Inschriftenkatalog: Landkreis Schaumburg

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 104: Landkreis Schaumburg (2018)

Nr. 116 Obernkirchen, Stiftskirche St. Marien 1516–1525

Beschreibung

Altarretabel und Predella. Holz, farbig gefasst, und Stein. Das zweiflügelige Altarretabel des Hauptaltars steht auf einer steinernen Predella, die mit Maßwerk verziert ist. In den Zwickeln der Maßwerkbögen drei Wappenschilde im Relief.

Die Festtagsseite des Retabels trägt in hochrechteckigen Feldern geschnitzte Szenen aus der Passion Christi. Die Felder sind am oberen Rand mit Rankenschleiern verziert, auf dem unteren Rand befinden sich jeweils die in Gold auf rotem Grund gemalten Beischriften, die Konturen der Buchstaben einschließlich der Brechungen sind schwarz gefasst. Im zentralen Mittelfeld die Darstellung der Kreuzigung. Rechts und links davon am Rahmen auf Säulen unter Fialen wohl ehemals je zwei kleine plastische Figuren, von denen nur noch rechts oben Barbara mit Turm1) und links unten Dorothea mit Korb erhalten sind. An den Seitenflügeln am mittleren Rahmensteg ebenfalls Figuren. Am linken Flügel fehlt die obere Figur, bei der unteren handelt es sich um eine weibliche Heilige mit Buch (Margareta oder Katharina). Am rechten Flügel zwei Bischöfe, beide tragen einen Bischofsstab, der obere zusätzlich ein Buch, der untere hat die rechte Hand segnend erhoben (vermutlich Ambrosius und Augustinus). Auf den Seitenflügeln befindet sich je ein Aufsatz, in dem unter mit Kreuzblumen verzierten Bögen je zwei Figuren stehen, links ein heiliger Diakon mit Buch und einer (wohl falsch erneuerten) Lanze, daneben Johannes der Täufer mit dem Lamm; rechts der Evangelist Johannes mit Kelch und Laurentius mit Rost und Buch.

Die Szenen der Passionsgeschichte sind in zwei Reihen rechts und links des zentralen Kreuzigungsbildes angeordnet. Linker Seitenflügel, obere Reihe: Christus in Gethsemane mit Inschrift A; Christus an der Martersäule mit Inschrift B. Mittelteil, obere Reihe: Christus wird dem Volk dargestellt mit Inschrift C. Linker Seitenflügel, untere Reihe: Dornenkrönung mit Inschrift D, Christus vor Pontius Pilatus mit Inschrift E. Mittelteil, untere Reihe: Kreuztragung mit Inschrift F. Mittelteil: Kreuzigung mit Inschrift G. Mittelteil, obere Reihe: Kreuzabnahme mit Inschrift H. Rechter Seitenflügel, obere Reihe: Grablegung mit Inschrift I, Christus führt Adam und Eva aus der Vorhölle mit Inschrift J. Mittelteil, untere Reihe: Auferstehung mit Inschrift K. Rechter Seitenflügel, untere Reihe: Christus erscheint Maria Magdalena mit Inschrift L, Christus mit drei Jüngern in Emmaus (Schriftfeld leer).

Im zentralen Feld am Kreuz Christi der Titulus M. Inmitten der vielfach bevölkerten Szenen oberhalb des Hauptmanns ein Schriftband mit Inschrift N. Beide Inschriften sind in schwarzer Farbe auf angeheftete Schriftbänder aus einem sehr dünnen Material (möglicherweise Pergament oder Leder) aufgemalt. Der Anfangsbuchstabe der Inschrift N in Rot.

Auf der Außenseite der Flügel eine Darstellung der Heiligen Familie: links Maria mit dem Kind auf einer Bank sitzend, im Hintergrund Josef und ein Engel. An der rechten Außenseite rechts Anna lehrend auf einer Bank, im Hintergrund ihre drei Ehemänner. In den Aufsatzfeldern links das gemalte Brustbild eines Mannes mit Kappe, rechts das Brustbild eines Mannes mit Turban und Backenbart. Gmelin und Suckale mutmaßen, dass es sich um Propheten handelt; auch eine Deutung als Stifterbilder wäre möglich.2)

Maße: H.: ca. 240 cm; B.: ca. 230 cm (geschlossen); Bu.: 4 cm (A–F, H–L), 6 cm (G), ca. 2,5 cm (M), ca. 1,2 cm (N).

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien der gotischen Majuskel (A, D, G, I, N), gotische Minuskel (B, C, E, F, H, J, K, L), frühhumanistische Kapitalis (M).

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Inga Finck) [1/5]

  1. A

    · Orat · patre(m) ·

  2. B

    · fflagellatur ·

  3. C

    · ecce · homo ·3)

  4. D

    Spinisa) · coronatur ·

  5. E

    · conde(m)pnatur ·

  6. F

    ducit(ur) · ad · mortem ·

  7. G

    · Crufixusb) · est · pro · nobis ·4)

  8. H

    · de · cruce · depo(n)i(tur)c)

  9. I

    Sepult(us)d) · est ·

  10. J

    · dudite) · ad · i(n)ferna ·

  11. K

    · resurexit ·

  12. L

    · noli · me · ta(n)gere ·5)

  13. M

    I(ESUS) N(AZARENUS) R(EX) I(UDAEORUM)6)

  14. N

    Uere filius dei erat iste7)

Übersetzung:

Er betet zum Vater. (A)

Er wird gegeißelt. (B).

