Inschriftenkatalog: Altkreis Osterode

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 105: Osterode (2019)

Nr. 43 Nienstedt, St. Martin 1. V. 16. Jh.

Beschreibung

Altarretabel aus Förste. Holz, farbig gefasst. Auf der Predella Gemälde mit dem von zwei Engeln gehaltenen Schweißtuch der Veronika. Aufsatz mit zwei Flügeln, bestehend aus vergoldetem und farbig gefasstem Schnitzwerk vor Goldgrund. Im Mittelschrein Maria mit dem Christuskind auf der Mondsichel und der Inschrift A im Nimbus, glatt vor punziertem Hintergrund. Links neben Maria der Evangelist Johannes und außen Nikolaus, rechts neben Maria Jakobus d. Ä. (mit aufgeschlagenem Buch ohne Inschrift und Pilgermuschel am Hut) und außen der heilige Martin als Bischof, jeweils mit den Inschriften B auf den Sockeln. Im linken Flügel Anna Selbdritt, Katharina1) und der Apostel Andreas mit den Sockelinschriften C, auf dem rechten Flügel Sebastian, Barbara (mit Turm, in einem Fenster Oblate und Kelch) und Margareta mit den Sockelinschriften D; alle Inschriften schwarz auf ursprünglich silbernem Grund gemalt. Als Worttrenner Quadrangeln mit Zierhäkchen nach oben und unten, teilweise zusätzlich auch nach rechts und links. Die Gewandsäume sind mit aufgemalten „Edelsteinen“ geschmückt, rot und grün im Wechsel. Auf einem kurzen waagerechten Gewandsaumabschnitt des Martin, rechts neben dem Bischofsstab unterhalb des Knies, findet sich die gemalte Inschrift E angedeutet, von der nur ein Buchstabe komplett ausgeführt ist.

Auf der Außenseite der Flügel Gemälde. Auf dem linken Flügel die Geburt Christi. Vor dem Stall knien Maria und Joseph anbetend vor dem Kind, das – nach der Vision der Birgitta von Schweden – auf dem Mantelzipfel Marias liegt. Links oben über einer Uferlandschaft mit einem Hirten drei Engel, die ein Notenband mit der (schwarz auf weiß) gemalten Inschrift F halten. Auf dem rechten Flügel die Anbetung der Könige.

Das Retabel wurde für die Maria und St. Martin geweihte Kapelle in Förste – 1303 von dem Ritter Günzel Letgast (zur Familie Letgast vgl. Nr. 3) gestiftet2) – angefertigt, die 1866 wegen Baufälligkeit aufgegeben und 1890 teilweise abgebrochen wurde; die Reste wurden 1938/39 beseitigt.3) Seit 1890 stand das Retabel zeitweise im Lehrerzimmer der Schule in Förste, wo es einen Brandschaden erlitt. Die dabei schwer beschädigte Malerei auf dem linken Flügel wurde 1927 vom Kirchenmaler Fritz Koch in Hannover „instandgesetzt“4) und 1957 vom Ehepaar Uhlworm in Berlin „wiederhergestellt“.5) 1927 fügte Koch bei seiner Restaurierung die zuvor auf dem Dachboden der Kirche aufbewahrte Predella wieder an. Anschließend stand das Retabel auf der Empore und seit 1935 an der Nordwand des Chores.6) Nach einem Brand im Jahr 1939 wurde in der Kirche eine Wand eingezogen, die den Chor vom Kirchenschiff trennte, und das Retabel vor dieser aufgestellt. Mit der Beseitigung der Wand 1987/88 wurde die heutige Situation hergestellt.7) 1987 (Diedrichs in Berka) und 2015 durch Viola Bothmann in Göttingen erneute Restaurierungen des Retabels.8)

Maße: H.: 128 cm; B.: 160 cm (Mittelschrein), 79,5–80 cm (Flügel); Bu.: 2,8 cm (A–D), 2,5 cm (E), 0,25 cm (F).

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis (A, C [ANNA], E), gotische Minuskel mit Versal-S (B–D), Minuskeln (F).

