat.-Nrr. 222, 228/A) oder als nach 1720 mit einer jüngeren zusammen hergestellt (Kat.-Nr. 217) bestimmt werden können; in einem anderen Fall (Kat.-Nr. 212) ließ sich die Lesung des Geburtsjahres stützen, aus dem angesichts des fehlenden Todesjahres dieses errechnet werden muss. Zwischen den 1680er Jahren und 1721 lassen sich klar Veränderungen der Fraktur feststellen, da die jüngeren Inschriften eine gradlinigere Fraktur aufweisen, also in den schaftartigen Partien über längere Geraden und eben nicht über Schwellzüge verfügen; außerdem sind den Gemeinen schärfere Brechungen wie bei der lange außer Gebrauch gekommenen Gotischen Minuskel eigen.

5.5 Humanistische Minuskel und Kursive, barocke Minuskel

Wie auf die Majuskel wirkte sich die Erneuerung der antiken Formensprache auch auf die Formung der Minuskel aus.138) Dem Bedürfnis einer neuen Schrift standen anders als bei der Kapitalis jedoch keine monumentalen Vorbilder zur Verfügung, und die wenigen kursiven Zeugnisse auf Blei- bzw. Fluchtafeln eigneten sich nicht, falls sie denn überhaupt verstanden wurden. Die am leichtesten weiterzuentwickelnde Schrift war die Karolingische Minuskel [Druckseite LXXII] der besten Skriptorien. Da man in deren Produktionen auch antike Autoren fand, lag der Schluss nahe, diese Texte seien noch aus der Antike, und man griff ihr Formenrepertoire begierig auf und reinigte es. Die Humanisten verbreiteten diese neue klare, noch die Kalligraphie des 20. Jahrhunderts prägende Schrift durch ihre Briefe und intensive Kopiertätigkeit. Die gute Lesbarkeit machte sie attraktiv für die Typographie, wodurch ihre Verbreitung einen weiteren Schub erhielt. Nach Gutenberg experimentierten die Drucker mit eigenen Entwicklungen. Dadurch entstand eine große Vielfalt durchaus eigenständiger Formen, die dementsprechende Namen erhielten, Rotunda (Rundschrift), Antiqua für die „klassizierenden“ Minuskeln, Verbindungen mit „Gotico-“ für Mischschriften (Gotico-Antiqua, Gotico-Humanistica, …).139)

Humanistische Minuskeln erschienen vielleicht in der kopial überlieferten Grabinschrift des Christian Grau (Kat.-Nr. 109 von 1600). Vorher hat das gleichfalls nicht mehr vorhandene Epitaph für Georg Meisenbug (Kat.-Nr. 100 von 1597) ein Einzelwort in humanistischen Minuskeln enthalten, falls das Foto nicht trügt. Der früheste erhaltene Beleg, und wie alle im Bestand nicht wirklich nahe an der Antiqua,140) ist die knappe Gewichtsangabe auf einem Kelch in (Neu-)Eichenberg (Kat.-Nr. 155 von 1635), kombiniert mit kursiven Passagen. Weiter ist die Schriftart benutzt in der Stifterinschrift eines Laudenbacher Kelchs (Kat.-Nr. 169 von 1649), dort stark von Kursive und barocker Minuskel überformt, und in einer Namensinschrift auf dem Kanzeldeckel in Allendorf (Kat.-Nr. 221 von 1684) in Gemengelage mit Kapitalis und ebenfalls mit kursiven Elementen. Dann hat auch der Maler, der vermutlich im 17. Jahrhundert ein Bildnis Philipps des Großmütigen schuf, mit humanistischen Minuskeln in eher schreibschriftlicher Ausprägung signiert (Kat.-Nr. 267). Erst aus dem Jahre 1702 ist ein langer lateinischer Text in dieser Schriftart auf einem Epitaph (Kat.-Nr. 274) erhalten; die Schrift ist rechtsschrägliegend ausgeführt und dekorativ mit Versalien aus der barocken Kursive versehen. Verbreiteter sind Einschübe in oder zu Kapitalisschriften (Kat.-Nrr. 109(?), 114, 178, 221, 231, 236(?), 256, 257, 262, 267, 271, 277(?), 287, 292, 295, 311(?)), einmal sogar zusammen mit Fraktur (Kat.-Nr. 262) oder Vermischung mit derselben (Kat.-Nrr. 123(?), 170, 278(?)), wobei sich eher schreibschriftliche Einflüsse der barocken Kursive durchsetzen (Kat.-Nr. 181/II). Bei den eingestreuten Minuskeln handelt es sich oft um Teile des Datums, bei dem die deutsche Ordinalendung so eingefügt wurde.