Siehe, der Mensch. (C)

Er wird mit Dornen gekrönt. (D)

Er wird verurteilt. (E)

Er wird zum Tod geführt. (F)

Er ist für uns gekreuzigt worden. (G)

Er wird vom Kreuz abgenommen. (H)

Er ist begraben worden. (I)

Er steigt zur Hölle hinab. (J)

Er ist auferstanden. (K)

Rühr mich nicht an. (L)

Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen. (N)

Wappen:
Stift Obernkirchen,8) Busse,9) Bennigsen10)

Kommentar

Die gotische Minuskel der Inschriften A–L ist mithilfe von dunklen Umrisslinien als Bandminuskel aus gefalteten und geknickten Bändern gestaltet. Der Balken des t und f, der Mittelbalken des x und das untere Bogenende des p ist durch den Schaft hindurchgesteckt. s in Inschrift G mit geschwungenem Diagonalstrich. Die Buchstaben des Kreuztitulus (Inschrift M) weisen als Merkmal der frühhumanistischen Kapitalis Nodi am Schaft des I und einen Halbnodus am Schaft des R auf.

Die auf der Predella angebrachten Wappenschilde sind Helena von Bennigsen und Johann Busse genannt Pagendarm zuzuordnen (zu ihnen Nr. 115). Aus deren Amtszeiten lässt sich als Entstehungsdatum der Predella die Zeit zwischen 1516 und 1525 festlegen.11)

Die Altarmensa selbst ist älter: Aus der 1892 bei der Öffnung des Sepulchrums aufgefundenen Konsekrationsurkunde geht hervor, dass der Altar bereits 1496 geweiht wurde: Anno domini millesimo quadringentesimo nonagesimo sexto, ipso die Augustini episcopi et confessoris […] consecratum est presens altare in honorem dei omnipotentis et beatissime virginis Marie patrone principalis, divina sibi gracia suffragante, et in honorem beati Petri apostoli et Augustini episcopi.12)

Vermutlich wurde das Retabel genauso wie die Predella erst später angefertigt. Hans Georg Gmelin und Jörg Rosenfeld weisen darauf hin, dass sich die geschnitzten Bildprogramme an Darstellungen der erst 1511 veröffentlichten „Kleinen Holzschnittpassion“ von Albrecht Dürer orientieren. Rosenfeld nimmt ferner an, dass die Gemälde auf der Retabelrückseite demselben von hamburgischen Vorbildern inspirierten Maler zuzuschreiben sind, der auch die Gemälde auf den Außenseiten des Marienaltarretabels (Nr. 118) anfertigte. Unter Berücksichtigung des Aufbaus und der Gestaltung der geschnitzten Szenen vermuten Gmelin und Rosenfeld eine Herkunft aus dem Mittelweserraum und konstatieren eine Verwandtschaft zu den Retabeln der Bartholomäuskirche in Meerbeck und der evangelischen Pfarrkirche in Windheim (Kreis Minden-Lübbecke).13)

Textkritischer Apparat

  1. S-Versal retrograd.
  2. Für Crucifixus.
  3. depo(n)i(tur)] Kürzungszeichen am Ende in Form einer 3.
  4. S-Versal retrograd.
  5. Mit Kürzungsstrich über dem u, vermutlich verschrieben für d(esce)ndit.

Anmerkungen

  1. Sie befand sich Anfang des 20. Jahrhunderts rechts unten (Kdm. Kreis Grafschaft Schaumburg, Tafel 101).
  2. Gmelin, Spätgotische Tafelmalerei, Nr. 68, S. 262; Suckale, Stift Obernkirchen, S. 29; vgl. jedoch Kleßmann, Stift Obernkirchen, S. 14.
  3. Io 19,5.
  4. Nach dem Credo des Ordo missae: Crucifixus etiam pro nobis.
  5. Io 20,17.
  6. Io 19,19.
  7. Mt 27,54.
  8. Wappen Stift Obernkirchen (heraldische Lilie); vgl. Brosius, Stift Obernkirchen 1167–1565, Tafelteil (Siegel der Pröpste ab Ludolf Dene).
  9. Wappen Busse (drei Eichenblätter 2:1).
  10. Wappen Bennigsen (Armbrustschaft); vgl. Spießen, Wappenbuch, Bd. 1, S. 10 u. Tafel 23.
  11. Zu weiteren Baumaßnahmen der Äbtissin Helena von Bennigsen vgl. Nr. 115.
  12. „Im Jahr des Herrn 1496 am Tag des Bischofs und Bekenners Augustinus ist dieser Altar geweiht worden zu Ehren des allmächtigen Gottes und der seligen Jungfrau Maria, der Hauptpatronin, wobei ihr die göttliche Gnade zu Hilfe kommt, und zu Ehren des heiligen Apostels Petrus und des heiligen Bischofs Augustinus.“ Die Konsekrationsurkunde ist zitiert in den Kdm. Kreis Grafschaft Schaumburg, S. 85.
  13. Gmelin, Spätgotische Tafelmalerei, Nr. 68, S. 263; Rosenfeld, Holzskulpturen im Weserraum, S. 159.

Nachweise

  1. Kdm. Kreis Grafschaft Schaumburg, S. 85 u. Tafel 100–102 (A–L).
  2. Suckale, Stift Obernkirchen, S. 26f. (Abb.).
  3. Rosenfeld, Holzskulpturen im Weserraum, S. 161 (Abb.).

Zitierhinweis:
DI 104, Landkreis Schaumburg, Nr. 116 (Katharina Kagerer), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di104g020k0011602.