Inschriftenkatalog: Landkreis Hersfeld-Rotenburg

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 91: Hersfeld-Rotenburg (2015)

Nr. 146† Bad Hersfeld, Stiftskirche/Stiftsruine 1556(?)

Hinweis: Die vorliegende Online-Katalognummer ist im Vergleich zum gedruckten Band mit Ergänzungen und Korrekturen versehen. Sie finden diese am Ende des Artikels. [Dorthin springen]

Beschreibung

Epitaph des Abtes Crato Melles (Kraft Myle), wie die davorliegende Grabplatte (vorangehende Nr.) in der Stiftskirche. Die Inschriften sind auf dem Einzelblatt H 166 a im Hessischen Staatsarchiv Marburg in einer nur wenig jüngeren Handschrift ohne nähere Angaben überliefert.1) In der Handschrift steht zuerst das Grabgedicht (B), dann folgt die Grabinschrift (A). Daraus läßt sich aber nicht auf die Gestalt des Inschriftenträgers schließen. Vielmehr hat die Zeichnung in der Schlegelschen Stiftsgeschichte als maßgeblich zu gelten. Demnach handelte es sich um eine Pilasterädikula, in deren Sockel die traditionelle Grabinschrift (A) stand. Die Nische mit der Figur des Abtes, die in einem von dünnem Rankenwerk begleiteten zierlichen Rundbogen steht, wurde von einem mit Muscheldekor geschmückten Giebel überfangen, der Abt mit Mitra, den Stab senkrecht in der Linken, ein Buch mit der Rechten vor den Körper haltend; das Kaselkreuz war mit einem Kruzifix samt Titulus (C) versehen. Zu Füßen der Figur waren ein Vollwappen (links) und ein Wappenschild eingestellt. