Inschriftenkatalog: Altkreis Osterode

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 105: Osterode (2019)

Nr. 198 Osterode, St. Aegidien 1644

Beschreibung

Weinkanne. Silber, innen vergoldet, außen ziervergoldet. Die Wandung ist mit feingearbeiteten Blumendarstellungen (u. a. Sonnenblumen, Lilien, Rosen, Mohn) verziert. Unter dem Ausguss in einem herzförmigen Lorbeerkranz eine Darstellung des Abendmahls mit Fußwaschung am rechten Rand. Darüber Inschrift A, die zweite und dritte Zeile unterbrochen durch Christi Nimbus. Die Worttrenner sind sternförmig; am Anfang und Ende jeder Zeile liegende Palmetten. Hinter dem Griff ein kreisförmiger Lorbeerkranz mit Wappen, der von einem weiteren, nach unten halbkreisförmig verlaufenden Kranz umfangen wird. Zwischen diesem und dem Lorbeerkranz mit Abendmahl an beiden Seiten jeweils eine Traube. Über dem Wappen im kreisförmigen Kranz beginnt Inschrift B, die links und rechts von dem Wappen fortgesetzt und unter diesem abgeschlossen wird. Auf dem Deckel um den mittleren Knauf umlaufend Inschrift C. Alle Darstellungen und Inschriften sind eingraviert. Die Kanne wurde Heinrich Wendt zufolge für die Johanniskirche gestiftet.1)

Maße: H.: 25 cm (mit Deckel); Dm.: 13,7 cm (Boden), 10,7 cm (Öffnung); Bu.: 0,3 cm (A, C), 0,25–0,3 cm (B).

Schriftart(en): Kapitalis mit Versalien (A–C), Minuskeln mit Versalien (B, teilweise).

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Jörg H. Lampe) [1/4]

  1. A

    VENITE / PARATA // SVNT · OMNIA2) / ACCIPITE · COMEDITE // · BIBITE · EX · HOC / OMNES3)

  2. B

    AVTHORI / SALVTIS · NOSTRAE / NATALITIA · HAEC · SVA / Dicat // Consecrat / JOHANNES // CRAVELI(VS) med(icinae) l(icentiatvs)a) / Co(n)s(vl)b) et · physi[c](vs)c) // Osterod(ensis) / Anno / 1644 / · 2 · Jul(ii) ·

  3. C

    CHRISTVS : INNOCENS : PATRI : RECONCILIAVIT : PECCATORES :4)

Übersetzung:

Kommt, alles ist bereitet, empfangt, esst und trinkt alle davon. (A)

Dem Ursprung unseres Heils weiht und stiftet aus Anlass seines Geburtstages dies Johann Crauel, Lizentiat der Medizin, Bürgermeister und (Stadt-)Physikus in Osterode im Jahr 1644 am 2. Juli. (B)

Der unschuldige Christus hat die Sünder mit dem Vater versöhnt. (C)

Wappen:
Crauel5)

Kommentar

Die Kapitalis zeichnet sich wie bei der Oblatendose Nr. 197 durch den Wechsel von Haar- und Schattenstrichen aus; durch Kontur verbreitert sind die senkrechten sowie die Linksschrägschäfte und die Bögen in (B). An den Schaftenden Sporen; der obere und untere Balken des E reicht nach links über den Schaft hinaus, die Sporen an den Balkenenden sind hakenförmig. Die Cauda des R ist geschwungen. Am unteren Schaftende des P in PARATA (A) ein nach links gerichteter, schleifenförmiger Zierstrich, am oberen Bogenende des Versal-C (COMEDITE) ein geschwungener Zierstrich. Die Formen der Minuskeln folgen denen der Kursive, wenn sich auch einige Elemente der Fraktur wie Brechungen an m und n finden. Die 2 ist Z-förmig.

Vorlage für die Abendmahlsdarstellung dürfte ein Stich von Abraham Bloemart (1564–1651) aus dem Jahr 1596 sein, auf dem Christus Judas das Brot reicht und die Jünger in ausladenden Gewändern auf einer Rundbank liegen;6) die Fußwaschung am rechten Rand wurde hinzugefügt. Dieser Typus des Abendmahlsbildes wurde in Osterode noch zweimal – auf den Ende der 1650er Jahre entstandenen Predellen der Retabel in St. Jacobi (Nr. 22) und St. Marien (Nr. 39) – zitiert.

