Inschriftenkatalog: Stadt Minden

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 46: Stadt Minden (1997)

Nr. 46 Staatliche Museen Berlin, Skulpturensammlung um 1425

Beschreibung

Altarretabel.1) Eichenholz mit Resten der ehemaligen farbigen Fassung. Das Retabel hatte ursprünglich wohl die Funktion eines Hochaltarretabels im Mindener Dom.2) Im 17. Jahrhundert wurde ein Renaissancealtar aus Alabaster und Marmor als Hochaltar errichtet und der Marienaltar möglicherweise umgesetzt. Im 19. Jahrhundert wurde er „aus dem Schutt hervorgezogen“3) und in einer Ecke der Turmhalle aufgestellt.4) Zu Beginn der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts wurde in der Bildhauerwerkstatt Mormann in Wiedenbrück eine Kopie des Mindener Altars für die Kirche St. Johannes Baptist in Herford angefertigt, die dort seither als Hochaltar dient.5) Ende der 90er Jahre entschloß sich der Kirchenvorstand des Domes, den Marienaltar in der Werkstatt Mormann restaurieren zu lassen. Dieser Plan wurde zunächst von dem Provinzialkonservator Albert Ludorff befürwortet, der sich aber nach Beginn der Maßnahme in Wiedenbrück dafür aussprach, im Mindener Dom lediglich eine Replik aufzustellen und das Original den Beständen des Provinzialmuseums in Münster einzugliedern.6) Als der Kirchenvorstand gegen diesen Plan protestierte und das Original zurückverlangte, ließ Ludorff die Restaurierungsmaßnahmen im Frühjahr 1901 bis auf weiteres einstellen. Im Dezember 1902 wurde die Verfügung des Provinzialkonservators zwar durch die preußische Regierung aufgehoben, inzwischen hatte sich jedoch die allgemeine Gesetzeslage für die Übernahme von Renovierungskosten in Kirchen dahingehend geändert, daß der Staat nicht mehr alle Kosten aus dem Patronatsbaufonds bestritt, sondern nur noch ein Drittel. Da sich der Kirchenvorstand des Domes nicht in der Lage sah, zwei Drittel der Kosten zu tragen, wurden die Arbeiten in Wiedenbrück endgültig eingestellt und der Altar im Jahr 1904 wieder in den Mindener Dom zurückgebracht.7) Da man ihn nicht in den für eine angemessene Präsentation notwendigen Zustand versetzen konnte, wurde der Marienaltar im Jahr 1909 zusammen mit einer älteren Predella auf Betreiben Bodes an das Kaiser-Friedrich-Museum in Berlin verkauft.8) Seither befindet sich der Altar in Berlin. Zur Zeit der Bearbeitung wurde das Retabel dort einer grundlegenden Restaurierung unterzogen.

Im Mittelpunkt des geschnitzten Flügelretabels steht eine Marienkrönung. Die sitzenden Figuren des Christus und der Maria sind von einer kreisförmigen Gloriole umgeben, die in acht Felder mit jeweils vier in Halbfigur dargestellten musizierenden Engeln unterteilt ist. Unten in der Mitte unter einem Baldachin, der den Sockel für die Christus- und die Marienfigur bildet, sechs musizierende Engel. Im Mittelteil des Altars neben der Gloriole beidseitig je zwei Apostelfiguren, in den Außenflügeln je vier weitere Apostelfiguren, alle unter gotischen Maßwerkbaldachinen. Unterhalb der Figuren verläuft – unterbrochen von der Gloriole – über die Flügel und den Mittelteil ein durchbrochener Medaillonfries, der in 14 kreisförmigen Medaillons mit eingestellten Vierpässen Halbfiguren biblischer Personen zeigt, die ursprünglich alle durch Namensbeischriften oben in der Einfassung des Medaillons und durch Inschriften auf den von ihnen gehaltenen Spruchbändern ausgewiesen waren. Aufgrund des weitgehenden Verlustes der Farbfassung lassen sich heute nur noch fünf Figuren im Mittelteil des Retabels aufgrund ihrer Namensbeischriften identifizieren (A). Die Inschriften der Spruchbänder sind vollkommen zerstört, lediglich die Spruchbänder des Salomo und des Philon von Alexandria weisen noch Reste von Inschriften auf, die jedoch nur noch in Andeutungen weniger nicht sicher zu lesender Buchstaben bestehen. Die Darstellung der Figuren steht in gewissem Widerspruch zu den Namensbeischriften, da der König Salomo lediglich einen Hut trägt, der jüdische Philosoph Philon von Alexandria jedoch eine Krone.

