Inschriftenkatalog: Altkreis Osterode

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 105: Osterode (2019)

Nr. 39 Osterode, St. Marien nach 1513

Beschreibung

Altarretabel. Holz, farbig gefasst. Das rekonstruierte Retabel – die Schleierbretter fehlen – zeigt im Mittelschrein vor einem neutralen, roten Hintergrund die Madonna im Strahlenkranz mit dem Jesuskind und den gemalten Gewandsauminschriften A: A1 (golden auf grün) beginnt auf der untersten Falte: der erste Buchstabe in der Mitte zwischen der darüber liegenden Falte, die Fortsetzung direkt über der rechten Hälfte der Mondsichel, teilweise verdeckt von der darüber liegenden Falte; der Schluss auf dem Saum des Ausschnittes. Die Inschrift A2 (golden auf rot) auf dem Saum des Mantels, beginnend unter dem Jesuskind, fortgesetzt links unter der rechten Hand in zwei Reihen. Rechts und links neben Maria je zwei Figuren weiblicher Heiliger – wie alle weiteren Figuren – vor vergoldetem Hintergrund mit Granatapfeldekor und glatten, kreisförmigen Nimben. Oben rechts Barbara mit Turm, oben links Katharina mit Schwert, beide mit Kronen; die runden, inschriftenlosen Sockel sind durch einen Ast mit Weinblättern geschmückt; auch die Gewänder sind anders gestaltet als bei den übrigen Figuren und zeichnen sich durch zahlreich applizierte kleine Kügelchen (Perlen) aus. Unten links Maria Magdalena mit Salbgefäß, unten rechts Anna Selbdritt, durch die gemalten Inschriften B und C1 auf der Basis bezeichnet; auf dem Kleid der Maria Magdalena nur ein Muster. Anna hält auf dem rechten Arm den Christusknaben mit einer goldenen (Welt-)Kugel in der Hand, auf dem linken Arm Maria mit einem aufgeschlagenen Buch in der Hand. Auf dem Mantelsaum der Anna (golden auf blau bzw. grün) die Inschrift C2, beginnend unter der Christusfigur (im mittleren, senkrecht unterhalb der Maria verlaufenden Abschnitt erheblich durch Restaurierung überformt), auf dem Kleid der Maria (golden auf rot) die Inschrift C3. Maria hält ein Buch auf ihrem Schoß, das vermutlich niemals eine sinntragende Inschrift trug; Abplatzungen und Restaurierungen lassen heute nur noch senkrechte Striche, Kringel und lambdaförmige Zeichen erkennen.

In den Flügeln in zwei Reihen jeweils drei golden und farbig gefasste Figuren der zwölf Apostel mit ihren Attributen, auf den Basen bezeichnet durch die schwarz auf dunklem, ursprünglich silbernem Grund gemalten Inschriften D1–I1 (linker Flügel) und J1–O1 (rechter Flügel); die rot gemalten Versalien sind stark nachgedunkelt, so dass sie teilweise nur noch schlecht zu erkennen sind. Auf den Gewändern der Apostel die Gewandsauminschriften D2–I3 (linker Flügel) und J2–O2 (rechter Flügel). Die Gewandsauminschriften sind golden auf rotem, blauem oder grünem Streifen gemalt; zwischen den Buchstaben florale Muster. Die Wörter und Buchstaben sind teilweise nur unvollständig angelegt und je nach Verlauf der Falten auf minimale Bestandteile an der Ober- bzw. der Grundlinie reduziert. Als Worttrenner dienen Quadrangeln mit zwei oder mehreren Häkchen.

Auf den Außenseiten der Flügel Gemälde. Auf dem linken Flügel oben die Verkündigung, unten die Anbetung der Weisen; auf dem rechten Flügel oben der Besuch der Maria bei Elisabeth (Heimsuchung), unten die Geburt (Anbetung des Kindes durch Maria und die Hirten). Ein Engel oben links in der Verkündigung trägt ein helles Schriftband mit Noten und der schwarz gemalten Inschrift P darunter. Auch auf dem aufgeschlagenen Buch in der Verkündigung nur Scheininschriften.

