Inschriftenkatalog: Landkreis Schaumburg

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 104: Landkreis Schaumburg (2018)

Nr. 511† Möllenbeck, ref. Klosterkirche 1620

Beschreibung

Kanzel. Holz. Auf dem Kanzelkorb befand sich unter dem Pult eine Christusdarstellung, oberhalb des Bildes die Inschrift A, unterhalb die Inschrift B. Zu beiden Seiten des Christusbildes Darstellungen der vier Evangelisten mit ihren Symbolen, jeweils darüber die Beischriften C–F: Matthäus mit einem Engel in Menschengestalt war die Inschrift C zugeordnet, Markus mit dem Löwen die Inschrift D, Lukas mit dem Stier die Inschrift E und Johannes mit dem Adler die Inschrift F. Die Inschrift G an der Tür zum Kanzelaufgang. Die Inschriften H und I am Geländer der Kanzeltreppe, I im unteren Bereich. Die Inschrift J verlief unterhalb der Darstellungen um den Kanzelkorb. Unter dem Deckel ein Bild des Himmels mit Wolken und Engelsköpfen sowie die von einer Glorie umgebene Inschrift K. Auf dem Kanzeldeckel befanden sich weitere Darstellungen: die eherne Schlange, darunter der Pelikan mit seinen Jungen, Melchisedeks Priestertum, Abrahams Opfer, die von einem Engel gehaltenen Gesetzestafeln des Mose, ein Osterlamm, das Weihrauchfass Aarons, das von einem Engel gehalten wird, die Bundeslade, darauf zwei Cherubim.1) Die Kanzel wurde um 1810 verkauft;2) ihr Verbleib ist unklar. In der vorliegenden Edition werden alle &-Ligaturen der Druckausgabe von Paulus’ Geschichte des Möllenbecker Klosters als et wiedergegeben.

Inschrift nach Paulus (auch Interpunktion).

  1. A

    Ecce homo quanta gravi pro crimine criminis experspertulerit mundi vulnera Christus homo

  2. B

    Ecce homo3)

  3. C

    De Christo scribit nato Mattheus in orbem.Qui sit in humano corpore passus homo.

  4. D

    Teste Leo Christus Marco de stemmate JudaeVicit, humo rediit, mortis et arma tulit.

  5. E

    Christus, ait Lucas, crucis est mactatus in araMore bovis, vitae redditus astra tenet.

  6. F

    Divus Johannes aquilae volat instar in altumMagnificâ Christi de Deitate canens.

  7. G

    Christe Patris verbum verbo qui cuncta gubernas,Suggestum hunc mecum munere scande tuo

  8. H

    Anno D(omi)ni 1620.Qui fingit sacros auro vel marmore vultus,Non facit ille Deos, qui colit, ille facit.

  9. I

    Vis hac suggesti quis sit Promotor in aedea)Nosse, sequens Carmen perspice, certus eris.

  10. J

    Huncb) Pater Heinricus Calmajerus Duce JovaSuggestum Triadi struxit et aere dedit.De quo nobiscum loquitur sapientia summiPraeconum Verbi docta per ora,c) Patris.Illius hinc passim sanctâ clarescit in unumRelligiosa Deum cum pietate fides.Qua juvat, et juvit divini oracula verbi,Grande Ministerium, Pulpita, Templa, scholas:Hunc Deus incolumemd) nobis superesse tot annosVult, quot inexhaustae) pro bonitate, sinat.