Über die vergoldeten Rahmenleisten des Mittelteils und der Seitenflügel verliefen Inschriften, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts nur noch fragmentarisch vorhanden waren (linker Seitenflügel B, Mittelteil C, rechter Seitenflügel D), deren Text jedoch den Inschriften auf der Herforder Replik entspricht und mit deren Hilfe ergänzt werden kann. Eine von Ludorff im Jahr 1895 aufgenommene Photographie zeigt, daß die Inschriften des Retabels zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend zerstört waren.9) Die Inschriften befinden sich auf einem Leinenuntergrund, auf den eine Kreidegrundierung und eine rote Bolusschicht sowie die Vergoldung aufgetragen ist. Die Buchstaben heben sich glatt von dem punzierten Hintergrund der Schriftleisten ab. Die Inschriften beginnen jeweils in der linken unteren Ecke; die Inschriften der unteren Rahmenleisten im Anschluß an die linken Rahmenleisten ebenfalls jeweils in der unteren linken Ecke. Die Worttrenner sind in Form auf die Spitze gestellter Quadrangeln gestaltet.

Maße: H.: 179 cm; B.: 551 cm (geöffnet); Bu.: 1,3 cm (A), 6 cm (B–D).

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien.

Sabine Wehking [1/11]

  1. A

    · osee · // · amos // · Salomon · // · philon · // Soponias

  2. B

    [ . . . ]usti · iudi[ . . . ]camur · / [...]diuma) · audite · p(re)ces supplicu(m)10) · Qui · celu(m) · verbo / [....]ditis · serasq(ue) ei(us) · soluit[is] no[ . . . ]11) / [ . . .]12)

  3. C

    [....] maria · gemma · pudicic[ . . . ] / [..]lue · pia · mater · [..]istian[ . . .]s · ad · filium · regem · ac[ . . . / . . . ]es · (et)b) · mater · benigna · orphano[./ . . . ]ru[.......]tes · et · conciu[.]s · tu[.]13)

  4. D

    [.......]uor · hi · pro[.....] in · plagi[.......] quatuor [.....]eli[.../...] trinum · et · vnum · Jn · omne(m) · terram · exiuit · son(us) / [...] · Et · in · fines · orbis · terr[ . . . / . . . ]14)

Übersetzung:

(Ihr) gerechten Richter (der Zeit und wahren Lichter der Welt, wir bitten euch durch Gebete,) hört die Bitten der flehenden Herzen. Die ihr den Himmel durch das Wort aufschließt und seine Riegel löst, erlöst uns (von allen Sünden, die wir weinend bitten. Du entsendest diese Geeignetsten in alle Welt.) (B)15) (Sei gegrüßt,) Maria, du Gemme der Keuschheit (und Gerechtigkeit, durch die du der Welt bekannt bist.) Sei gegrüßt, fromme Mutter der Christenheit. (Eile deinen herbeilaufenden Dienern) bei dem königlichen Sohn (zu Hilfe. Sei gegrüßt, Königin, Hoffnung der Apostel) und gütige Mutter der Waisen. (Du bist würdig, Königin des Himmels genannt zu werden. Es freuen sich die Chöre der Engel, deine Gefährten und) Mitbürger. (C) Diese (drei mal vier vornehmsten Prediger des Evangeliums in) vier Landstrichen (der Erde,) dreifach und eins. In die ganze Welt geht (ihre) Stimme aus, bis zu den Grenzen des Erdkreises (ihr Wort. Jene sind die heiligen Männer, die die Kirche mit ihrem Blut pflanzen.) (D)

Kommentar

Die Inschriften B–D auf den Rahmenleisten des Altars sind in einer sehr regelmäßig gestalteten gotischen Minuskel mit nur wenigen Kürzungen ausgeführt. Die Schrift erinnert im allgemeinen Erscheinungsbild und in einzelnen Zierformen an Inschriften auf Goldschmiedearbeiten, deren Buchstaben sich ebenfalls glatt von dem aufgerauhten Hintergrund abheben. Besonders auffällig ist das im erhaltenen Teil zweimal auftretende g, das aus zwei unten nach rechts umgebrochenen Hasten gebildet ist, von deren unteren Spitzen zwei parallele, gerade nach unten links verlaufende Linien ausgehen.

Textkritischer Apparat

  1. [...]dium] Es sind nur noch die unteren Teile der Hasten zu erkennen.
  2. Vermutlich tironisches et. Erkennbar ist nur noch der untere Teil eines durchstrichenen Schaftes.

