Inschriftenkatalog: Odenwaldkreis

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 63: Odenwaldkreis (2005)

Nr. 87 Beerfelden, Evangelische Kirche 1500 – 1503?

Beschreibung

Titulus einer Kreuzigungsdarstellung auf einem 12 Felder umfassenden Fenster, das sich ursprünglich im Chor der Kirche befand und heute in das Mittelfenster der mittleren Fensterreihe an der Ostseite der neuen Kirche eingebaut ist, die 1820 vollendet wurde. In der Bildmitte ist der Gekreuzigte zu sehen, zu dessen Seiten zwei Engel schweben, die das Blut aus den Handwunden und aus der Seitenwunde in Kelchen auffangen. Am Kreuzesstamm steht ein weiterer Engel, der das aus der Fußwunde tropfende Blut in einem Kelch auffängt. Links und rechts vom Kreuz stehen Maria und Johannes. Oben am Kreuz ist ein Spruchband befestigt, auf dem sich der Titulus befindet. Als Worttrenner dienen Quadrangel mit paragraphzeichenförmig ausgezogenen Zierstrichen. Der Hintergrund des Bildes ist mit reichem Rankendekor geschmückt. Das Fenster wurde im Jahr 1900 restauriert.1)

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis.

Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Brunhild Rittereiser) [1/2]

  1. · I(ESVS) · N(AZARENVS) · R(EX) · I(VDEORVM)2) ·

Kommentar

Das I ist jeweils mit einem Nodus gebildet, das N besitzt einen sehr dünnen, in der Mitte ausgebuchteten retrograden Schrägschaft, und das R trägt eine geschwungene, einwärts gekrümmte Cauda. Die Buchstaben zeigen damit Merkmale der frühhumanistischen Kapitalis, wobei das R von den Formen der gotischen Majuskel geprägt ist.3) Gerade die Einflüsse der gotischen Majuskel verschwinden aber nach etwa 1510 aus der frühhumanistischen Kapitalis.4)

Die Baugeschichte der Kirche legt es nahe, das Fenster bald nach 1500 anzusetzen. Die Kirche wurde 1500 begonnen und wohl spätestens 1503 fertiggestellt, da zwei aus der Kirche stammende Wappenscheiben das Wappen des 1503 verstorbenen Erasmus Schenk von Erbach sowie seiner Frau Elisabeth von Werdenberg († 1537) zeigen. Die Inschrift der zweiten Scheibe weist die Jahreszahl 1500 auf und bezeichnet Elisabeth als ehlig hauszfrauw des Erasmus.5) Sie muß also noch zu Lebzeiten des Erasmus gefertigt worden sein, da Elisabeth bereits 1504 Philipp I. Echter von Mespelbrunn heiratete.6) Von kunsthistorischer Seite wird das Kreuzigungsfenster aus stilistischen Gründen teils in die Zeit unmittelbar nach der Vollendung des Kirchenbaus7) und teils in die Zeit um 1510 gesetzt.8)

Der Grundstein für den Neubau der Beerfeldener Kirche wurde 1500 auf Veranlassung des damaligen Pfarrers und Heidelberger Theologieprofessors Andreas Pfot gelegt, der sich auch finanziell an dem Bau beteiligte.9) Ob er auch als Stifter des Fensters in Anspruch genommen werden kann, ist zweifelhaft, da im Zinsregister der Beerfeldener Kirche, in dem seine Zuwendungen und Stiftungen detailliert aufgeführt sind, von Zahlungen für ein Fenster nichts erwähnt ist.10)

Das Fenster erregte im 19. Jahrhundert öffentliches Aufsehen, als Graf Franz von Erbach-Erbach es im Jahre 1804 aus dem Chor der Kirche herausnehmen und in das Erbacher Schloß bringen ließ. Es kam zu gewalttätigen Protesten, und die Gemeinde führte einen Prozeß gegen den Grafen, den sie schließlich jedoch verlor. Durch seine Überführung nach Erbach entging das Fenster aber dem Brand, der 1810 die gesamte Kirche zerstörte. Im Jahr 1848 kehrte das Fenster dann nach Beerfelden zurück.11)

Anmerkungen

  1. Hassia sacra VIII 66.
  2. Nach Joh 19,19.
  3. Vergleichbare Formen des R finden sich in der Kiedricher „Gerechtigkeitsspirale“, vgl. DI 43 (Rheingau-Taunus-Kreis) Nr. 349 mit Abb. 117 sowie dort den Kommentar zu gotischen Einflüssen in der frühhumanistischen Kapitalis; vgl. dazu vor allem auch Fuchs, Übergangsschriften 331 – 336.
  4. Fuchs, Übergangsschriften 335.
  5. Vgl. dazu Nr. 72 und Nr. 73; Erasmus hatte das Patronat der Beerfeldener Kirche inne.
  6. Europ. Stammtafeln NF XII, Taf. 51.
  7. Schaefer 5 f.; Hotz, Odenwald 63; Hotz, Spätgotik 62.
  8. Dehio, Hessen 71; Kiesow 190; Teubner/Bonin, Kulturdenkmäler 108.
  9. Vgl. Nr. 72.
  10. Klauser, Zinsregister 344 – 346.
  11. Schaefer 6; Hassia sacra VIII 64 – 66; Hess, Modespiel 246.

Nachweise

  1. Schaefer, Kdm. 7, Abb. 1.
  2. Hotz, Odenwald, Abb. 121.
  3. Hotz, Spätgotik 64, Abb.
  4. Kiesow, Gotik 189, Abb.

Zitierhinweis:
DI 63, Odenwaldkreis, Nr. 87 (Sebastian Scholz), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di063mz09k0008708.