Inschriftenkatalog: Landkreis Hersfeld-Rotenburg

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 91: Hersfeld-Rotenburg (2015)

Nr. 154 Friedewald, Straße nach Hönebach 1561, 1592–1596

Hinweis: Die vorliegende Online-Katalognummer ist im Vergleich zum gedruckten Band mit Ergänzungen und Korrekturen versehen. Sie finden diese am Ende des Artikels. [Dorthin springen]

Beschreibung

Name, Initialen und Jahreszahl auf dem Nadelöhr, das im Wald an der Straße nach Hönebach nahe der Bundesautobahn 4 steht. Das Denkmal besteht aus drei Blöcken aus gelbgrauem, bemoostem Sandstein, von denen zwei so gegeneinandergesetzt sind, daß sie ein kleines Tor bilden, während der dritte Block wie ein Satteldach darüber gelegt worden ist. Namensinschrift und Jahreszahl (A) befinden sich auf dem nördlichen Giebelfeld des „Daches“, die Initialen (B) darunter auf den beiden anderen Blöcken. Die Initialen (C) sind auf der Südseite des Giebels unter einem achtstrahligen Stern eingehauen, und (D) ist darunter auf dem rechten Block angebracht. Der kleine Bau wurde 1894 mutwillig zerstört und kurz darauf wieder aufgebaut.1)

Maße: H. 100, B. 102, Bu. 10,5 (A, C), 7 (B, D) cm.

Schriftart(en): Kapitalis.

© Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Rüdiger Fuchs) [1/6]

  1. A

    NADELÖRa) 1561

  2. B

    HD ZR // IAb)

  3. C

    M(ORITZ) L(ANDGRAF) Z(V) H(ESSEN)

  4. D

    Hb)

Kommentar

Im Jahr 1596 beschrieb der Jurist Paul Hentzner auf einer Reise durch Deutschland das Nadelöhr wie folgt: „Das Nadelöhr ist ein durchbohrter Stein, der an Stelle eines einstigen ausgehöhlten Baumes mitten im Wald, der für die Jagd wegen der Menge der Waldtiere häufig aufgesucht wird, von dem hessischen Landgrafen Moritz an den Weg gesetzt worden ist, durch den die Vorübergehenden des Spaßes und der Plage wegen nach vorne geneigt hindurchzukriechen pflegen.“2) Nach Hentzner war der Stein also ein Ersatz für einen ausgehöhlten Baum, der von Landgraf Moritz von Hessen errichtet wurde und durch den die Menschen zum Spaß hindurchkrochen. Da der Stein die Initialen Landgraf Moritz’ trägt (C), liegt es nahe, ihn als Auftraggeber anzusehen. Das Nadelöhr müßte dann zwischen 1592, als Moritz die Regierung übernahm, und 1596 errichtet worden sein.3) Dagegen spricht aber Inschrift (A), die das Datum 1561 nennt. Helmut Siefert geht deshalb davon aus, daß Inschrift (A) erst später hinzugefügt worden sei, und begründet dies mit der ungelenken Ausführung der Kapitalisbuchstaben.4) Allerdings lassen sich die entsprechenden Buchstabenformen, leicht trapezförmiges A mit Deckbalken, E mit kurzem Mittelbalken und längerem unterem Balken, N mit eingehängtem Schrägschaft und R mit gerader Cauda, ohne weiteres in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nachweisen. Auch die Vermutung bei Dehio, nur die Jahreszahl sei nachgetragen worden,5) vermag nicht zu überzeugen, da die Inschrift links auf dem Giebelfeld beginnt und Buchstaben wie Ziffern gleichmäßig verteilt sind. Hätte man nur das Wort NADELÖR schreiben wollen, hätte es keinen Grund gegeben, ganz links auf dem Feld zu beginnen, sondern das Wort wäre mittig plaziert worden. Zudem bleibt fraglich, welchen Sinn die nachträgliche Anbringung der Inschrift mit einem fiktiven Datum gehabt haben sollte. Möglicherweise entstand das Nadelöhr also schon 1561, wurde aber unter Moritz verändert oder erneuert. Aufgrund der Initialen und wohl auch aufgrund des Berichts Hentzners von 1596 wurde das Denkmal in den folgenden Jahrhunderten stets Moritz als Urheber zugeschrieben.6) Zu dessen Aktivitäten paßt, daß am Ort des Nadelöhrs ein Heiligenstock gestanden haben soll, der mit der wüsten Hammundeskirche in Verbindung stand. Aus zurückgelassenen, eben nicht nach Friedewald transportierten Bauteilen habe man das Nadelöhr, das angeblich 1581 erstmals erwähnt wurde, zusammengesetzt.7) Das heutige Aussehen wird daher auf Landgraf Moritz zurückzuführen sein, der älteres Material einbezog.