Anmerkungen

  1. Inv. Nr. 5863.
  2. Nachforschungen über die ehemalige Aufstellung des Altars, die anläßlich der geplanten Restaurierung Ende des 19. Jahrhunderts angestellt wurden, blieben ergebnislos. Vgl. StA Detmold, M1 II A, Nr. 2073.
  3. Ebd.
  4. Ebd., Nr. 2071.
  5. Die intensive Suche nach Akten zu diesem Vorgang in den einschlägigen Archiven blieb ergebnislos. Daher ließ sich nicht ermitteln, ob der Altar zu diesem Zweck nach Wiedenbrück geschickt wurde. Besonders eigenartig ist der Umstand, daß von der Anfertigung und Existenz der Replik in der Herforder Kirche in der Akte des Staatsarchivs Detmold (M1 II A, Nr. 2073), die sich ab 1898 ausführlich mit der geplanten Restaurierung des Altars und der Anfertigung einer weiteren Replik in derselben Werkstatt befaßt, mit keinem Wort die Rede ist.
  6. Daß dies eine von Ludorff häufiger praktizierte Methode zur Erweiterung der Bestände des Provinzialmuseums war, zeigen verschiedene Schreiben in der Akte StA Detmold, M1 II A, Nr. 2073.
  7. Zahlreiche Schreiben zu diesen Vorgängen ebd.
  8. Zu diesem Vorgang ausführlich: Frank Matthias Kammel, Von Minden nach Berlin, Zur Erwerbung des Mindener Retabels für die Berliner Museen. In: Krohm/Suckale, Goldene Tafel, S. 106–110.
  9. Vgl. Ludorff, Kunstdenkmäler, Tafel 23. Die in Krohm/Suckale, Goldene Tafel, S. 74, geäußerte Vermutung, die Inschriften des Altars seien zu diesem Zeitpunkt noch weitgehend vorhanden gewesen, so daß man die Inschriften auf der Herforder Replik habe ausführen können, widerlegt die Abbildung eindeutig. Auch wenn zum damaligen Zeitpunkt noch mehr Inschriftenbestandteile erhalten waren als heute, bleibt es angesichts der Ludolffschen Aufnahme von 1895 rätselhaft, wie man imstande sein konnte, den nur abgelegen überlieferten Hymnentext des Mittelteils für die Replik zu ergänzen. Im Archiv der Pfarrkirche St. Johannes Baptist in Herford (A 0056) befindet sich jedoch eine Aufzeichnung der vollständigen Hymnentexte, die der Anfertigung der Inschriften für die Replik als Vorbild gedient haben dürfte. Leider fehlt jede Angabe über den Verfasser und den Adressaten des Schreibens und somit auch über dessen Quelle. Die bei Krohm/Suckale, Goldene Tafel, S. 148, getroffene Feststellung, daß die Inschriften der Replik von dem Original in einzelnen Textpassagen abweichen, ist falsch. Vielmehr entsprechen die Inschriften des Herforder Hochaltars bis auf die hier aufgelösten Kürzungen exakt dem Original, soweit sich dies noch feststellen läßt.
  10. Hymnus am Tag ‚In natali Apostolorum’: „Exsultet coelum laudibus“, Strophe 3, Analecta hymnica, Bd. 2, S. 74, u. Bd. 51, S. 125. Der Hymnus findet sich auch im hinteren Teil des Nekrologs von St. Mauritii, StA Münster, Msc. VII, Nr. 2718, fol. 104v.
  11. Wie Anm. 10, Strophe 2.
  12. Die Version auf der Herforder Replik des Altars lautet: Vos secli justi judices et vera mundi lumina votis precamur / cordium audite preces supplicum * Qui caelum verbo / clauditis serasque ejus solvitis nos a peccatis omnibus solvite flentes quaesumus / Constitues eos principes super omnem terram. Der letzte Teil der Inschrift ist im Breviarium monasticum als Responsio ‚In Natali Apostolorum’ nachzuweisen.
  13. Die Version auf der Herforder Replik des Altars lautet: Salve maria gemma pudiciciae de qua mundi illustris et justitiae / salve pia mater christianorum * Saccurre tuis ad filium regem accurentibus famulis / salve regina apostolorum spes et mater benigna orphanorum / regina coelestis vocari digna es * Gaudent chori angelorum consortes et concives tui. Nach Krohm/Suckale, Goldene Tafel, S. 74, ist der Hymnus nur in einem schlesischen Brevier in der Universitätsbibliothek Breslau nachzuweisen. Diese Angabe konnte nicht überprüft werden.
  14. Die Version auf der Herforder Replik des Altars lautet: Ter quatuor hi proceres in plagis terrae quatuor evangelizantes / trinum et unum * In omnem terram exivit sonus / eorum in fines orbis terrae verba eorum * Isti sunt / viri sancti qui plantaverunt ecclesiam sanguine suo. Der erste Teil stammt aus der Sequenz ‚In divisione Apostolorum’ des Gottschalk von Limburg, vgl. Guido Maria Dreves, Ein Jahrtausend lateinischer Hymnendichtung. Bd. 1, Leipzig 1909, S. 189. Bei dem zweiten Teil handelt es sich nach dem Breviarium monasticum um Responsio und Versus am Tag ‚In Natali Apostolorum’, der dritte Teil nach zwei Responsionen ‚In Commune Apostolorum’.
  15. Die Übersetzungen ergänzt nach den Inschriften auf dem Herforder Altar.

Nachweise

  1. Demmler, Bildwerke, S. 35 (B–D, abweichende und unvollständige Lesung).

Zitierhinweis:
DI 46, Stadt Minden, Nr. 46 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di046d003k0004605.