Die späten Ausprägungen sind hinsichtlich der Qualität der Ausführung und des Schriftstandards keinesfalls mit den besten Produktionen des 16. Jahrhunderts zu vergleichen; nur das Meisenbugsche Epitaph in Hessisch Lichtenau (Kat.-Nr. 274) nähert sich trotz seiner barocken Überformung einem einheitlichen Schriftbild an, dessen Wurzeln in der Humanistischen Kursive zu erkennen sind. Alle übrigen sind noch stärker mit barocker Schleifenbildung überlagert oder nur rudimentär als lineare Minuskel gebildet.

5.6 Hebräische und Griechische Schrift

Der hebräische Gottesname kommt zweimal auf gemalten Epitaphien der Familie Motz (Kat.-Nrr. 94, 136) vor, jeweils in Quadratschrift, beim früheren sogar mit Punktierung, wenngleich dieses Epitaph von 1594 weitgehend erneuert ist. Beide Schriftspezimina leiden unter mangelhaften Kenntnissen des Hersteller und/oder unsachgemäßer Restaurierung.

[Druckseite LXXIII]

Ein einzelner griechischer Buchstabe, ein kursives Ψ ohne langen Mittelschaft, dient als Kürzung des Psalter-Belegs im Jahre 1688 (Kat.-Nr. 232).

5.7 Zahlzeichen und Ziffern

Für die Wiedergabe von Zahlen kannte schon die römische Antike zwei auch naheliegende Verfahren, nämlich das ausgeschriebene Zahlwort und das Zahlzeichen.141) Wegen erheblicher Ersparnis an Platz und Arbeit war Letzteres beliebter, und das hielt an über die Altersangaben der frühchristlichen Inschriften hinweg zu den Marginaldatierungen der Annalisten und jüngeren Datumsformeln, wenngleich Urkunden und andere Rechtstexte nicht denselben Zwängen unterworfen waren, in ihrer epigraphischen Realisierung aber schon. Dem entspricht der Befund im Bereich Witzenhausen, denn in den frühesten Inschriften sind die großen Zahlen der Inkarnationsjahre in römischen Zahlzeichen geschrieben, nur eine Einerzahl im Volltext (Kat.-Nr. 1/II); die erste ausgeschriebene Jahreszahl folgt schon 1472 (Kat.-Nr. 10/II).

Im Spätmittelalter behalf man sich bei Datierungen außerdem mit einer Rechenoperation bei römischen Zahlzeichen, indem man ein kleines c hinter iv oder v als Multiplikator 100 hochstellte (Kat.-Nrr. 27, 29, 30, 31, 33).

Eine entscheidende Änderung tritt mit der leicht und sparsam zu handhabenden Schreibung mit arabischen Ziffern142) ein, die im vorliegenden Bestand nur wegen des späten Einsetzens der Inschriften gleichzeitig liegt, nämlich in der Bauzahl 1480 (Kat.-Nr. 14), gefolgt von einer gemischten Schreibung mit der Einerziffer 7 im Jahre 1487 (Kat.-Nr. 15), die volle Zahl 1496 in arabischen Ziffern auf einer Glocke von 1496 (Kat.-Nr. 16) und dann in dichter Folge 1497 (Kat.-Nr. 17), 1506 (Kat.-Nr. 9), gemischt 1506 (Kat.-Nr. 27) und 1514 (Kat.-Nr. 31), 1519 (Kat.-Nr. 34).