  11. K

    יהוה

Übersetzung:

Sieh, oh Mensch, welch tiefe Wunden Christus als Mensch für die schwere Schuld der Welt auf sich genommen hat, obwohl er selbst ohne Schuld war! (A)

Seht den Menschen. (B)

Matthäus schreibt über die Geburt Christi auf Erden, der in menschlichem Körper als Mensch gelitten hat. (C)

Nach dem Zeugnis des Markus hat der Löwe Christus vom Stamm Juda gesiegt, aus der Erde ist er zurückgekehrt und hat die Waffen des Todes beseitigt. (D)

Christus, sagt Lukas, ist auf dem Altar des Kreuzes geopfert worden wie ein Rind, dem Leben zurückgegeben bewohnt er den Himmel. (E)

Der göttliche Johannes fliegt wie ein Adler in die Höhe und verkündet die glanzvolle Göttlichkeit Christi. (F)

Christus, Wort des Vaters, der du alles durch das Wort lenkst, besteige, wie es dein Amt ist, mit mir diese Kanzel. (G)

Im Jahr des Herrn 1620. Wer aus Gold oder Marmor heilige Figuren formt, nicht der macht Götter: Wer sie verehrt, der macht sie. (H)

Wenn du wissen willst, wer der Auftraggeber der Kanzel in dieser Kirche ist, schau dir das folgende Gedicht an, dann bist du dir darüber gewiss. (I)

Diese Kanzel hat der Pater Heinrich Calmeier unter Leitung Gottes für die Dreieinigkeit gebaut und mit seinem Geld gestiftet. Von ihr herab spricht mit uns die Weisheit des höchsten Vaters durch den gelehrten Mund der Verkünder des Wortes. Von hier erstrahlt überallhin Calmeiers ehrfurchtsvoller, mit heiliger Frömmigkeit gepaarter Glaube an den einen Gott. Mit dieser Frömmigkeit fördert er und hat er gefördert die Verkündigung des göttlichen Wortes sowie den großen Dienst (= Gottesdienst)4), Kanzeln, Kirchen und Schulen. Gott möge ihn uns so viele Jahre unversehrt erhalten, wie er in seiner unerschöpflichen Güte will. (J)

Jehovah. (K)

Versmaß: Elegische Distichen (A, C–J).

Kommentar

Der Prior Heinrich Calmeier (zu ihm Nr. 523) ließ die Feldkirche in Ottbergen (wüst, in der Nähe Möllenbecks) instandsetzen, die Orgel in der Klosterkirche Möllenbeck reparieren und die dortige Kanzel bauen.5) Diese wurde am 24. Juni 1620 durch den Subprior Conrad Hoier (vgl. Nr. 555) eingeweiht. Wie aus der von Hoier bei diesem Anlass gehaltenen Predigt hervorgeht, ordnete Calmeier an, auf der Kanzel Christlich alle Sontag zweymahl zu Predigen / Wochentlich zwey Bettmiß zu halten / vnd alle Viertzehentage den heiligen Catechismum zu Predigen.6)

Hoier dürfte auch der Verfasser des ungewöhnlich reichhaltigen Inschriftenprogramms der Kanzel sein; manche der Inschriftentexte werden in der Einweihungspredigt zitiert, insbesondere das Lobgedicht auf Calmeier (Inschrift J) im Anschluss an die Widmungsvorrede des Predigtdrucks.7) Die Beischriften zu den Evangelistendarstellungen C–F greifen das jedem Evangelisten zugeordnete Symbol auf und setzen es bei den synoptischen Evangelisten entweder wörtlich (C) oder metaphorisch (D, E) mit dem Leben Jesu in Beziehung.8) Dies steht in der Tradition Gregors d. Gr.9) Der Adler des Johannes hingegen wird im vorliegenden Inschriftenprogramm mit Johannes selbst verglichen, aber auch auf die göttliche Existenz Christi im Himmel bezogen (F).

Inschrift G ist einem Gebet nachempfunden, das der Pastor vor seiner Predigt spricht. Die Bezeichnung Christi selbst als Wort ist an die Eingangsworte des Johannesevangeliums angelehnt.