Die bereits 1554 baufällige Marienkirche stürzte bis 1558 teilweise ein.1) Das Retabel wurde in diesen Jahren in die Aegidienkirche gebracht, von wo es etwa einhundert Jahre später in die 1659 wiederhergestellte Marienkirche zurückkehrte.2) Zu einem späteren Zeitpunkt wurde es in einen Kanzelaltar integriert;3) zu der Kanzel vgl. Nr. 143. Die Flügel mit den Aposteln waren zu beiden Seiten der Kanzel zu sehen, der Rahmen des Mittelschreins blieb hinter der Kanzel erhalten. Die Figuren der Maria Magdalena und der Anna Selbdritt standen um 1927/28 vor dem Rahmen links und rechts von der Kanzel, die beiden nicht zur ursprünglichen Ausstattung gehörenden Figuren der Katharina und Barbara versteckt in einem schmalen Spalt zwischen Kanzel und Flügeln.4) 1950 wurde der Kanzelaltar demontiert und die bis dahin in einer Mauernische aufbewahrte Marienfigur mit ihren Begleiterinnen wieder in den Mittelschrein eingesetzt und das Retabel durch Joseph Bohland aus Hildesheim erneuert.5)

An der Predella ein Gemälde mit der Darstellung des Abendmahls, vermutlich aus der Zeit um 1659, eine Kopie der nur wenig älteren Predella des Altars von St. Jacobi in Osterode.6)

Maße: H.: 152,5–153 cm; B.: 149,5 cm (Mittelschrein), 73,5–74,5 cm (Flügel); Bu.: 3,8 cm (A), 2,1 cm (B, C1–O1), 1,3 cm (D2–O2), 0,3 cm (P).

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis (A, C, D2–O2), gotische Minuskel mit Versalien (B, D1–O1), Minuskeln (P).

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Jörg H. Lampe) [1/15]

  1. A1

    O // [C]LEMENS // MARIA7)

  2. A2

    (MAGNIFICA)T · A(N)I(M)A · MEA · DOM[I](NUM) // RESPEXIT · HVMILITATEM // ANCILLE · SVE · ECCE · EN(IM) // QVIA · FECIT · MICHI · MAGN[A] // TIM[E](NTIBUS)8)

  3. B

    S(ancta) Maria Magdalena

  4. C1

    S(ANCTA) ANNA

  5. C2

    HILF · SANCTA · ANNA // <SVLF · DREDDE · VNDE · DINEM> · HILLIGEN // O · SANCTA · // ANNA · BIDDE

  6. C3

    MARIA · MATER

  7. D1

    S(anctus) Petrus

  8. D2

    SIMON · IOHANNES · DILIGI[S] // [.]MSa) // ME · TV · S(C)IS · DOMINE · QVIA // AMO · [T](E) // (A)G[N]OSb) · M(E)//[O]Sc) · 9)

  9. E1

    S(anctus) Iacobus (mai)ord)

  10. E2

    O · DV · HILLIGE · HIMMEL·FORST · // [S]A(N)[C]T(V)[S] · IACOP · BIDE / · GOD · DEN · HEREN // · DAT · HE · VNS · GHENEDICH ·

  11. F1

    S(anctus) Andreas

  12. F2

    (V)OS · QVI · SECV[TI …] // SEDEBITIS · SVPER · SEDES · IVDICANT(ES)10)

  13. G1

    S(anctus) Philipp(us)

  14. G2

    PHILIPPE · QVI · VID(IT) // OSTENDE // NON · CREDIS · QVIA · EGO · INe)11)

  15. H1

    S(anctus) Bartolome(us)

  16. H2

    IN · OMNEM · T[ERR]AMf) · EXIVIT // SONVS · EORVM · // [E]T · // IN · FINES · O[R]BIS · TERRARV(M)12)

  17. I1

    S(anctus) Matheus ·

  18. I2

    SANCTVS · MATHEVS · APPOSTOLE · DEI · / ORA · // PRO · NOBIS13) · AD · // D(OMI)N(V)M

  19. I3

    IHESVS · VIDIT · HOMINEM · SEDENTEM · IN · [T](ELONEO)14)

  20. J1

    S(anctus) Iohannes

  21. J2

    IN · MEDIO · ECCLESIE · APERVIT · OS · // [IM]PLEVIT · EV[M]g) · DO[M]I/N(VS)h) [SPI]RITV · S[APIENTIE]i) // [ET INTEL…]j)15)

  22. K1

    S(anctus) Thomas

  23. K2

    NISI · VIDERO · VIX/VRAMk) · CLAVORVM · [NON CREDAM]l)16)

  24. L1

    S(anctus) Iacobus (min)orm)

  25. L2

    O · IACOBE · FRATER · D(OMI)[NI]n) // IHE[S]V

  26. M1

    S(anctus) Simon

  27. M2

    DV · HILLIGE · APPO//ST(OLE) // DEN // GO//DES · SANT · // BI//DDE · VOR · VNS17) · [BI · GOD]