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Jörg H. Lampe) [1/5]

  1. A

    AVE · SANCTISSIMA · MARIA9)

  2. B

    <S(anctus) · nikolaS ·>a) // · S(anctus) · <joha>nnesb) · // · S(anctus) · iacobus · // · S(anctus) martinus ·

  3. C

    · S(ancta) ANNA · // · S(ancta) katherina · // [·] S(anctus) andreas ·

  4. D

    · S(anctus) Sebastian(us) · / [·] S(ancta) barbara · / · S(ancta) margareta ·

  5. E

    (M)A(RTINUS)c)

  6. F

    g[l]ori[a]d) in exelsise) deo10)

Übersetzung:

Gegrüßt seist du, heiligste Maria. (A)

Ehre sei Gott in der Höhe. (F)

Kommentar

A ist mit Deckbalken und gebrochenem Mittelbalken versehen. Die Schrägschäfte von A, V, konischem M (mit verkürztem Mittelteil) sind an den Enden leicht keilförmig verbreitert, deutlicher noch der Schaft des T und die Cauda des (leicht offenen) R. Die Bogenenden von C, S und E sind stark verbreitert mit Ansatz zur Spaltung, der sich teilweise zu einem Zierhaken erweitert. Die mittleren Bogenenden des epsilonförmigen E reichen über den Vereinigungspunkt hinaus. Der Schrägschaft des N ist als Haarstrich ausgeführt. Das I zweimal mit kleinem Nodus: einmal nach links (zweites I in SANCTISSIMA), einmal nach rechts (MARIA). In ANNA (gemalt) ist der Schrägschaft des N mit einem offenen Halbnodus nach links versehen. Die Formen der frühhumanistischen Kapitalis ähneln am meisten denen der Nimbeninschrift des Retabels in Hetjersjausen aus dem Jahr 1509.11) Bemerkenswert an der gotischen Minuskel sind die Zierhäkchen an der zum Quadrangel reduzierten Fahne des r, am Diagonalstrich des s sowie am Bogen des h. Das Versal-S der gemalten Inschriften ist konturiert.

Die Zuschreibung des Schnitzwerkes an die Kastrop-Werkstatt durch Herbert von Einem (1933) und Buhmann (1938) wird von der Forschung nicht mehr geteilt,12) obwohl eine Abhängigkeit von dessen Werken nicht zu leugnen ist, wie die Schriftformen zeigen; vgl. Nr. 39. Kim Nina Girod betont die gedrungeneren Proportionen der Figuren des vorliegenden Retabels.13) Die Malerei, die Gmelin „um 1515“ datiert, schreibt er dem Meister des Northeimer Hieronymus-Altars zu.14) Insgesamt ist eine Entstehung des Retabels im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts am wahrscheinlichsten.

Textkritischer Apparat

  1. <S(anctus) · nikolaS ·>] Auf Foto von 1927 nicht zu erkennen. Auf erneuerter Grundierung gemalt; das Versal-S am Ende ist nicht plausibel. S. NICOLAVS Mithoff; Mithoff gibt alle Sockelinschriften in Versalien und mit V-Schreibung wieder; ursprünglich wahrscheinlich S. nicolaus oder S. nikolaus.
  2. S(anctus) · <joha>nnes] Auf Foto von 1927 sind nur die Buchstaben nnes zu erkennen. Davor war die Grundierung abgeplatzt. S. IOHANNES EV. Mithoff.
  3. (M)A(RTINUS)] Der Balken hinter die Spitze des A gelegt; vom M ist der rechte Schrägschaft, vom R der Schaft ausgeführt.
  4. g[l]ori[a]] Befund: nach g ein Punkt auf einem gefüllten Riss, am Ende zwei kleine Schäfte; gloria Mithoff; alleluia Gmelin.
  5. exelsis] excelsis Mithoff; exelsis auch auf dem Retabel in Reinhausen: DI 66 (Lkr. Göttingen), Nr. 82.