Die Schreibung der arabischen Ziffern in Inschriften näherte sich in großen Schritten der heutigen an, viele glichen schon früh den modernen Formen, und kleiner oder eckig geschriebene 0 stellte kein Problem dar; das ist nur der Fall, wenn in gemischten Schreibungen zwischen römischen Zahlzeichen und arabischen Ziffern der ersten Dekade des 16. Jahrhunderts eine 0 gar nicht nötig war und fehlt (Kat.-Nrr. 9, 90). Für die 1 nutzte man nicht immer eine Ziffer, sondern glich sie gelegentlich dem aus der römischen Schreibweise entlehnten I/i an. Wirklich gewöhnungsbedürftig und daher für manchen Lese- und damit Datierungsfehler verantwortlich sind die Ziffern 4, 5 und 7, weil sie über eine leichte Formveränderung hinausgehende Entwicklungen mitmachten. Sofern man bei genügender Überlieferungsdichte Korridore für den Wechsel zu neuen Formen ermitteln kann, bieten sich diese Formunterschiede auch als Datierungshilfen an. Hierbei ist viel methodisches Fingerspitzengefühl verlangt.

Die schlingenförmige 4, geschrieben wie eine halbe 8 und auch entsprechend bezeichnet, richtete sich auf, indem sie um ca. 45° nach links gekippt wurde. Dabei kann die obere Hälfte rund, zwei- oder dreispitzig sein. Diese aufgerichtete 4 erscheint zumeist neben der alten Form seit etwa 1480, bleibt jedoch lange in der Minderheit; im Süden erscheint sie früher als im Westen und Norden. Abgeschlossen ist der sich beschleunigende Formenwechsel fast immer vor der Mitte des 16. Jahrhunderts. Zu beachten ist, dass die Schlinge immer geschlossen bleibt; eine offene Schlinge deutet auf eine Entstehung nach 1800 hin, wenngleich die Zäsur noch nicht ermittelt ist.

[Druckseite LXXIV]

In ähnlicher Weise erlebt die Ziffer 5 eine Spiegelung, indem ein von Schaft oder Bogen nach links gerichteter Balken (auch mittig geknickt) oder Bogen um 180° geklappt wird und nun links offener Bogen (vielfach nur schaftartig) und nach rechts zeigender Balken (ggf. leicht durchgebogen) die Grundvoraussetzung für die weitere Entwicklung bieten. Die sogenannte rechtsgewendete 5 (im Gegensatz zur älteren linksgewendeten) konnte durch Auflösung der Spitze links oben einem verschobenen S gleichen oder durch Einsetzen eines kurzen Schaftes zwischen Bogen und Balken zur Grundform aller jüngeren werden. Die Spiegelung der 5 beginnt zumeist in der zweiten Dekade des 16. Jahrhunderts und ist nach 20 Jahren abgeschlossen, der Schaft kommt spätestens in den 1540er Jahren auf, danach gibt es aber beide Varianten noch lange und in großer Dichte, wobei die Neigung des Balkens wie vorher schon sehr steil sein kann. Im Bereich Witzenhausen deutet sich diese neue 5 1551 im Ermschwerder Schloss (Kat.-Nr. 44) an, ist aber sicher schon 1547 im Werrataler Hof in Allendorf (Kat.-Nr. 43) und 1556 in Werleshausen (Kat.-Nr. 46) vorhanden, bleibt jedoch lange in der Minderheit gegenüber der schaftlosen Variante. Alle weiteren Veränderungen wie die senkrechte Stellung des Schaftes und die Neigung und Biegung bzw. Nichtbiegung des Balkens sind eher graduell und für präzise Datierungsfragen kaum noch nutzbar, da es keine eindeutigen Zäsuren gibt und statistische Beobachtungen nur selten hinreichen. Die Ziffer 5 ohne Schaft verschwindet nämlich erst ab dem Ende des 16. Jahrhunderts.