  28. N1

    S(anctus) Iudas thadeus

  29. N2

    VOS · QVI · SECVTI · E[S]TIS // [SE]DEBITIS · SVPER · SED(ES) // IVDI(CANTES) // DVODECIM · TRIBVS · ISRA[HEL] · [DICIT]18)

  30. O1

    S(anctus) Mathias

  31. O2

    CECIDIT · SORS · SVP(E)R · // MATHIAM · ET IN (A)P(POSTO)LE19) // ORA · PRO · <NOBIS · SANCTE · MATHIE · APPOST>OL[E]

  32. P

    gloria i(n) excelsis deo20)

Übersetzung:

O gütige Maria. (A1)

Meine Seele preist die Größe des Herrn. Er hat auf die Niedrigkeit seiner Magd gesehen. Siehe, (von nun an preisen mich selig alle Geschlechter), denn er hat Großes an mir getan. (Und seine Barmherzigkeit wird immer bei denen sein), die ihn fürchten. (A2)

Hilf, heilige Anna Selbdritt und dein heiliger (Sohn). O heilige Anna, bitte (für uns). (C2)

Maria, Mutter. (C3)

Simon Johannes (=Petrus), liebst du mich? Du weißt, Herr, dass ich dich liebe. (Jesus sagt: Weide) meine Schafe. (D2)

O du heiliger Himmelsfürst, heiliger Jakob, bitte Gott den Herrn, dass er uns gnädig (sei). (E2)

Ihr, die ihr mir nachgefolgt (seid), werdet auf Richterstühlen sitzen und richten. (F2)

Philipp, wer mich sieht, (der sieht den Vater. Wie kannst du sagen,) zeige uns (den Vater). Glaubst du nicht, dass ich im (Vater bin und der Vater in mir). (G2)

In die ganze Welt ging hinaus ihr Schall und an die Enden der Welt (ihre Worte). (H2)

Heiliger Apostel Gottes, Matthäus, bete für uns zum Herrn. (I2)

Jesus sah einen Mann am Zoll sitzen. (I3)

Inmitten der Kirche öffnete er seinen Mund und der Herr erfüllte ihn mit dem Geist der Weisheit und des Verstandes. (J2)

Wenn ich nicht die Wundmale der Nägel sehe, werde ich nicht glauben. (K2)

O Jakob, Bruder des Herrn Jesus. (L2)

Du heiliger Apostel, den Gott gesandt hat, bitte für uns bei Gott. (M2)

Ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, werdet auf Richterstühlen sitzen und richten über die zwölf Stämme Israels, sagt (der Herr). (N2)

Das Los fiel auf Matthias und (er wurde gezählt zu) den Aposteln. Bete für uns, heiliger Apostel Matthias. (O2)

Ehre sei Gott in der Höhe. (P)

Kommentar

Die frühhumanistische Kapitalis der Gewandsauminschriften zeigt typische Merkmale dieser Schrift (A mit Deckbalken, konisches M mit kurzem Mittelteil, N mit Nodus am Schrägschaft, H mit nach unten ausgebuchtetem Balken, den Wechsel von unzialem und kapitalem E, eingerolltes G, eingerolltes Q, ausgeprägte Sporen an den Bogenenden des S, unten geschwungener Rechtsschrägschaft am X, offenes R), bleibt aber insgesamt den kapitalen Formen recht nah. So ist das offene kapitale D nicht spiegelbildlich zum eingerollten G gestaltet. Dieser Eindruck wird durch die teilweise verfälschende Restaurierung verstärkt, wie besonders an Inschrift C2 und dem mittleren Abschnitt von Inschrift J2 deutlich wird sowie an der zweimaligen Fehlrestaurierung des byzantinischen M. An der regelkonformen gotischen Minuskel, die auf fast allen Sockelinschriften verwendet wird, sind nur das Kasten-a und der das runde s durchziehende, oben nach links umgebogene Zierstrich erwähnenswert.

Die Kirchenältesten Tile Meinberg und Heinrich Schrader schlossen am 26. Juni 1513, einem Sonntag, im Beisein des Pfarrers (Parner) Tolner und des Bürgermeisters Tile Lentfert (vgl. Nr. 40) mit dem Göttinger Bildschnitzer Bartold Kastrop einen Vertrag über die Anfertigung des Retabels, für das Kastrop 53 Gulden erhalten sollte. Bestimmt wurde, dass in der Mitte ein Marienbild Platz finden sollte, begleitet von Figuren der Katharina, der Margareta, der Anna und der Maria Magdalena, sowie von den zwölf Aposteln in den Flügeln.21) Der Vertrag bestätigt, dass die beiden stilistisch abweichenden Figuren im Mittelschrein – Barbara und vermutlich Katharina – nicht zum ursprünglichen Bestand gehören.