Anmerkungen

  1. Um 1870 befanden sich Katharina und Martin auf vertauschten Plätzen; vgl. Mithoff, Kdm. Göttingen und Grubenhagen, S. 58. Auf dem Foto von 1927 im NLD Hannover bereits wie heute angeordnet. Ebenso in der Auflistung bei Gmelin, Tafelmalerei, S. 604.
  2. Max, Grubenhagen, Bd. 2, S. 328 u. Urk. 30.
  3. https://www.karstwanderweg.de/kirchen/foerste/martin/index.htm (15.06.2017). Dort auch Angaben zu den Ergebnissen von Grabungen am Standort der Kapelle in Förste in den Jahren 1983 und 1987. Werner Binnewies, Förste, Nienstedt, Marke. Streifzüge durch Geschichte und Volkskunde, Clausthal-Zellerfeld 1978 (Der Harz und Südniedersachsen, H. 5), S. 13.
  4. NLD Hannover, Beschriftung der Fotos.
  5. Gmelin, Tafelmalerei, S. 605.
  6. Gmelin, Tafelmalerei, S. 605. Der Zustand von 1927 (vor der Restaurierung der Malerei) auf drei Fotos im NLD Hannover (No. 1506). – Fotos von 1958 im NLD und bei Foto Marburg falsch unter Nienstedt (Despetal): https://www.bildindex.de/document/obj2046868, Aufnahmen mi04491e06–mi04491e11 (22.04.2018).
  7. www.kirche-nienstedt.de/geschichte/St-Martinskirche-Nienstedt/umbauten-bis-1988 (15.06.2017).
  8. www.kirche-nienstedt.de/geschichte/altar/altarrestaurierung (15.06.2017).
  9. Anfang des Gebetes Ave sanctissima Maria, mater dei, regina celi, porta paradisi …, der Überlieferung nach von Papst Sixtus IV. verfasst, dem die Gottesmutter in schwerer Krankheit erschienen war. Mit der Ableistung des Gebetes vor einem Bild der Maria in der Sonne (Maria im Strahlenkranz, Mondsichelmadonna) waren 11.000 Jahre Ablass verbunden. Das Gebet war seit dem Ende des 15. Jahrhunderts in zahlreichen Einblattdrucken und Gebetbüchern verbreitet (z. B. im Antidotarius animae des Nicolaus Salicetus, seit 1489 in fast jedem Jahr in teilweise mehreren Drucken erschienen, v. a. bei Johannes Grüninger in Straßburg [z. B. 1491, Bl. 69v; 1493, Bl. 69v; 1494, Bl. 63v] sowie Kasper Hochfeder in Nürnberg und Metz; Hortulus animae, Straßburg, Johann Grüninger 1498 [GW 12970], Bl. 99); vgl. Wulf, Inschriften der Göttinger Altarretabel, S. 285f.; Bonnie J. Blackburn, The Virgin in the Sun: Music and Image for a Prayer Attributed to Sixtus IV, in: Journal of the Royal Musical Association 124, 1999, S. 157–195, hier bes. S. 158–160; Franz Xaver Haimerl, Mittelalterliche Frömmigkeit im Spiegel der Gebetbuchliteratur Süddeutschlands, München 1952 (Münchener theologische Studien, Bd. I.4), S. 89f. u. 92. Der Gebetsanfang auch auf den Retabeln in Reinhausen (1498), in Hetjershausen (1509) sowie in St. Marien in Göttingen (1524); vgl. DI 66 (Lkr. Göttingen), Nr. 82 (Reinhausen); ebd., Nr. 116 (Hetjershausen); DI 19 (Stadt Göttingen), Nr. 87 (St. Marien).
  10. Incipit des Gloria im Ordo missae, nach Lc. 2,14. Auch auf dem Retabel in St. Marien in Osterode (Nr. 39) sowie dem Retabel in Reinhausen von 1498; DI 66 (Lkr. Göttingen), Nr. 82.
  11. Vgl. DI 66 (Lkr. Göttingen), Nr. 116.
  12. Vgl. Eckhardt, Magdalenenfigur, S. 44. Nur der Werkstatt zugeschrieben durch Stuttmann/von der Osten, Bildschnitzerei, S. 99f.
  13. Kim Nina Girod hat freundlicherweise den entsprechenden Abschnitt (2.4.3.) ihrer bei Thomas Noll in Göttingen angefertigten, noch unveröffentlichten Dissertation über Bartold Kastrop zur Verfügung gestellt.
  14. Gmelin, Tafelmalerei, S. 604. – Zum Retabel des Northeimer Hieronymusaltars vgl. ebd., Nr. 202, S. 606f.; DI 96 (Lkr. Northeim), Nr. 96.

Nachweise

  1. Mithoff, Kdm. Göttingen und Grubenhagen, S. 58.

Zitierhinweis:
DI 105, Osterode, Nr. 43 (Jörg H. Lampe), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di105g021k0004309.