Inschriftenkatalog: Stadt Osnabrück

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 26: Stadt Osnabrück (1988)

Nr. 94 Dom 1515

Beschreibung

Ölberggemälde im Chorumgang. Leinwand auf Eiche. Auf dem Bild ist in drei Szenen der betende Christus jeweils mit Spruchband dargestellt: Zunächst ganz links hinter einem Hügel drei schlafende Jünger, daneben der kniende, mit erhobenem Haupt betende Christus (A). Zu seinen Füßen ein Spruchband mit lateinischem Text (B). In der Mitte unter einem Fels, auf dem ein Kelch steht, der in sich zusammengesunkene Christus im Gebet (C), rechts im Vordergrund Christus in der demütigen Haltung der Proskynesis (D), dahinter kommt Judas mit den Häschern durch die Gartenpforte. Alle drei Christusgestalten sind mit Tropfen von Blutschweiß bedeckt. Darauf bezieht sich das Spruchband (E), das ein Engel in der oberen rechten Ecke hält. Den Hintergrund des ganzen Gemäldes nimmt die am Meer liegende Stadt Jerusalem ein. Auf einem Hügel rechts über dem Kopf der zweiten Christusfigur läßt sich schwach eine bei der letzten Restaurierung hervorgetretene Jahreszahl (F) erkennen.

Maße: H.: 203 cm; B.: 320 cm; Bu.: 3 cm (A, C, D, E), 4 cm (B), 2,5 cm (F).

Schriftart(en): Gotische Minuskel (A, C, D, E), humanistische Minuskel (B).

Sabine Wehking [1/1]

  1. A

    In angestlyke(n) lyden ·rop ick vader tho dy ·desse pyne tho vormyden ·mach et syn so vorhore my1) ·

  2. B

    Tristis est anima mea vsq(ue) ad mortem, mortem autem crucis.2)

  3. C

    In beve(n) un(de) in vruchthe(n) ·se ick dat grothe lyde(n) ·vader tho dy is my(n) sugthe(n)3) ·vorhor my in dessen tydena) ·

  4. D

    Ickb) gheve myne(n) willen ·vader an dyne hant ·dyne(n) thore(n) tho stille(n) ·dar ick by(n) tho ut ghesant ·

  5. E

    Starke dy du grote her ·dy(n) swarec) not is um(m)er4) ·svethe(n)d) vat(er)e)5) un(de) blot ·is meref) pine dan de dot ·

  6. F

    1515

Übersetzung:

Meine Seele ist betrübt bis an den Tod, den Kreuzestod. (B)

Kommentar

Die Spruchbänder beginnen mit roten Initialen. Die Schrift ist kunstvoll ausgeführt. Die gotischen Minuskelbuchstaben weisen als Verzierungen gespaltene Hasten und Schleifen auf. Das i ist bis weit unter die Zeile gezogen.