Das Osteroder Retabel, entstanden wahrscheinlich in den Jahren von 1513 bis etwa 1515, gehört zu einer Reihe von Marienretabeln aus der Werkstatt des Bartold Kastrop. Kastrop dürfte um 1460/65 in Nörten geboren sein; 1488 erwarb er das Bürgerrecht in Northeim.22) Seit 1499 war er Bürger in Göttingen, wo er 1532/33 als wohlhabender Mann starb. Seine Witwe Katharina Heisen, Tochter eines Göttinger Schneiders, lebte bis 1545/46. In dem Haushalt wuchs der jüngere Bruder der Katharina Heisen, Heinrich Heisen, auf, der an den späteren Werken seines Schwagers als Maler beteiligt war. Von den Marienretabeln sind drei als Werke Kastrops inschriftlich bezeugt: zwei (aus Geismar 1499 und in Hetjershausen 1509) durch Inschriften hinter der zentralen Marienfigur, die bei Restaurierungen zum Vorschein kamen;23) das letzte bekannte Werk, das große Retabel für St. Marien in Göttingen, trug eine heute verlorene Rahmeninschrift, die Kastrop und Heinrich Heisen als Hersteller nannte. Zu diesen Arbeiten tritt der Rest eines Retabels in Diemarden hinzu, das zwischen dem Osteroder und dem Göttinger Aufsatz um 1520 entstanden sein dürfte. Alle Retabel haben das Schicksal erlitten, im 18. Jahrhundert zum Kanzelaltar umgebaut worden zu sein, aus dem sie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder herausgelöst wurden.

Dem Osteroder Retabel am nächsten stehen die aus Hetjershausen und Diemarden, die einen im Grundsatz gleichartigen Aufbau aufweisen bzw. aufwiesen. Die zentrale Figur bildet eine Madonna auf der Mondsichel.24) Nur im Diemardener Retabel befand sich an dieser Stelle eine (heute am Kanzelaltar angebrachte) kniende Madonna auf einem fast halbkugeligen Sockel, vermutlich der Rest einer Marienkrönung. Die die Madonna begleitenden Heiligen unterscheiden sich in Hetjershausen nur insofern, als hier an die Stelle der für Osterode vorgesehenen Margarete ein Martin tritt; die drei übrigen Figuren sind gleich. Auch die Anordnung der zwölf Apostel, die wegen der schattenhaften Aussparungen des Goldgrundes nicht beliebig ist, weicht dort nur an einer Stelle geringfügig ab.25) Auf allen drei Retabeln nah verwandt ist auch die Malerei auf den Außenseiten der Flügel, die jeweils die gleichen vier Szenen aus dem Marienleben zeigt, wobei in Osterode wie in Diemarden Heinrich Heisen, der Schwager Kastrops, der Maler war. Heisen verwendete als Vorlagen Stiche aus Dürers Marienleben (als Einzelblätter gedruckt zwischen 1502 und 1504).26) Die Gemälde in Hetjershausen, die 1509 noch ein anderer Maler anfertigte, sind kaum erhalten, lassen die Motive aber noch erkennen. Überraschend bei dem Osteroder Retabel ist die Vertauschung von Geburt und Anbetung, die die übliche Leserichtung, wie sie sich auf zahlreichen südniedersächsischen Retabeln findet – von links nach rechts erst die beiden oberen, dann die beiden unteren Bilder –, verändert.

Das kleinere Retabel aus St. Martin in Geismar von 1499, Kastrops frühestes gesichertes Werk, weicht mit seinem einreihigen Aufbau und einer zentralen Marienkrönung von der Struktur der drei späteren ebenso ab wie das größere in St. Marien in Göttingen von 1524/26, das neben der zentralen Madonna auf der Mondsichel vier Szenen aus dem Marienleben als Schnitzwerk enthielt, die Kastrop ebenfalls nach den Stichen Dürers geschnitzt hat. Die Heimsuchung fand sich hier, als Malerei Heisens, auf der Außenseite. In den Flügeln stehen noch heute viermal vier Figuren; zu den Aposteln kommen vier Heilige hinzu. Die Reihenfolge der Apostel ist im Übrigen der in Osterode entsprechend.27)