Ähnliches gilt für die 7, die in den gotischen Schriften noch fast symmetrisch und lamda-förmig aussah, bevor sie sich spätestens ab der dritten Dekade des 16. Jahrhunderts aufrichtete. Im Bereich Witzenhausen ist das wegen des löchrigen Materials nicht genau zu beobachten, die erste sichere aufgerichtete 7 erscheint 1547 (Kat.-Nr. 43/I) mit waagerechtem und ausreichend langem Balken. Später kommen mehrfach Spezimina der 7 mit noch leicht rechtsschrägem und kurzem Balken vor und ließen sich daher mit der Ziffer 1 verwechseln (Kat.-Nr. 57).143) Die 7 unterscheidet sich spät von der 2 nur durch den fehlenden unteren Balken, was zu Missverständnissen führen kann. Auch gibt es eine späte Variante mit Balken und statt Schaft nach rechts offenem Bogen oder unten nach rechts umgebogenem Schaft und somit auch einer auf den Kopf gestellten 2 ähnlich. Diese Variante macht eine verwirrende Entwicklung durch, da sie vor 1680 als 2 verstanden werden muss (Kat.-Nr. 204), während danach (Kat.-Nr. 230) und häufiger nach 1700 unzweifelhafte Belege für die Lesung 7 vorliegen (Kat.-Nrr. 286, 295, 315). Die Zäsur ist nur eine scheinbare, da in anderen Gegenden mehr und noch weiter vermischt gestreute Belege vorhanden sein können und auch der vorliegende Bestand zeitnahe Belege für unzweifelhaft unterschiedliche Bedeutungen des ominösen Zeichens bereithält: Im Leichtext (Bibelstellenangabe) für Johann Wolf von Bodenhausen, gestorben 1687 (Kat.-Nr. 227), bedeutet das Zeichen 2, wie aus dem Unterschied zur 7 und angesichts der ähnlichen Bildungsweise des mit der 2 oft übereinstimmenden Z hervorgeht. Demgegenüber bedeutet es 7 auf dem Grabstein des im gleichen Jahr verstorbenen Nikolaus Rüppel (Kat.-Nr. 228) – das ist durch Rechnen und aus dem Unterschied zu unmissverständlichen Ziffern 2 (Geburtsjahr 1624 und Zahl der Töchter) zu erweisen. Eine weitere unmissverständliche Lesung 2 (22. Juli) für die Ziffer mit linksschrägem Balken und nach rechts offenem Bogen statt geradem rechtsschrägem Schaft liegt beim [Druckseite LXXV] Grabstein des Johann Christoph Ungefug (†1692, Kat.-Nr. 241) vor,144) die aber zeitnah zu den Lesungen 7 auf den Steinen Peter Thon († 1688, Kat.-Nr. 233) und Anna Catharina Hennemog (†1693, Kat.-Nr. 245) erscheint.

Bei der Ziffer 2 gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Typen, deren Abfolge aber noch nicht ermittelt ist, nämlich die runde mit links offenem Bogen und Balken unten und die nahezu z-förmige, die als die Frühform gelten muss; der Korridor des Wechsels zur runden Form ist noch nicht erkannt. Die oben bei der 7 erwähnte Sonderform mit Balken oben und nach rechts offenem flachem Bogen, sozusagen die 2 im Kopfstand, dürfte erstmals 1582 (Kat.-Nr. 76) vorkommen; diese Lesart läge im Zuge der späteren Entwicklung, wie oben dargelegt. Im Bestand beachtenswert ist die runde 2 am Ende des 17. Jahrhunderts, als sie mit fast kreisförmiger Bogenbildung und langem geradem oder leicht geschwungenem Balken vielfach bei zwei verwandten Grabsteintypen vorkommt, die größtenteils zwischen Großalmerode und Allendorf zu finden sind; hier kann die spezielle Form der Ziffer eine Datierungshilfe bieten, wie etwa bei einem Grabstein, dessen Rückseite mit dem Leichtext (Kat.-Nr. 272) keine Datierungsansätze in einer wenig individuellen Kapitalis bietet.

