Inschriftenkatalog: Altkreis Osterode

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 105: Osterode (2019)

Nr. 118† Kloster Walkenried, Sommerrefektorium 1596

Beschreibung

Wandgemälde. Das frühere Sommerrefektorium an der Westseite des Kreuzgangs wurde seit der Zeit des Rektors Heinrich Eckstorm im Sommer als Lehrsaal genutzt. An der Tür, vermutlich an der Außenseite, befand sich Inschrift A. An der Wand (ad parietem) waren außer den auf den Schulbetrieb bezüglichen Inschriften B bis H noch die Bauinschrift I sowie das Wappen der Herzöge von Braunschweig und Bischöfe von Halberstadt angebracht, die seit dem Aussterben der Grafen von Honstein 1593 Administratoren des Stiftes Walkenried waren.1) Der Bau wurde 1739 abgebrochen.2)

Inschriften nach Eckstorm.

  1. A

    Nil dictu faedum visuque haec limina tangat3)

  2. B

    Psal. CXI Initium sapientiae timor Domini4)

  3. C

    Theodotus ὁ εἰς καλὸν παιδαγωγῶν εἰς χρις[τ]ὸν ἄγει καὶ ἔστι σωτήριος5)

  4. D

    Marci Xa) Sinite paruulos venire ad me (et) ne prohibete eos talium enim est regnum Deib)6)

  5. E

    Psal. XXXIVc) Venite filij audite me timorem Domini docebo vos7)

  6. F

    Ex Orpheo φθέγξομαι οἷς θέμις ἐστί θύρας ἐπιθέσθε βεβήλοις8)

  7. G

    Inscriptio templi Aesculapii in Epidauro Ἁγνὸν χρὴ ναοῖο θυωδέος ἐντὸς ἰόντα Ἔμμεναι9)

  8. H

    Hic locus est Jouae summo trinoque dicatusd) Et Musis castis est sacer iste locuse) Aestiuis horis rerum studiosa iuuentus Hic artes discat cum pietate bonas Traditur hic quicquid sanif) sit et vtile pubi Seruiat et laudi CHRISTE benigneg) tuae

  9. I

    Anno Christi M D IVCh) mense Augustoi)

Übersetzung:

Nichts, was zu sagen oder zu sehen schändlich ist, möge diese Schwelle berühren (überschreiten). (A)

Psalm 111: Die Furcht vor dem Herrn ist der Anfang der Weisheit. (B)

Theodotus: Wer zur Schönheit erzieht, führt hin zu Christus und ist heilbringend. (C)

Markus 10: Lasst die Kinder zu mir kommen und wehrt es ihnen nicht, denn ihnen gehört das Reich Gottes. (D)

Psalm 34: Kommt Kinder, hört mir zu, die Furcht vor dem Herrn will ich euch lehren. (E)

Aus (den Sprüchen) des Orpheus: Ich werde sprechen, zu welchen es erlaubt ist; schließt die Türen vor den Uneingeweihten. (F)

Inschrift auf dem Tempel des Äskulap (Asklepios) in Epidauros: Rein muss sein, wer den weihrauchduftenden Tempel betritt. (G)

Dieser Ort ist dem höchsten und dreieinigen Gott geweiht, und dieser Ort ist den keuschen Musen heilig. Hier soll in den Sommerstunden die Jugend, die nach Wissen strebt, die guten Künste zusammen mit Frömmigkeit lernen. Hier wird all das gelehrt, was für die Jugend heilsam und nützlich ist. Er (der Raum) diene auch deinem Lob, gütiger Christus. (H)

Im Jahr Christi 1596, im Monat August. (I)

Versmaß: Hexameter (A, F, G).   Elegische Distichen (H).