In die Betrachtung des Werkstattzusammenhangs einzubeziehen sind außerdem zwei Retabel in Reinhausen (Lkr. Göttingen) und in Nienstedt. Das Retabel in der früheren Klosterkirche in Reinhausen aus dem Jahr 1498 wies nur im Mittelschrein Schnitzwerk auf.28) Die zentrale Figur, vermutlich ebenfalls eine Mariendarstellung, ist verloren; die diese begleitenden vier Heiligenfiguren (Katharina, Barbara, Maria Magdalena29) und Cyriacus) ähneln den Werken Kastrops. Auf den Innenseiten der Flügel finden sich Gemälde mit denselben vier Motiven wie in Hetjershausen, Osterode und Diemarden. Diese wurden vermutlich in der Werkstatt des 1502/03 verstorbenen Hans von Geismar gemalt, aus deren Zusammenhang auch die beiden Gemälde auf den Innenseiten der Flügel des Retabels von St. Martin in Geismar (1499) stammen, die zwei der vier Motive (Verkündigung und Geburt) aufnahmen. Bemerkenswert in Reinhausen ist die Außenseite der Flügel, auf denen – von einem anderen Maler – die zwölf Apostel gemalt wurden, die sich hier in fast derselben Anordnung finden wie in den Flügeln des Retabels in Osterode (Andreas steht, wie in Hetjershausen, vor Jakobus d. Ä., Bartholomäus vor Philipp). Auch der Typus mehrerer Apostel ähnelt dem der von Kastrop geschnitzten Figuren, wie Petrus, Jakobus d. Ä., Johannes, Philipp oder Bartholomäus zeigen.30) Auffallend ist weiterhin, dass Simon in Reinhausen und in Osterode mit Keule dargestellt ist und die ihm überwiegend zugeordnete Säge dem Judas Thaddeus beigegeben ist.31) Auf eine von der Kastrop-Werkstatt aufgenommene Tradition deutet auch die auffallende Verwendung von aor und bor zur Unterscheidung des älteren und jüngeren Apostels Jakob, die sich in Reinhausen (1498), Hetjershausen (1509) und Osterode (1513/15) findet (vgl. Anm. d).

Alle genannten Retabel mit Ausnahme desjenigen von St. Marien in Göttingen zeigen die gleichen Formen der Sockel für die Figuren der Apostel und Heiligen, auf denen die Namen mit einer sehr ähnlichen gotischen Minuskel mit dünnem Strich schwarz auf ursprünglich silbernen Grund geschrieben wurden. In Reinhausen findet sich die Kürzung Scs bzw. Sca, sonst immer S für Sanctus oder Sancta; Versalien werden in Hetjershausen, Osterode und Diemarden durchgehend verwendet, bei den beiden früheren Aufsätzen nur teilweise. Anna Selbdritt wird in allen vorkommenden Fällen (Hetjershausen, Osterode, Nienstedt) mit einer Sockelbeischrift in frühhumanistischer Kapitalis versehen. Die frühhumanistische Kapitalis findet auf allen Retabeln Verwendung, vor allem in punzierten Inschriften, die in Osterode fehlen. Gemalte Gewandsauminschriften weisen (außer bei den gemalten Aposteln in Reinhausen) nur die Retabel in Osterode und Diemarden auf. Die Grundformen der frühhumanistischen Kapitalis sind über die verschiedenen Anbringungsstellen und -arten hinweg ähnlich. Bei den Gewandsauminschriften in Diemarden fallen Abweichungen gegenüber Osterode auf, darunter die Konturierung von Buchstaben durch Linienverdoppelung.

Die Gewandsauminschriften auf dem vorliegenden Retabel sind überwiegend (teilweise verkürzte) Bibelzitate, die entweder einen Bezug zu dem jeweiligen Apostel (D2, G2, I3, K2, O2) oder zu den Aposteln insgesamt aufweisen (F2/N2, H2); zum großen Teil gehörten sie als Antiphonen zu den im Gottesdienst gesungenen Texten. Die anderen zitieren – wie die Gewandsauminschriften in Diemarden – Gebete (A1, C2, E2, I2, L2, M2). Sie erfüllen damit den Zweck, dem auf den Retabeln in bzw. aus Reinhausen, Geismar, Hetjershausen und St. Marien in Göttingen die Rahmeninschriften dienten.32)