Wie in fast allen Beständen bleiben neulateinische Zahlzeichen (Kat.-Nrr. 238, 287, 308), die entfernt an die Buchstaben M und D erinnern, selten.

5.8 Trenner (Wort-, Sinn-, Vers-) und Interpunktionszeichen

Seit Eberhard J. Nikitsch in seinem einleitenden Schriftkapitel zum Inschriftenbestand des Landkreises Bad Kreuznach auch die vielgestaltigen Trenn- und Interpunktionszeichen behandelte und erste Ansätze für Datierungen erwog,145) richtet sich die Aufmerksamkeit der Editoren auch auf diese Bestandteile der Schriftanalyse.

Im Witzenhäuser Bestand dienten schon in der ältesten Inschrift von 1369 (Kat.-Nr. 1/I) Ringe als Worttrenner, freilich nicht durch den gesamten Text hindurch. In der in erhabenen Minuskeln geschriebenen zweiten Bauinschrift desselben Schlosses Berlepsch von 1478 (?) (Kat.-Nr. 1/II) erscheinen die mit dieser Schriftart regelmäßig verbundenen Quadrangeln, hier dem breiten Strich der Gemeinen folgend, sehr dicht an die Buchstaben gedrängt und wegen des Zustandes oft prekär. Unmittelbar nach der ältesten Inschrift entstand die zweite nach 1371 mit Majuskelschrift, der wiederum eine dazu anscheinend typische Form der Trenner in Form von halbkugelig vertieften Punkten146) eignet; diese Zuordnung lässt sich mangels ausreichenden Materials nicht weiter verfolgen. Die Minuskel-Inschriften bieten genügend Belege für die erhabenen und ggf. eingetieften Quadrangel, seien sie auf Glocken (Kat.-Nrr. 5, 11†) oder Steinen (Kat.-Nrr. 8, 9 u. a. m.) angebracht; schon im frühen 15. Jahrhundert können die Quadrangel mit zwei- oder vierseitig, also von den Ecken ausgehenden Häkchen (Kat.-Nrr. 5, 9/C, 19, 30, 33, 39 u. a. m.) verziert sein; diese Form hält lange an (Kat.-Nr. 43/II). Nicht immer lässt der Zustand eines Steines die genaue Bestimmung zu, aber der punktartige Eindruck der Worttrenner am ehemaligen Wilhelmitenkloster (Kat.-Nr. 10) verdeckt nur die wohl etwas angespitzte Oberfläche der Quadrangel. Diese über mehr als ein Jahrhundert stark verbreitete Worttrennung kann auch schon relativ früh fehlen (Kat.-Nrr. 13, 16) oder wird variiert mit den genannten Zierhäkchen oder Kontur in [Druckseite LXXVI] Ritzung (Kat.-Nr. 9/III) oder Relief (Kat.-Nr. 30). Reine Quadrangel bleiben als Trenner bis weit in die Moderne beliebt.

Gerade im Bereich der Glocken nutzten die Hersteller wegen der leichteren Formung alternative, weil dekorative Trenner, nämlich 1468 (Kat.-Nr. 12) einen Doppelkreis, vier Tatzenkreuze und fünf Reliefs (Pilgerzeichen), 1505 (Kat.-Nr. 25) Bügelschere (= Meisterzeichen), sechsstrahlige Sterne, Rosetten und Lilien oder 1512 (Kat.-Nr. 29) Rosetten und einen Männerkopf, auch kleine Ringe, ein Christuskopf 1514 (Kat.-Nr. 32), sogar 1570 (Kat.-Nr. 57) Zapfen(?). Auch in Stein kommen andere Formen vor wie Kreuzchen, runder (erhabener) Punkt und vielleicht ein Kleeblatt 1427(?) (Kat.-Nr. 9/I).

Ein paragraphzeichenförmiger Worttrenner ist 1516 auf dem Taufstein in Gertenbach verwendet (Kat.-Nr. 33), dort wird dasselbe Zeichen auch in horizontaler Lage als Kürzungszeichen verwendet wie schon 1514 auf der Kanzel von Großalmerode (Kat.-Nr. 31). Der späteste datierte Beleg fällt ins Jahr 1590 (Kat.-Nr. 86). Nicht immer ist klar entscheidbar, ob der Mittelteil dieses Zeichens, das auch retrograd vorkommt, ein Punkt oder ein Quadrangel ist. Der Gebrauch ist wohl auf das 16. Jahrhundert beschränkt. Das Zeichen kommt in der undatierten Malerei in der Liebfrauenkirche vor (Kat.-Nr. 83), kann aber zur genaueren Datierung nicht verhelfen, höchstens eine zu späte ausschließen.

Durch das 16. Jahrhundert hindurch verbreitert sich die Palette der geometrischen und sächlichen Trennerformen erheblich. Es erscheinen Dreiecke bzw. Dreispitze, mehrfach in Gemengelage mit anderen Formen (Kat.-Nrr. 73, 78, 116, 137, 184, 187, 189, 190, 193, 202, 208, 233, 242, 285, 295), Kreuze (Kat.-Nrr. 9, 12, 127, 143, 153), Rauten (Kat.-Nr. 38, undeutlich mitten im Titulus / Kat.-Nrr. 54, 76, 89), Parallelogramme (Kat.-Nr. 54), Sterne/Sternchen (Kat.-Nrr. 25, 153, 169, 179). Einer ungebrochenen Beliebtheit erfreuten sich weiterhin und auf lange Sicht Quadrangel, deren präzise Form in den Inschriften von länger oder beständig im Freien aufgestellten Steinen nicht immer genau prüfbar war, man vergleiche etwa Kat.-Nr. 48 von 1563; oft kann nur von amorphen Punkten gesprochen werden. Das gilt auch für Inschriften an Häusern. Die Bedeutung der speziellen Form von Trennern nimmt jedoch nach 1550 stark ab.

Interpunktion setzt im Bearbeitungsgebiet im späten 16. Jahrhundert ein. Das früheste Zeichen für diesen Zweck ist im Jahr 1579 ein Doppelpunkt, der das Satzende anzeigt (Kat.-Nr. 70). Es folgt ein Beispiel mit Punkt und Komma von 1594: das Motz-Epitaph (Kat.-Nr. 94), das allerdings restauriert wurde. Landgraf Moritz der Gelehrte, der mit dem Text für das Meisenbug-Epitaph von 1597 (Kat.-Nr. 100) das dritte Beispiel liefert, interpungiert unter Verwendung von Punkt (Komma?), Doppelpunkt und sogar Fragezeichen. 1611 im Epitaph des Bürgermeisters Johannes Motz (Kat.-Nr. 136) treten Punkt und Komma als Interpunktionszeichen auf. Viel später etwa (Kat.-Nr. 250) zeigt ein Semikolon den nachfolgenden Text als fiktive Rede einer Verstorbenen an. Insgesamt aber sind Inschriften mit Interpunktion selten, oder Zeichen wie Kommata neben anderen Trennern erschließen den Text nicht nach modernen Gesichtspunkten.