Kommentar

Der Ausbau des Sommerrefektoriums zum Hörsaal ging auf die Initiative des Rektors Heinrich Eckstorm zurück.10) Der in dessen Chronik – wenn auch in ungewöhnlicher Form – gedruckten Jahreszahl 1596 (I) wird der Vorzug gegeben gegenüber der von Letzner überlieferten (1594). Letzner hatte Walkenried bereits im Frühjahr 1594 besucht, die Inschrift nennt aber erst den August des Jahres als Fertigstellungszeitraum. Das 44. Kapitel hat Letzner auch erst in den Jahren bis 1598 eingearbeitet; die Texte der Inschriften dürften auf Informationen Eckstorms zurückgehen.11)

Das Inschriftenprogramm an der Tür und der Wand des Lehrsaals versammelt neben Bibelzitaten Texte antiker Autoren in lateinischer und griechischer Sprache; hinzu tritt ein mit großer Wahrscheinlichkeit von Eckstorm selbst stammendes Gedicht (H). Alle sind (mit Ausnahme der Bauinschrift I) auf den Sinn und Zweck des Schulbetriebs bezogen. Zugleich stellen sie den Schülern die Bildung ihres Rektors vor Augen. Die griechischen Zitate (C, F, G) gehen vermutlich auf Exzerpte Eckstorms aus dem Werk Clemens’ von Alexandrien (um 140/150–um 215/16) zurück, das seit 1550 (Florenz) bzw. 1592 (Heidelberg) im Druck vorlag. Clemens war ein Autor, der Aussprüche griechischer Philosophen und Dichter für die Grundlegung und Sicherung des christlichen Glaubens herangezogen hat.12) So lag es für Eckstorm nahe, ihn für die Verbindung christlicher Lehre und klassischer Studien zu nutzen, die sein Gedicht (H) ausdrücklich thematisiert.

Die im Inneren der Klosterschule angebrachten Inschriften unterscheiden sich damit von den zumeist außen angebrachten, teilweise sehr aufwändigen Programmen an den um 1600 entstandenen Stadtschulen (z. B. in Einbeck und Alfeld),13) die die Schulen als Aufgabe des städtischen Gemeinwesens nach außen darstellen sollen und sie zugleich als kompetente Vermittlerin gelehrter Bildung und sprachlicher Eloquenz in Vers und Prosa präsentieren. Zitate antiker Autoren des Bildungskanons finden sich dagegen nur ausnahmsweise, vor allem 1592 am Gymnasium Martino-Katharineum in Braunschweig. Dort auch eine Parallele zu Inschrift D, in Braunschweig allerdings nach Mt. 19,14.14) Lange Schulinschriften innerhalb des Gebäudes gab es in Hameln15) und im Kloster Möllenbeck.16)

Textkritischer Apparat

  1. Marci X] Marci cap. 10 Letzner, Chronica.
  2. Sinite Pueros venire ad me, talium enim est Regnum caelorum Letzner, Chronica.
  3. Psal. XXXIV] Ps. 34 Letzner, Chronica.
  4. Hic locus est Jouae summo trinoque dicatus] Est Locus hic Iovae trino summoque dicatus Letzner, Chronica.
  5. Et Musis castis est sacer iste locus] Et castis Musis est locus iste sacer Letzner, Chronica.
  6. sani] sanum Letzner, Chronica.
  7. CHRISTE benigne] maxime Christo Letzner, Chronica.
  8. M D IVC] M D XCIIII Letzner, Chronica.
  9. mense Augusto] fehlt Letzner, Chronica.