Inschrift C auf dem Deckel zitiert die Ostersequenz Victimae paschali laudes des Wipo von Burgund (um 995–um 1050). Diese wurde von Luther mehrfach in Liedtexten paraphrasiert, so vor allem in „Jesus Christus unser Heiland“ (Evangelisches Gesangbuch Nr. 102), zuerst 1524 unter dem Titel Eyn Lobsang auff dem Osterfest, worin es in Strophe 2 heißt: Der on sunden war geporn, / trug fur vns Gottis tzorn, / Hat vnns versunet, / das Gott vnns seyn huld gunnet.7)

Johann Crauel wurde am 2. Juli 1581 in Alfeld als Sohn des Bürgers Friedrich Crauel und der Anna Gellern geboren. Der Vater wurde später beigeordneter Oberförster in Osterode und seit 1589 Oberförster in Clausthal; bald darauf starb er. Johann Crauel besuchte seit 1596 Schulen in Braunschweig, Hameln, Lippstadt und Kassel.8) Am 26. September 1601 wurde er in Helmstedt als aus Osterode stammend immatrikuliert;9) seiner Leichenpredigt zufolge studierte er allerdings erst seit 1603 dort; nach zwei Jahren Grundstudium an der Artistenfakultät wechselte er im Jahr 1605 in die medizinische Fakultät.10) 1608 wurde er Provisor, d. h. Gehilfe des Anatomen bei der Sektion.11) Anschließend verbrachte er nach einem kurzen Aufenthalt in Wittenberg drei Jahre an der Universität Rostock, wo er private Kollegien hielt. Von 1610 bis 1615 praktizierte er in seiner Heimatstadt;12) am 11. Juni 1613 wurde er in Helmstedt zum Lizentiaten der Medizin promoviert.13) 1615 wurde Crauel für drei Jahre Stadtphysikus in Einbeck, wo er im April 1616 Christina Hattorf, eine Tochter des Osteroder Eisenfaktors Heinrich Hattorf (vgl. Nr. 156), heiratete, die 1638 starb. Nach Ablauf des Vertrags ging er 1618 als Stadtphysikus nach Osterode, wo er bereits 1616 das Bürgerrecht erworben hatte. 1625 verfasste er aus aktuellem Anlass eine Pestordnung für die Stadt. In Osterode wurde er 1626 Ratsherr und 1634 Bürgermeister; 1662 gab er das Amt aus Altersgründen auf und starb am 8. Januar 1665.14) Neben diesen Ämtern wirkte Crauel weiterhin als Stadtphysikus und Arzt; zu seinen Patienten gehörten der Rat Johann Hund (vgl. Nr. 182, 183) und der Landdrost Heinrich Dannenberg (1583–1644). Außerdem wirkte er zeitweise als Leibarzt des in Herzberg residierenden Herzogs Georg und später von dessen Witwe Anna Eleonore.15)

Johann Crauels Interesse an der Naturkunde schlägt sich in den botanisch korrekten Abbildungen der Blumen auf der Kanne nieder, zu denen die spätestens in den 1580er Jahren in Deutschland bekannte, aus Mittel- und Südamerika stammende Sonnenblume gehört.16) Crauel stiftete der Kirche auch eines der Gemälde, die an den Emporen und am Orgelprospekt aufgehängt waren; in der Stifterinschrift bezeichnete er sich ebenfalls als Lizentiat der Medizin und Bürgermeister (Nr. 189). Die Stiftung der Weinkanne erfolgte am 63. Geburtstag des damaligen Witwers.

Die Darstellung der Blumen macht es wahrscheinlich, dass die beiden Abendmahlsgerätschaften Nr. 197 und 198 von dem Osteroder Goldschmied Christoph Uder (ca. 1598–1667) angefertigt wurden, der 1649 oder später den Nodus des Kelches in Scharzfeld (Nr. 211) mit ähnlichen Blüten (darunter eine Sonnenblume) und Palmetten versah. Christoph Uder fertigte außerdem 1649 den großen Huldigungspokal Nr. 209 für seine Heimatstadt (dort auch Näheres zum Biografischen) sowie 1647 wahrscheinlich einen Kelch für St. Jacobi (Nr. 204).