Textkritischer Apparat

  1. [.]MS] Oberhalb der rechten Hand des Petrus; im Bibelzitat (vgl. Anm. 9) überflüssig. Möglicherweise als Verdoppelung zu [A]M(A)S zu ergänzen; dieses Verb ersetzt diligis in der dritten Wiederholung der Frage durch Jesus (Io. 21,17).
  2. (A)G[N]OS] N zu V verrestauriert; das A war nicht ausgeführt.
  3. M(E)//[O]S] M unterhalb des Kragens auf dem (vom Betrachter aus gesehen) rechten Mantelsaum; nach der Unterbrechung durch das Buch in der linken Hand des Petrus folgt heute AS. Nach dem anschließenden Hochpunkt der Anfang der Inschrift.
  4. (mai)or] Befund: a, danach or hochgestellt. Die Unterscheidung der beiden Apostel mit Namen Jakob durch die Buchstaben a und b (vgl. Anm. m), jeweils mit hochgestelltem or, findet sich auch auf dem Retabel in Reinhausen von 1498; auf dem sicher von Kastrop stammenden Retabel in Hetjershausen von 1509 ist nur der jüngere Jakob durch bor unterschieden; vgl. DI 66 (Lkr. Göttingen), Nr. 82 u. 116 (or in beiden Fällen nicht ediert, aber auf Fotos in der Inschriftenarbeitsstelle deutlich zu erkennen).
  5. Mithoff nennt als einzige Inschrift S. PHILIPP. ORA PRO NOBIS; vermutlich hat er bzw. sein Gewährsmann den Apostelnamen der Inschrift I2 oder O2 falsch gelesen.
  6. T[ERR]AM] Befund: T[. . N]AM, A ohne Balken, N fehlrestauriert.
  7. EV[M]] Befund: EVH, H fehlrestauriert aus byzantinischem M. Ein byzantinisches M mit nach unten ausgebuchteten Mittelbalken erhalten in EORVM (H2).
  8. DO[M]I/N(VS)] Befund: DOHIN, H fehlrestauriert aus byzantinischem M.
  9. S[APIENTIE]] Die unteren Bestandteile der Buchstaben sind ausgeführt und ansatzweise zuzuordnen.
  10. [ET INTEL…]] Die unteren Bestandteile der Buchstaben sind ausgeführt und ansatzweise zuzuordnen.
  11. VIXVRAM] Statt FIXVRAM.
  12. [NON CREDAM]] Die unteren Bestandteile der Buchstaben sind ausgeführt und ansatzweise zuzuordnen.
  13. (min)or] Befund: b, danach or hochgestellt; vgl. Anm. d.
  14. D(OMI)[NI]] Befund DE[I], E fehlrestauriert.

