Inschriftenkatalog: Landkreis Schaumburg

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 104: Landkreis Schaumburg (2018)

Nr. 8 Obernkirchen, Stiftskirche St. Marien 1355

Beschreibung

Wandnische mit Torso. Stein. Die Nische befindet sich an der Nordseite der Kirche unter einem Spitzbogen. Sie selbst wird durch einen Dreipassbogen abgeschlossen und durch drei Fialen bekrönt, zwischen denen ein Sonnen- und ein Mondgesicht im Relief ausgearbeitet sind. In der Nische befindet sich der vollplastische Torso, der Christus als Schmerzensmann darstellt. Über einem stilisierten Wolkenband ist ein nackter Rumpf erkennbar, der mit seiner linken, mit einem Wundmal versehenen Hand auf die Wunde an seiner Brust weist. Kopf und Arme fehlen. In den Kehlen der Nische sind Marterwerkzeuge im Relief angebracht. Die dreizeilige Inschrift befindet sich auf einem an den Enden eingerollten steinernen Schriftband im Sockelfeld. Sie ist zwischen vertieften Linien eingehauen.

Maße: H.: 136,5 cm (Nische), 12 cm (Schriftband); B.: 67 cm (Nische), 47 cm (Schriftband); Bu.: 2,5 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien der gotischen Majuskel.

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Inga Finck) [1/2]

  1. M · ter C · L · (et)a) · U · iunctis cu(n)ctis / mico · visu · Iohan prepositob) [F .(.)]c) · / me fecit · quoq(ue)1) · ghysod) ·

Übersetzung:

Wenn man Tausend, Dreihundert, Fünfzig und Fünf zusammennimmt, können mich (in diesem Jahr) alle2) erstrahlen sehen. Unter Propst Johannes hat mich Ghyso machen lassen [?].

Versmaß: Zwei Hexameter, binnen- und endgereimt.

Kommentar

Die Inschrift ist der früheste erhaltene Beleg für die gotische Minuskel im Landkreis Schaumburg. Sie fügt sich noch weitgehend in ein Zweilinienschema ein. Beim Schluss-o in preposito und beim y sind die Brechungen nicht sehr ausgeprägt. Auffällig ist das v, bei dem die Brechungen nicht nur aus Quadrangeln bestehen, sondern weit ausgezogen sind. In preposito ist der Schaft des i oben nach rechts gebrochen. Das runde s in Brezelform.

Die Inschrift steht im Zusammenhang mit dem Umbau der Obernkirchener Kirche von einer romanischen Basilika des 12. Jahrhunderts zur dreischiffigen gotischen Hallenkirche (vgl. auch Nr. 11). Die Baumaßnahmen setzten wohl in den 1330er-Jahren ein. Im Jahr 1330 rief Bischof Ludwig von Minden zu Spenden für die infolge eines Brandes baufällig gewordene Kirche auf.3) Der im zweiten Teil der Inschrift genannte Propst Johannes ist in den Jahren 1351 und 1353 bezeugt. Das genaue Ende seiner Amtszeit ist nicht bekannt. Sein Nachfolger Gerhard von Lerbeck ist erstmals am 14. Mai 1358 nachzuweisen.4)

Textkritischer Apparat

  1. Tironisches et, z-förmig.
  2. preposito] preposit’ Kdm.
  3. [F .(.)]] erat Kdm.; möglicherweise Fore.
  4. quoq(ue) · ghyso] fehlt Kdm.

Anmerkungen

  1. Das Wort quoque („auch“) dürfte als Füllwort aufgrund des metrischen Zwangs eingefügt sein.
  2. Siebern/Brunner sowie Suckale beziehen cunctis auf iunctis und übersetzen: „nachdem alles miteinander verbunden ist“ (Suckale, Stift Obernkirchen, S. 17; ähnlich Kdm. Kreis Grafschaft Schaumburg, S. 84). Suckale sieht darin einen Verweis auf „die Verbindung der Schiffsmauern durch die Schließung der Gewölbe“ (Suckale, Stift Obernkirchen, S. 17) und interpretiert die Inschrift als Bauabschlussinschrift. Diese Deutung ist jedoch aus sprachlichen Gründen unwahrscheinlich.
  3. NLA BU, Orig. Dep. 2 Nr. 178 (UB Obernkirchen, Nr. 181 vom 19. Mai 1330); vgl. Brosius, Stift Obernkirchen 1167–1565 u. Suckale, Stift Obernkirchen, S. 17f.
  4. Brosius, Stift Obernkirchen 1167–1565, S. 206.

Nachweise

  1. Kdm. Kreis Grafschaft Schaumburg, S. 83.

Zitierhinweis:
DI 104, Landkreis Schaumburg, Nr. 8 (Katharina Kagerer), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di104g020k0000805.