Zitationshinweis:

DI 87, Witzenhausen, Einleitung, 5. Die Schriftformen (Edgar Siedschlag), in: inschriften.net,  urn:nbn:de:0238-di087mz13e001.

  1. s. Koch, Inschriftenpaläographie zu Majuskeln des 13. Jahrhunderts und diverse Einleitungen von Inschriftenbänden, insbesondere die zu den reichen Beständen am Rhein (DI 23, 29, 34, 43, …) und auch DI 91 (Hersfeld-Rotenburg). Die 18 Majuskelbelege für den benachbarten Landkreis Göttingen, vgl. DI 66 (Landkreis Göttingen) S. 446, täuschen über den nur schmalen Bestand gut datierter und buchstabenreicher Inschriften hinweg; auch in der Stadt Göttingen, s. DI 19 Stadt Göttingen), sind von 17 Belegen nur 12 beurteilbar und angesichts der Glocken und sehr kurzen Inschriften wenig aussagefähig – diesen Mangel beklagte schon der Bearbeiter, s. ebd. 24f. »
  2. Man findet die gotische Majuskel auch auf einer Glocke in Wickenrode, die Wenzel im Band 24 Witzenhausen behandelt. Doch gehört Wickenrode, das früher im Altkreis Witzenhausen lag, heute nicht mehr zum Werra-Meißner-Kreis, sondern zur Gemeinde Helsa im Landkreis Kassel. »
  3. Neumüllers-Klauser, Schrift 63–66. Jüngere Beobachtungen, dass sich die Minuskel entgegen früheren Annahmen in den Städten der Ostseeküste und in ihrem weiten Hinterland früh und schon ab der Mitte des 14. Jahrhunderts mit einer gewissen Dominanz durchsetzt, vgl. andeutungsweise DI 77 (Greifswald) 42, spielen für die Einschätzung der Schriftentwicklung im Bearbeitungsgebiet keine Rolle. »
  4. s. Neumüllers-Klauser, Schrift. »
  5. Zu konsultieren sind hierfür DI 19 (Stadt Göttingen) und DI 66 (Lkr. Göttingen). »
  6. Außer auf die generellen Darstellungen zur Schriftgeschichte, zur römischen Schrift und zur modernen Kapitalis wird man hierzu auf Muess (1989), Bornschlegel (1990), Fuchs (2002, 2005) und Glöß (2006) sowie auf die einschlägigen Einleitungen der DI-Bände zurückgreifen, etwa DI 29 (Worms), demnächst auch auf die Neubearbeitung von DI 2 (Mainz). »
  7. s. die Arbeiten von Rüdiger Fuchs, Walter Koch und Renate Neumüllers-Klauser in Epigraphik 1988; sodann Bornschlegel, Renaissancekapitalis; über die epigraphischen Schriften hinausgehend Glöß 41ff.; das früheste Auftreten der modernen Schriften wird in allen Einleitungen der Editionsbände DI beobachtet. »
  8. Vgl. dazu die Arbeiten von R. Fuchs zur Hoffmann-Werkstatt und, diese zusammenfassend und auf einen Bestand modellhaft ausdehnend, Fuchs in DI 71/2 (Stadt Trier II/2), bes. II 140ff. u. 154ff. »
  9. Diese Glocken unterscheiden sich hinsichtlich der Schriften nur unwesentlich von jüngeren aus gleichen oder verwandten Gießhütten (Kat.-Nrr. 85, 89, 112). »
  10. Ein klassizierendes R kommt auch auf der Großalmeröder Glocke von 1617 (Kat.-Nr. 140) vor; es stammt jedoch von außerhalb, nämlich von der lothringischen Gießergemeinschaft Breutel/Simon, und kommt so wenig später weder in Trier 1628 (F. Breutel u. a. m.) noch 1631 in Geisenheim (Simon) vor, wie überhaupt die Schnittmengen übereinstimmender Buchstaben relativ gering ist. Die Forderung nach einer intensiveren paläographischen Untersuchung der Produkte von Lothringer Glockengießern bleibt bestehen. »