Obwohl Hentzner und auch spätere Quellen das Hindurchkriechen durch den Stein als Spaß, Plage oder Hänselbrauch beschreiben, sieht Siefert den ursprünglichen Grund des Hindurchkriechens in einem Reinigungsritual. Da der Stein nach Hentzner einen ausgehöhlten Baum ersetzte, geht Siefert davon aus, daß der ursprüngliche Baum einem Heilritus diente, bei dem kranke Menschen durch künstliche oder natürliche Öffnungen eines Baumes oder anderer Gegenstände hindurchkriechen oder hindurchgezogen werden. Dadurch sollten sie von der Krankheit gereinigt werden.8) Die medizinhistorische Interpretation und die Erneuerung durch den Landgrafen Moritz könnten sich widersprechen, denn dem neuen Landesherrn werden Gelehrsamkeit und alchimistische Experimente nachgesagt, die nicht als Voraussetzungen für Erneuerung von Aberglauben gelten können. Die Erneuerung des Hänselbrauchs hingegen war eine harmlose Sache, die Belustigung und Einnahmen für karitative Zwecke (Opferstock des Hersfelder Waisenhauses von 1747 nahebei) versprachen. Das Nadelöhr, auch Nollenöhr, dessen Name beschwerliches Durchkriechen mit jener berühmten Stelle bei Matthäus (Mk 19,24) assoziiert, gilt demnach vor allem als Verkehrsmal, zumal es als Rastplatz am niedrigsten Übergang zwischen Fulda und Werra diente.9) Es lag unweit der Kreuzung der Flößholzstraße und der Altstraße der „kurzen Hessen“ zwischen Frankfurt und Eisenach und weiter nach Leipzig auf der Etappe zur Werrabrücke in Berka (Wartburgkreis),10) hier der „Oberstraße“, einer der drei Varianten östlich von Hersfeld.11) An markanten Stellen wie Höhenzügen und Flußübergängen legten die Fuhrleute nicht nur Rast ein, sondern pflegten auch besondere Bräuche ihrer „Zunft“. Dazu gehörten diverse Rituale oder Sonderverpflegung wie an der Werra-Brücke von Bad Sooden-Allendorf, wo ein Stein von 1578 an den Brückenbau erinnerte und als Wein- und Zechstein den Transporteuren Stärkung ankündigte. Eine Nachricht im Lager-, Stück- und Steuerbuch des Amtes Friedewald scheint solche Bräuche für das Nadelöhr zu bestätigen, da behauptet wird, alle Kaufleute und Fremden, die erstmals diesen Weg ziehen, müßten durch das Nadelöhr hindurchkriechen (und dann einen Obolus in den Opferstock geben).12) Nach demselben Zeugnis soll Landgraf Moritz I. das Mal allerdings erst im Jahr 1610 aufgerichtet haben.

Textkritischer Apparat

  1. Über dem O ein langer Strich, wohl keine Abkürzung, sondern Anzeige des Umlauts.
  2. Die Initialen konnten nicht aufgelöst werden.

Anmerkungen

  1. Vgl. Schwing und Stingl, Nadelöhr 68.
  2. Hentzner, Itinerarium Germaniae 5: „Nadelöhr est lapis perforatus in locum arboris olim excavatae in media sylva, venationibus ob ferarum sylvestrium copiam frequente, a Mauritio Hassiae Landgravio ad viam positus, per quem praetereuntes ioci et vexationis gratia, proni perrepere solent.“
  3. Siefert 130. Ganz unklar ist die Datierung um 1597 bei Gebauer, Werratal 145.
  4. Siefert 129; ihm folgt Kemp.
  5. Dehio 278 bzw. 251.
  6. Vgl. die Literatursammlung bei Siefert 127 f.
  7. So nach Licht, Nadelöhr.
  8. Siefert 131 f.; ähnlich schon NN., Durchkriechen! Ein altes Heilmittel, in: Mein Heimatland. Zeitschrift für Geschichte, Volks- und Heimatkunde, Beilage der Hersfelder Zeitung 11 (1933/34) 55 f.
  9. Vgl. bei Riebeling.
  10. Vgl. unter anderen Landau, Beiträge; Müller, Alte Straßen; Kellermann/Treue, Lange und kurze Hessen; Eberhardt, Geschichte. Die Funktion als Rastplatz betonte schon Gebauer, Werratal 145.
  11. So Katzmann, Handelsstraße 75.
  12. So nach Brauns 49.

Nachweise

  1. Schwing, Nadelöhr 7 (A tw., C).
  2. Neuhaus, Geschichte Hersfeld 191 (Abb. von C).
  3. Siefert, Nadelöhr 128 f. (A–C) mit Abb. 1 und 2.
  4. Siefert, Unerschöpfliches „Nadelöhr“ 108 (A–C) mit Abb. S. 109, 111.
  5. Riebeling, Historische Verkehrsmale in Hessen 89 f. mit Abb. S. 92.
  6. Dehio, Hessen 278 (C).
  7. Brauns, Nadelöhr 49 (Abb.).
  8. Licht, Nadelöhr (A tw., C).
  9. Kemp, Kulturdenkmäler I 248 mit Abb.
  10. Dehio, Hessen I (2008) 251 (C).
Addenda & Corrigenda (Stand: 13. Oktober 2022):

Hinweis zu Nachweise: Kulturgeschichte: historische Stätten, Denkmaler, vergessene Orte und Museen im Kreis Hersfeld-Rotenburg. hrsg. von Barbara Händler-Lachmann. Bad Hersfeld: Hessisches Institut für Lehrerfortbildung Außenstelle Bad Hersfeld 1995, 131 f. – kritische Rezension von Klaus Sippel, in: ZHG 101 (1996) 241‒252, hier 249.

Zitierhinweis:
DI 91, Hersfeld-Rotenburg, Nr. 154 (Sebastian Scholz und Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di091mz14k0015405.