Anmerkungen

  1. 1558 befahlen die herzoglichen Räte in Herzberg nach dem Einsturz der Kirche dem Osteroder Rat, die beweglichen Güter derselben zu inventarisieren; Max, Grubenhagen, Bd. 2, S. 199; danach Mithoff, Kdm. Göttingen und Grubenhagen, S. 173. Wendt hat den Einsturz in das Jahr 1554 gelegt, in dem der Pfarrer an St. Marien, Dietrich von Einem, seine Pfarrei verließ, da die Bürger ihm Zinszahlungen verweigerten und die Kirche baufällig war; Wendt, Geschichte, S. 252 u. 256. Danach Martins, Bau- und Kunstgeschichte, S. 80. Eine Beschädigung des Retabels beim Einsturz vermutet, ohne Quellengrundlage, Gmelin, Tafelmalerei, S. 586.
  2. Voraussetzung war die Klärung von Besitzstreitigkeiten mit der Familie von Berckefeldt, um die Bezahlung eines Pfarrers und des Wiederaufbaus zu sichern; vgl. Wendt, Geschichte, S. 251f. u. 257–260; Müller, Kirchen und Klöster, S. 58–60; Leuschner, Osterode in der Frühneuzeit, S. 232f. Bereits 1659 erhielt St. Aegidien eine neue Kanzel und 1660 ein neues, barockes Retabel von Andreas Gröber; Wendt, Geschichte, S. 226; Meyer, Verzeichnis, S. 58. Martins, Bau- und Kunstgeschichte, S. 77 (bei dem der Schnitzer „Andreas Duder“ heißt).
  3. Vgl. Martins, Bau- und Kunstgeschichte, S. 82. Die Integration in den Kanzelaltar im Zusammenhang mit der Aufstellung in St. Marien 1659 nehmen an: Uta Herrmann und Ingrid Kreckmann, in: 750 Jahre Sankt Marien, S. 24 u. 17.
  4. Vgl. die Aufnahme von 1927/28 in der Fotokartei des NLD Hannover (D 4758,2), auch: https://www.bildindex.de/document/obj20687556 (27.04.2017); abgebildet in 750 Jahre Sankt Marien, S. 24. Im NLD auch ein Foto von 1926 (No 1617,1) mit allen fünf Figuren des Mittelschreins, offenbar für das Foto auf den Altar vor die Kanzel platziert; auch: www.bildindex.de/document/obj20687556? medium=mi08558d05 (27.04.2017).
  5. Martins, Bau- und Kunstgeschichte, S. 81; mit Abb. des erneuerten Zustandes. Gmelin, Tafelmalerei, S. 586.
  6. Jesus und die Jünger werden, einem um 1600 angefertigten Stich des Hieronymus Wierix folgend, liegend dargestellt; vgl. Oertel, Abendmahlsbilder, S. 154–156.
  7. Schluss des „Salve Regina“, verkürzt aus: O clemens o pia o dulcis virgo Maria.
  8. Nach Lc. 1,46–50: (MAGNIFICA)T · A(N)I(M)A · MEA · DOM[I](NUM) et exsultavit spiritus meus in Deo salutari meo quia RESPEXIT · HVMILITATEM ANCILLE · SVE · ECCE · EN(IM) ex hoc beatam me dicent omnes generationes QVIA · FECIT · MICHI · MAGN[A] qui potens est et sanctum nomen eius et misericordia eius in progenies et progenies TIM[E](NTIBUS) eum. Der Anfang des Magnificat fand auch als Antiphon Verwendung: Magnificat anima mea dominum, quia respexit Deus humilitatem meam; vgl. Corpus antiphonalium officii, Bd. 3, S. 324, Nr. 3669.
  9. Aus Io. 21,16: dicit ei iterum Simon Iohannis diligis me ait illi etiam Domine tu scis quia amo te dicit ei pasce agnos meos. Frage und Antwort dreimal hintereinander (Io. 21,15–17) mit minimalen Variationen. pasce agnos meos wird dem Apostel Petrus auch zugeordnet im Rahmen eines Apostelzyklus aus dem 13. Jahrhundert im Martinsstift in Worms; vgl. DI 29 (Stadt Worms), Nr. 36.
  10. Antiphon nach Mt. 19,28: Vos qui secuti estis me sedebitis super sedes judicantes duodecim tribus Israel dicit dominus; gesungen am Fest Pauli, Allerheiligen und zum Gedächtnis der Apostel; vgl. Corpus antiphonalium officii, Bd. 3, S. 548, Nr. 5502. In St. Nikolai in Lemgo im Rahmen eines Apostelzyklus aus dem 15. Jahrhundert Christus zugeordnet; vgl. DI 59 (Stadt Lemgo), Nr. 10.
  11. Aus Io. 14,9–10: dicit ei Iesus tanto tempore vobiscum sum et non cognovistis me PHILIPPE · QVI · VID(IT) me vidit et Patrem quomodo tu dicis OSTENDE nobis Patrem NON · CREDIS · QVIA · EGO · IN Patre et Pater in me est.
  12. Ps. 18,5: in omnem terram exivit sonus eorum et in fines orbis terrae verba eorum. Antiphon (Responsio) an Festtagen der Apostel; vgl. Corpus antiphonalium officii, Bd. 4, S. 232, Nr. 6919.
  13. Gebetsruf der Allerheiligenlitanei. Vgl. Corpus antiphonalium officii, Bd. 3, S. 387, Nr. 4169.
  14. Aus Mt. 9,9: Iesus vidit hominem sedentem in teloneo Mattheum nomine et ait illi sequere me et surgens secutus est eum.