Textkritischer Apparat

  1. l(icentiatvs)] Befund: ll.
  2. Co(n)s(vl)] Befund: Coss:. Der Graveur hat die Verdoppelung des Schlusskonsonanten wie bei ll. (Anm. a) offenbar als Kürzungszeichen angesehen.
  3. physi[c](vs)] Befund: physie; der Graveur hat hier möglicherweise ein c mit einem us-Kürzel in Form einer 9 als e gelesen.

Anmerkungen

  1. Wendt, Kirchen- und Schul-Acta, Bl. 141r.
  2. Nach Lc. 14,17: quia parata sunt omnia.
  3. Nach Mt. 26,26–27: Accipite, et comedite: hoc est corpus meum. Et accipiens calicem, gratias egit: et dedit illis, dicens: Bibite ex hoc omnes.
  4. Aus der verbreiteten Ostersequenz Victimae paschali laudes aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts; vgl. Analecta hymnica, Bd. 54, S. 12–14.
  5. Wappen Crauel (quadriert; 1. u. 4. zwei gekreuzte Kräuel [Stäbe mit Griff und drei rechtwinklig an der Spitze nach außen angesetzten, krallenartigen Haken]), 2. u. 3. schwarz [hier: Blattwerk im Rahmen]), hier linksgewendet; vgl. Neubecker, Großes Wappen-Bilder-Lexikon, Tafel 1043. Vgl. auch Friedrich Bonhoff u. Hans Günther Griep, Goslarer Wappenrolle, Goslar 1981, S. 178, Nr. 972. – Das Wappenbild in 1. und 4. ist sprechend: vgl. Grimm, DWb, Bd. 11, Sp. 2083f., s. v. kräuel: „haken zum packen, zerren, bes. gabel mit hakenförmigen spitzen“; mnd. krouwel, kruel, krael, krauwel: Schiller-Lübben, Mittelniederdeutsches Wörterbuch, Bd. 2, S. 580.
  6. Vgl. Oertel, Abendmahlsbild, S. 245f., mit Abb. 12a.
  7. Wackernagel, Kirchenlied, Bd. 3, S. 11, Nr. 13. Vgl. auch Evangelisches Gesangbuch, Nr. 99 u. 101.
  8. Wellner, Osteroder Stadtärzte, S. 2f.; Wellner zitiert in seinem Aufsatz in extenso die Leichenpredigt des Pastors an St. Aegidien, Andreas Hagemann (Seligsterbender Christen Triumph- und Freuden-Lied …, Osterode 1665). Zu dieser vgl. auch Roth, Auswertungen, Bd. 5, S. 256f. (R 4446).
  9. Matrikel Helmstedt, S. 158 (Nr. 174).
  10. Ebd., S. 181, Nr. d.4.
  11. Ebd., S. 199, Nr. d.6.
  12. Wellner, Osteroder Stadtärzte, S. 3–5.
  13. Matrikel Helmstedt, S. 231 (Nr. d.1).
  14. Wellner, Osteroder Stadtärzte, S. 5–12. Zu den Ratsämtern vgl. Wendt, Geschichte, S. 310 u. 312. Zum Erwerb des Bürgerrechts am 5. Januar 1616 vgl. Granzin, Bürgerbuch, S. 10.
  15. Wellner, Osteroder Stadtärzte, S. 10f.
  16. Vgl. Joachim Camerarius, Kreutterbuch Deß Hochgelehrten vnnd weitberühmeten Herrn D. Petri Andreae Matthioli, Jetzt widerumb mit vielen schönen neuwen Figuren/ auch nützlichen Artzneyen/ vnd andern guten stücken/ zum andern mal auß sondern fleiß gemehret/ vnd verfertigt Durch Ioachimum Camerarium, … Frankfurt a. M. 1590, Bl. 281v: Flos Solis Peruuianus; Gewächs aus Peru, das vor etlichen Jaren nach Deutschland gebracht worden sei und nun vberall in Gärten vnnd für den fenstern bey vns also gemein worden; mit Abb. Bl. 282r.

Zitierhinweis:
DI 105, Osterode, Nr. 198 (Jörg H. Lampe), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di105g021k0019800.