Inschriftenkatalog: Schaumburg

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 104: Landkreis Schaumburg (2018)

Nr. 40 Obernkirchen, Stiftskirche St. Marien 1460

Beschreibung

Glocke. Bronze. Läuteglocke im Westwerk der Kirche. Die Inschrift A verläuft zwischen zwei Stegen unterhalb der Glockenschulter. Unter dem Inschriftenband ein Fries mit hängendem Blattornament. An der Flanke befindet sich ein Flachrelief mit einer Darstellung der Maria mit Kind. Am Wolm drei Stege. Am Schlag die Inschrift B zwischen zwei Stegen, an ihrem Ende sieben Brakteatenabdrücke. Beide Inschriften sind erhaben gegossen, die Worttrenner sind in Blütenform ausgeführt.1)

Maße: H.: 90,5 cm; Dm.: 122 cm; Bu.: 3 cm (A), 1,9–2,3 cm (B).

Schriftart(en): Gotische Minuskel.

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Katharina Kagerer) [1/3]

  1. A

    + ecce · sub · hoc · titulo · tua · dicor · sancta · maria · · ora · pro · p(o)p(u)lo · dum · sono · virgo · pia · · nam · t(i)bia) · filius · nil · deneg(a)tb) · ip(s)ec) · tu(us)d)

  2. B

    + annis · millenis · quat(er)e) · c · (et)f) · sexg) · quoq(ue) · denis · · hich) · sub · p(re)p(osi)to · me · fecere · godefrido · · ihesus ·· defunosi) · plangho · uiuos · voco · fulgura · franghoj) · vox · mea · vox · vite · voco · vos · ad · sacra · venite · · · · · · ·

Übersetzung:

Siehe, mit dieser Inschrift werde ich die Deine genannt, heilige Maria. Bitte für das Volk, solange ich töne, gütige Jungfrau, denn dein eigener Sohn schlägt dir nichts ab. (A)

Im Jahr 1460 hat man mich hier unter Propst Gottfried gegossen. Ich beklage die Verstorbenen, rufe die Lebenden, breche die Blitze.

Jesus.

Meine Stimme ist die Stimme des Lebens. Ich rufe euch: Kommt zum Gottesdienst. (B)

Versmaß: Ein elegisches Distichon mit Zäsur- und Endreim, ein Pentameter2) (A), vier Hexameter, leoninisch gereimt3) (B).

Kommentar

Schaft-r und Bogen-r treten nebeneinander auf. Das Bogen-r, das aus einem Kurzschaft mit senkrecht darübergesetztem Quadrangel besteht, wird nur nach o gesetzt. Senkrechte Zierstriche rechts am Balken des t und f. Der Bogen des g reicht nach rechts über den Schaft hinaus; auch hier setzt, jedenfalls in Inschrift A, ein senkrechter Zierstrich an. Der Balken des e ist zu einem steil rechtsschräg verlaufenden Strich reduziert, der fast bis zur Grundlinie herabreicht. Der untere Bogenabschnitt des p durchschneidet den Schaft.

Die beiden ersten Verse von Inschrift A sind wörtlich auch für eine Glocke aus dem Mindener Dom aus dem Jahr 1306 überliefert.4) Die letzten beiden Verse von Inschrift B sind als Glockensprüche verbreitet. Der erste Vers variiert in Versform die häufig auf Glocken anzutreffende Funktionsbestimmung, nämlich die Toten zu beklagen, die Gläubigen zum Gottesdienst zu rufen und Gewitter zu vertreiben.5) Der zweite Vers, in dem die Alliteration des v auffällt, variiert die Aussage, dass die Glocke dazu dient, die Gläubigen zur Kirche zu rufen.6) Die beiden Verse treten auch bisweilen in Kombination auf.7)

Der in Inschrift B genannte Propst Gottfried von Lenthe ist seit 1445 nachweisbar und wird 1481 als verstorben genannt.8) Seit 1452 ist er in den Urkunden des Stifts Obernkirchen als Propst bezeugt,9) seit 1455 urkundete er selbst als Propst.10) 1475 wurde sein Nachfolger Ludolph Dene zum Propst gewählt.11)

Textkritischer Apparat

  1. t(i)bi] tibi Kdm.; Kürzungsstrich oberhalb des oberen Stegs.
  2. cc-a oberhalb des oberen Stegs.
  3. Kürzungsstrich oberhalb des oberen Stegs.
  4. us-Haken oberhalb des oberen Stegs.
  5. r-Haken in Form eines Quadrangels.
  6. (et)] Befund: ein einzelner Schaft. l Kdm.
  7. sex] ter Kdm.
  8. hic] das c auf dem Kopf stehend. hii Kdm.
  9. defunos] statt defunctos; defu(n)ctos Kdm.
  10. frangho] fra(n)gho Kdm.

Anmerkungen

  1. Eine weitere Glocke ist unzugänglich außen am Turm unter einem Vordach als Schlagglocke aufgehängt. Ob sie eine Inschrift trägt, ist nicht bekannt. Bentrup zufolge soll sie aus dem Jahr 1501 stammen (Bentrup, Kirchen in Schaumburg, S. 132).
  2. Im zweiten Pentameter muss das s in filius elidiert werden.
  3. In V. 2 muss die Endsilbe von fecere gelängt werden.
  4. DI 46 (Stadt Minden), Nr. 22.
  5. Häufig in der Form Vivos voco, defunctos plango, fulgura frango. Die vorliegende hexametrische Fassung beispielsweise auch auf einer Glocke in der Northeimer Sixti-Kirche aus dem Jahr 1445 (DI 96 (Lkr. Northeim), Nr. 41), auf einer Glocke aus dem Jahr 1490 in der Kirche St. Andreas in Groß Lobke (DI 88 (Lkr. Hildesheim), Nr. 48) oder auf einer Glocke aus dem Jahr 1513 in der Pfarrkirche Mariä Geburt in Bretzenheim (DI 34 (Lkr. Bad Kreuznach), Nr. 243).
  6. Belege: Glocke aus dem Jahr 1462 in der Kirche St. Nicolai in Hameln (DI 28 (Stadt Hameln), Nr. 26), Glocke aus dem Jahr 1511 in der Kirche in Löbstedt (DI 39 (Lkr. Jena), Nr. 111); vgl. auch eine Glocke mit ähnlichem Wortlaut in der Kirche St. Nikolai in Greifswald (DI 77 (Stadt Greifswald), Nr. 164).
  7. Auf einer verlorenen Glocke der Göttinger Nikolaikirche aus dem Jahr 1402 (DI 19 (Stadt Göttingen), Nr. 29) oder auf einer Glocke aus dem Jahr 1471 in der Kirche St. Nicolai in Bodenwerder (DI 83 (Lkr. Holzminden), Nr. 28).
  8. Brosius, Stift Obernkirchen 1167–1565, S. 206.
  9. UB Obernkirchen, Nr. 421 vom 8. Juni 1452.
  10. NLA BU, Orig. Dep. 2, Nr. 418 vom 31. Oktober 1455 (nach Findbuch); vgl. UB Obernkirchen, Nr. 423.
  11. Brosius, Stift Obernkirchen 1167–1565, S. 206.

Nachweise

  1. Kdm. Kreis Grafschaft Schaumburg, S. 86.

Zitierhinweis:
DI 104, Landkreis Schaumburg, Nr. 40 (Katharina Kagerer), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di104g020k0004003.