In seiner Einweihungspredigt setzt sich Hoier an zwei Stellen etwas ausführlicher mit der Frage auseinander, ob die Lutheraner angesichts des in 2 Mose 20,4f. ausgesprochenen Bilderverbots Bilder haben dürften. In Anlehnung an die Position Luthers lässt er Bilder als Bücher der Layen10) zu, solange sie nicht nach altgläubiger Tradition angebetet werden. Er grenzt sich hiermit von der rigiden bilderfeindlichen Haltung der Calvinisten ab.11) Vor diesem Hintergrund ist die Inschrift H zu sehen, die den ersten Teil eines aus insgesamt zwei Distichen bestehenden Epigramms bildet, das Hoier in die Einweihungspredigt eingeschaltet hat. Das zweite Distichon lautet: Calvinistarum quid opinio, et haeresis ad nos? / Scimus habenda sient quo Simulachra loco. („Was geht uns die Meinung und die Häresie der Calvinisten an? Wir wissen, welchen Rang man den Bildern zuzumessen hat.“) Die Inschrift bietet somit eine Positionierung zwischen den beiden Polen einer bilderfreudigen katholischen Tradition und der strikten Haltung der Calvinisten. Hoier versucht damit möglichen Vorwürfen entgegenzutreten, die Kanzel könnte als ein zu sehr der katholischen Tradition verhaftetes Bildwerk kritisiert werden.12) Unklar ist, ob von Anfang an nur das erste Distichon von Hoiers Epigramm als Inschrift ausgeführt war, weil man möglicherweise eine zu deutliche Polemik gegen den als Ketzerei bezeichneten Calvinismus vermeiden wollte, oder ob die beiden anticalvinistischen Verse übermalt wurden, als die Möllenbecker Klosterkirche 1673 Gotteshaus der reformierten Gemeinde wurde,13) so dass Paulus diese Verse nicht mehr gesehen hätte.

Das Bildprogramm der Kanzel beschreibt Hoier in seiner Einweihungspredigt, besonders ausführlich die Figuren auf dem Schalldeckel und die Malereien an dessen Unterseite.14) Die Bildschnitzereien fertigte der damals in Obernkirchen ansässige Bildhauer Hans Wolf, den Graf Ernst von Holstein-Schaumburg 1609 am Hof angestellt hatte.15) Mit der Bemalung der Kanzel war Jobst Moller aus Stadthagen beauftragt worden, der auch die Orgel und die renovierte Kirche bemalte.16) Die Bildtafeln an der Möllenbecker Kanzel waren, vermutlich ähnlich denen an der Kanzel in der Bückeburger Stadtkirche, durchgehend vergoldet.17)

Moller, vermutlich ein Sohn Hermann Mollers (Nr. 533), erlangte 1619 das Stadthäger Bürgerrecht und heiratete wohl noch im selben Jahr Margreta Schlüter.18) Jobst Moller muss vor 1637 gestorben sein, da in diesem Jahr seine Witwe ein zweites Mal heiratete.19)

Textkritischer Apparat

  1. Bei Paulus nach aede ein Punkt.
  2. Hunc] Hoc Hoier, Predigt.
  3. ora,] Hoier, Predigt; Komma fehlt bei Paulus.
  4. incolumem] Hoier, Predigt; in columem Paulus.
  5. inexhausta] Hoier, Predigt; in exhausta Paulus.