Anmerkungen

  1. Wagnitz/Reinboth, Klosterschule, S. 43–45. Vgl. Letzner, Walkenrieder Chronik, S. 170f. Eckstorm, Chronicon Walkenredense, S. 286f. Kdm. Kreis Blankenburg, S. 331f.
  2. Ebd., S. 332.
  3. Juvenal, Sat. 14,44. Vgl. Walther, Proverbia, Bd. 3, Nr. 16697a.
  4. Ps. 111,10.
  5. Zitat nach Clemens von Alexandrien, Eclogae propheticae, 20,4: Stählin, Clemens Alexandrinus, Bd. 3, S. 142, hier: ὁ δὲ εἰς ἀγαθὸν παιδαγωγῶν … – Die erste gedruckte Ausgabe des Clemens, herausgegeben von Petrus Victorius, erschien 1550 in Florenz; sie bildet die Grundlage für die verbesserte Ausgabe des Friedrich Sylburg von 1592; vgl. Stählin, Clemens Alexandrinus, Bd. 1, S. LXV–LXVII. Der Text in dieser Ausgabe wie bei Stählin (ohne die moderne Kapitelzählung): Klēmentos Alexandreōs Ta Heuriskomena. Clementis Alexandrini opera quae exstant. Diversae lectiones, et emendationes, partim ex veterum scriptis, partim ex huius aetatis doctorum iudicio, seorsum in fine additae, (…), Opera Friderici Sylbvrgii Veter(ensis), [Heidelberg] 1592, S. 346, Z. 26f. – In allen Ausgaben des Clemens steht vor den Eclogae das Buch mit den Auszügen aus Theodotus (Ek tou Theodotou … epitomai); bei Sylburg S. 334–344, bei Stählin, Bd. 3, S. 103–133. Die Zuweisung des Zitats an Theodotus dürfte in dieser Nähe ihre Ursache haben.
  6. Mc. 10,14. Der von Letzner überlieferte Text (Anm. b) folgt Lc. 18,16 (pueros) bzw. Mt. 19,14 (regnum caelorum).
  7. Ps. 34,12.
  8. Orphicorum fragmenta, collegit Otto Kern, Berlin 1922, frg. 245,1 (aus den Diathekai): … βεβήλοι. Zur Überlieferungsgeschichte, bes. bei Clemens siehe ebd., S. 256–265, hier S. 259. Clemens von Alexandrien, Protrepticus VII 74,4: Stählin, Clemens Alexandrinus, Bd. 1, S. 56; Sylburg, Clementis Alexandrini opera (wie Anm. 5), S. 21, Z. 51.
  9. Inschrift auf den Propyläen von Epidauros (Anth. Graeca, App. 18,2), überliefert von Theophrast (Peri eusebeias. Griechischer Text. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Walter Pötscher, Leiden 1964 [Philosophia Antiqua 11], Frag. 9, Z. 10f., S. 162f.) und Clemens von Alexandrien, Stromateis, V. 1,13,3–4; Stählin, Clemens Alexandrinus, Bd. 2, S. 334; Sylburg, Clementis Alexandrini opera (wie Anm. 5), S. 236, Z. 5.
  10. Vgl. Wagnitz/Reinboth, Klosterschule, S. 43–45.
  11. Vgl. die Einleitung zu Letzner, Walkenrieder Chronik, S. 9–11 mit der Konkordanz S. 194. Letzner könnte die von Eckstorm ihm möglicherweise bereits in der Form M D IVC mitgeteilte Jahreszahl missverstanden und zu seiner Angabe M D XCIIII „verbessert“ haben. – Auf diese Möglichkeit hat mich der Herausgeber der Walkenrieder Chronik, Fritz Reinboth, aufmerksam gemacht, dem ich für eine erhellende Diskussion der Problematik danke. Eckstorm schreibt wenige Seiten später auch das Jahr 1597 nach seinem Stil als M D IIIC; Eckstorm, Chronicon Walkenredense, S. 289.
  12. Vgl. TRE, Bd. 8, S. 101–113, bes. S. 111 (A. Méhat).
  13. DI 42 (Stadt Einbeck), Nr. 119 (1594) u. 142 (1610). DI 88 (Lkr. Hildesheim), Nr. 311 (Alfeld 1610). Vgl. auch DI 96 (Lkr. Northeim), Nr. 144 (1574 od. später); DI 59 (Stadt Lemgo), Nr. 99 (1583?).
  14. Vgl. DI 56 (Stadt Braunschweig II), Nr. 648 (C); dort wurden Zitate von Seneca und Cicero als Inschriften angebracht.
  15. DI 28 (Stadt Hameln), Nr. 155 (1646).
  16. DI 104 (Lkr. Schaumburg), bes. Nr. 393.

Nachweise

  1. Eckstorm, Chronicon Walkenredense, S. 286f.
  2. Letzner, Chronica, Bl. 72v (D, E, H, I).
  3. Letzner, Walkenrieder Chronik, S. 171 (D, E, H, I).

Zitierhinweis:
DI 105, Osterode, Nr. 118† (Jörg H. Lampe), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di105g021k0011801.