In der älteren Literatur wurde immer wieder der geringe künstlerische Wert des Gemäldes betont6). Ernst Fritz7) machte auf die Besonderheit dieses Bildes aufmerksam. Sie besteht in dem hier festgehaltenen szenischen Ablauf, der in dieser Weise, zumal für das 15. und 16. Jahrhundert ungewöhnlich ist. Gebräuchlich sind zwei- oder mehrszenige Darstellungen im frühen Mittelalter. Seit dem 14. Jahrhundert kommt das Ölbergthema in der abendländischen Kunst indessen nur noch in einszeniger Form vor8). Die Ausnahmestellung des Osnabrücker Bildes erklärt sich aus dem engen Zusammenhang zwischen dem Ölberggemälde und dem geistlichen Schauspiel seiner Zeit. Die Intention des Malers dürfte es gewesen sein, den Ablauf einer Passionsspielszene im Bild festzuhalten. Charakteristisch für das geistliche Schauspiel ist eine Verbindung von volkssprachigen und lateinischen Elementen. Lateinische Bibelzitate dienen dort gleichsam als Überschrift des volkssprachigen Textes. Dieselbe Funktion übernimmt das lateinische Spruchband (B) am linken unteren Bildrand, das sich auch durch die Ausführung in humanistischer Minuskel von den niederdeutschen Inschriften in gotischer Minuskel unterscheidet. Der lateinische Vers Mt. 26,38 gehört zum festen Bestandteil der Ölbergszene im geistlichen Schauspiel9). Fritz hat darauf hingewiesen, daß der Maler durch das in der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts im Kloster Gertrudenberg von einer Konventualin aufgezeichnete Osterspiel angeregt worden sein könnte10). Bei der großen Anzahl und Verbreitung geistlicher Schauspiele im Mittelalter und in der frühen Neuzeit kann der entscheidende Impuls jedoch wohl kaum einem bestimmten Schauspiel zugeschrieben werden, solange man keine Textparallelen nachweisen kann. Der Tatbestand, daß die deutschsprachigen geistlichen Spiele nahezu ausnahmslos in Reimpaarversen verfaßt sind11), in den Versen der Spruchbänder aber Kreuzreim vorherrscht, läßt eine direkte Übernahme der Verse aus einem Schauspiel als zweifelhaft erscheinen.

Textkritischer Apparat

  1. tyden] lyden Siebern/Fink, Gmelin.
  2. Ick] Ich Siebern/Fink.
  3. dy sware] de(n) livare Siebern/Fink, dy livare Gmelin.
  4. svethe(n)] stithe(n) Siebern/Fink.
  5. vat(er)] var Gmelin.
  6. mere] Die Buchstaben sind in ihrem unteren Teil durch den Arm des Engels verdeckt.

Anmerkungen

  1. Erhöre mich.
  2. Mt. 26,38.
  3. Seufzen.
  4. Sic! Gemeint ist wohl umme = vorbei.
  5. v kann anlautend für w stehen. Dazu Lasch, S. 151, § 291.
  6. Vgl. u. a. Berlage, Kirchliche Alterthümer, S. 354, u. Siebern/Fink, S. 56.
  7. Rolf Fritz, Das Ölberggemälde im Dom zu Osnabrück, in: Westfalen 21, 1936, S. 72–76.
  8. LCI 3, Art. „Ölberg“, Sp. 347.
  9. Vgl. u. a.: Das mittelalterliche Passionsspiel der St. Galler Handschrift 919, hg. v. Rudolf Schützeichel, Tübingen 1978; Heidelberger Passionsspiel, hg. v. G. Milchsack, Tübingen 1880, S. 167; Egerer Fronleichnamsspiel, hg. v. G. Milchsack, Tübingen 1881, S. 155f.
  10. Fritz (wie Anm. 7) benennt das Osterspiel irrtümlich als Passionsspiel. Zu der Definition vgl. Rolf Bergmann, Studien zu Entstehung und Geschichte der deutschen Passionsspiele im 13. und 14. Jahrhundert, München 1972, S. 11. Bergmann behandelt auch ein in Osnabrück aufgefundenes Passionsspiel des 13. Jahrhunderts, S. 57–61. Die beiden Osnabrücker Spiele liegen gedruckt vor: Das Osnabrücker Passionsspiel, hg. v. Ludwig Wolff, in: NdJb 82, 1959, S. 87–98, Das mittelniederdeutsche Osnabrücker Osterspiel, hg. v. Hans Hermann Breuer, Beiträge zur Geschichte und Kulturgeschichte des Bistums Osnabrück, T. 1, Osnabrück 1939.
  11. Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 4, Berlin 1979, S. 69.

Nachweise

  1. Siebern/Fink, S. 56.
  2. Fritz (wie Anm. 7), S. 72.
  3. Gmelin, S. 243, Abb. ebd.

Zitierhinweis:
DI 26, Stadt Osnabrück, Nr. 94 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di026g003k0009405.