Anmerkungen

  1. Beschreibung nach Paulus, Geschichte des Möllenbecker Klosters, S. 197–199; vgl. auch die Beschreibung bei Hoier, Predigt, fol. D Iv–F Ir.
  2. Kdm. Kreis Grafschaft Schaumburg, S. 73.
  3. Io 19,5.
  4. Das Textverständnis ergibt sich aus zwei Stellen der an Heinrich Calmeier gerichteten Widmungsvorrede zu Hoiers Einweihungspredigt der Kanzel. Dort ist davon die Rede, dass es Menschen gegeben habe, die Kirchen / Schule / Predigtstüle / vnd den Gottesdienst (fol. A IIr; vgl. fol. A IIv) befördert hätten; zu ihnen wird auch Calmeier gerechnet.
  5. Hoier, Predigt, fol. A IIv. Über die Orgel hat Hoier ebenfalls ein Gedicht verfasst, das als Inschriftentext konzipiert ist, denn es enthält eine Anrede an einen daran vorüber gehenden Leser (fol. A IVr): Haec Pater Heinricus sacra Calmajerus in usum / Restituit cultus organa sponte Dei. / Quo satis ostendi quàm sit studiosus avitae / Relligionis, amans quam sine fraude Dei. / Haec qui pertransis, dic, multos sospes ad annos / Vivat, ad astra fide denique justus eat.(„Diese heilige Orgel hat Pater Heinrich Calmeier gemäß dem Willen Gottes wiederhergestellt zum Gebrauch im Gottesdienst. Daran zeige ich zur Genüge, wie sehr er sich um die von den Vorfahren überkommene Religion bemüht und wie sehr er Gott ohne Falschheit liebt. Du, der du daran vorbeigehst, sag: ‚Er soll auf viele Jahre gesund leben und schließlich als ein durch den Glauben Gerechter zu den Sternen fliegen.‘“) Möglicherweise war das Gedicht als Inschrift an der Orgel ausgeführt; allerdings ist bei Paulus nichts davon erwähnt. Denkbar wäre, dass die Inschrift übermalt wurde (s. im Kommentar zu Inschrift H).
  6. Hoier, Predigt, fol. A IIv.
  7. Hoier, Predigt, fol. A IVr.
  8. Für die Metapher, die Christus mit einem Löwen gleichsetzt, verweist Hoier in seiner Predigt auf Kap. 5 der Offenbarung (fol. F Ir; vgl. Off 5,5). – Etwas Ähnliches findet sich auf der Kanzel der Nikolaikirche in Stralsund (DI 102 (Stadt Stralsund), Nr. 280).
  9. Gregor d. Gr., Homiliae in Ezechielem 1,4,1 (Corpus Christianorum, Series Latina 142).
  10. Hoier, Predigt, fol. F IIr.
  11. Hoier, Predigt, fol. D IIr–D IIIr u. F Iv–F IIr.
  12. Um nicht in den Verdacht einer zu katholischen Haltung zu geraten, betont Hoier am Ende seiner Predigt, als er die Worte zur eigentlichen Einweihung der Kanzel spricht (fol. F IIv–F IIIr), diese Zeremonie solle nicht auf ‚papstische‘ Weise vor sich gehen.
  13. Heutger, Stift Möllenbeck, 21987, S. 179.
  14. Hoier, Predigt, fol. D IIIr–E IVv. Die eherne Schlange, der Pelikan, Melchisedek und die Opferung Isaaks sind Präfigurationen Christi.
  15. Bruck, Ernst zu Schaumburg, S. 66.
  16. Hoier, Predigt, fol. A III; vgl. Paulus, Geschichte des Möllenbecker Klosters, S. 197.
  17. Paulus, Geschichte des Möllenbecker Klosters, S. 195f.
  18. Burchard, Stadtarchiv Stadthagen, S. 62,27. Margreta Schlüter zahlte 1619 Bürgergeld und wird in diesem Zusammenhang als Jobst Mollers Frau bezeichnet (Burchard, Stadtarchiv Stadthagen, S. 409,12). Weiland gibt 1622 als Jahr der Heirat an (Weiland, Trauungen, S. 21).
  19. Burchard, Stadtarchiv Stadthagen, S. 286,35–287,3. – Rolf Fritz schreibt Jobst Moller auch ein auf 1598 datiertes Abendmahlsbild zu (Nr. 368), doch ist dies aus chronologischen Gründen eher unwahrscheinlich.

Nachweise

  1. Paulus, Geschichte des Möllenbecker Klosters, S. 197–199.
  2. Hoier, Predigt, fol. A IVr (J), fol. F IIr (H, V. 1f.).

Zitierhinweis:
DI 104, Landkreis Schaumburg, Nr. 511† (Katharina Kagerer), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di104g020k0051107.