  11. Man vergleiche Boppert (vollständig); RICG; Funken. »
  12. Genannt sind hier nicht Erst- oder Spätbelege. »
  13. In verschiedenen Beständen stellte sich die Frage, ob man mit dem Vorkommen von U statt und neben V datieren kann, auch ob scheinbar durch Angabe einer Zahl aufs Jahr datierte Frühbelege stehen bleiben können oder ob sie wegen seinerzeit sonst nicht belegter U verschoben werden müssen. »
  14. Vgl. DI 91 (Hersfeld-Rotenburg) XLII; bei den Verweisen und vielen Belegen wird das Augenmerk regelmäßig auf die phonetische Differenzierung von U und V gelegt. »
  15. Die Kombination mit einem retrograden N in einer einzigen Inschrift, vgl. die Hausinschrift von 1686 in Hofheim (Main-Taunus-Kreis), zeigt, dass diese Zeichen, üblicherweise ein Trema, das den Buchstaben zu einem Graphem Ü macht, dieses U von einem retrograden N unterscheiden helfen. »
  16. Vgl. etwa den Grabstein Rosenbach im Würzburger Dom von 1687, Degering, Taf. 189. Wenig jüngere Grabsteine aus der Mitte des 18. Jh. in Schleswig-Holstein, ebd. Taf. 204, weisen gleichfalls die extremen Strichstärkenunterschiede wie die ebenfalls erhabenen Buchstaben der Ermschwerder Kanzel auf. »
  17. Kapr 308. »
  18. Fichtenau, Lehrbücher 25–28; Zahn, Beiträge 10–14; DI-Bände in Süddeutschland und Österreich, bes. DI 13, 68, 90 (Nürnberger Friedhöfe I-III). »
  19. Von hier ist auf die Halbsäulengrabsteine in Kammerbach und der Umgebung von Großalmerode zu verweisen, deren Zusammenhänge in den einzelnen Nummern, aber auch zusammenfassend oben in Kap. 4.1.2 behandelt sind. »
  20. Vgl. auch ORA ET LABORA 1730 (Kat.-Nr. 298). »
  21. Vgl. unter vielen Gutzwiller. »
  22. Vgl. Glöß (2006) und die einschlägigen Einleitungen der DI-Bände, etwa DI 41 (Göppingen), DI 47 (Böblingen), DI 67 und DI 80 (Stadt Passau und Landkreis Passau I). »
  23. Mit zu den besten Produktionen dieser Variante zählen Denkmäler bei der pfälzischen Residenz Simmern, vgl. DI 79 (Rhein-Hunsrück-Kreis II) 51f. »
  24. Zu Zahlzeichen und Ziffern vgl. Menninger und Ifrah. »
  25. Vgl. Hill, Menninger und Topitz sowie die Einleitungen der jüngeren Inschriftenbände der DI. »
  26. In dem dünnen Bestand sieht man mehrfach die Richtung des Balkens schwanken, rechtsschräg 1570 und 1577 (Kat.-Nrr. 57, 43/II, 67/I), linksschräg 1575 (Kat.-Nrr. 59, 61). Das Phänomen wird bei Kat.-Nr. 57 wegen Lesevarianten ausführlich diskutiert. »
  27. Es gibt wohl noch mehr Belege, aber wegen der tiefen und klaren Kerbe kaum so gut erhaltene und unzweifelhafte. »
  28. Vgl. DI 34 (Bad Kreuznach) LIIILIV»
  29. Diese Beobachtung stützt sich auf vor allem auf Bestände im Mittelrhein-Mosel-Raum, vgl. DI 29 (Worms), DI 34 (Bad Kreuznach), DI 43 (Rheingau-Taunus-Kreis) und DI 70/71 (Trier). »