  15. In medio ecclesiae aperuit os eius, et implevit eum dominus spiritu sapientiae et intellectus; Antiphon (nach Sir. 15,5) am Fest des Johannes Evangelista, der traditionell mit dem Apostel gleichgesetzt wurde; vgl. Corpus antiphonalium officii, Bd. 3, S. 275, Nr. 3255.
  16. Nach Io. 20,25: nisi videro in manibus eius figuram clavorum et mittam digitum meum in locum clavorum et mittam manum meam in latus eius non credam.
  17. Deutschsprachige Form des Gebetsrufs der Allerheiligenlitanei; vgl. Anm. 13. Fast genauso alle Gewandsauminschriften auf dem Retabel in Diemarden; DI 66 (Lkr. Göttingen), Nr. 84.
  18. Antiphon nach Mt. 19,28 (wie Anm. 10).
  19. Nach Act. 1,28: et dederunt sortes eis et cecidit sors super Matthiam et adnumeratus est cum undecim apostolis. Antiphon am Fest des Apostels Matthias; vgl. cantusindex.org/id/206933 (05.04.2017). In der ev. Kirche von Groß-Umstadt in einer um 1470 entstandenen Wandmalerei ebenfalls Matthias zugeordnet; vgl. DI 49 (Darmstadt), Nr. 52.
  20. Incipit des Gloria im Ordo missae, nach Lc. 2,14.
  21. Wendt, Geschichte, S. 256f. Der Vertrag ist auch zitiert in der ebenfalls von Wendt verfassten Osteroder Kirchenchronik; Wendt, Kirchen- und Schul-Acta, Bl. 23v–24r. Vgl. Martins, Bau- und Kunstgeschichte, S. 81; Martins, der Wendt nach einer Abschrift der Osteroder Chronik im Stadtarchiv Hannover zitiert (Hs D 02), gibt den Betrag mit 80 fl. an.
  22. Zu Kastrop vgl. zuerst, aber in vielem überholt: Friedrich Buhmann, Bertold Kastrop, ein Meister der Marien-Altäre in Südniedersachsen, in: Göttinger Blätter für Geschichte und Heimatkunde Südhannovers, N.F. 4. Jg., 1938, S. 16–20. Stuttmann/von der Osten, Bildschnitzerei, S. 96–103. Gmelin, Mittelalterliche Kunst in Göttingen, S. 609–611. Eckhardt, Magdalenenfigur, passim. Middeldorf Kosegarten, Marienretabel, S. 140–145. Girod, Hochaltarretabel, S. 262–264.
  23. Zu den Inschriften vgl. DI 19 (Stadt Göttingen), Nr. 57; DI 66 (Lkr. Göttingen), Nr. 116 (Hetjershausen).
  24. Eine weitere Figur dieses Typs gehört zu einem kleinen Marienretabel aus St. Alexandri in Einbeck (um 1509/10), heute im Landesmuseum Hannover; Stuttmann/von der Osten, Bildschnitzerei, S. 101f. (mit Tafel 97). Gmelin, Tafelmalerei, Nr. 188, S. 573. Eckhardt, Magdalenenfigur, S. 34f., mit Abb. 10–13, S. 36f. DI 42 (Stadt Einbeck), Nr. 39.
  25. Im linken Flügel oben tauschen Andreas und Jakob d. Ä. ihre Plätze gegenüber dem Osteroder Retabel. In Diemarden wurden die Schreinkästen neu gefertigt, so dass die heutige Aufstellung keine Relevanz besitzt.
  26. Vgl. Dürer, Das druckgraphische Werk, Bd. 2, S. 243ff.: Nr. 173 (Verkündigung, B 82), 174 (Heimsuchung, B 84), 175 (Geburt, B 85), 177 (Anbetung der Könige, B 87). Vgl. dazu bereits Gmelin, Tafelmalerei, Nr. 194, S. 585f. (Osterode, St. Marien); ebd., Nr. 195, S. 587f.; Gmelin, Mittelalterliche Kunst in Göttingen, S. 611–613.
  27. Zu dem Retabel aus Geismar (heute im Städtischen Museum in Göttingen) vgl. Middeldorf Kosegarten, Marienretabel, S. 138–161 (mit Tafel 39 u. 40); zu dem Retabel in St. Marien (Göttingen) vgl. Girod, Hochaltarretabel, S. 258–282 (mit Tafel 60–71). Zu den Inschriften siehe: DI 19 (Stadt Göttingen), Nr. 57 (Geismar) u. 87. Zur Malerei vgl. Gmelin, Tafelmalerei, Nr. 174, S. 516–518 (Geismar); Nr. 196, S. 588–598.
  28. Vgl. DI 66 (Lkr. Göttingen), Nr. 82. Zur Malerei vgl. Gmelin, Tafelmalerei, Nr. 179, S. 534–538.
  29. Zu den Figuren der Maria Magdalena in Hetjershausen, Osterode und im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe (erworben 1979) vgl. Eckhardt, Magdalenenfigur, bes. S. 35 u. 38–40.
  30. Zur Ausführung der Apostelfiguren vgl. bes. Eckhardt, Magdalenenfigur, S. 34f. (mit Abb. 6–9).
  31. In Osterode ist nur der Griff der Säge bei Judas Thaddäus erhalten. Die übliche Verteilung der Attribute findet sich bei den Figuren in Diemarden sowie St. Marien in Göttingen.
  32. Vgl. Wulf, Inschriften der Göttinger Altarretabel, S. 285f.

Nachweise

  1. Mithoff, Kdm. Göttingen und Grubenhagen, S. 173 (nur eine Teilinschrift; vgl. Anm. e).

Zitierhinweis:
DI 105, Osterode, Nr. 39 (Jörg H. Lampe), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di105g021k0003902.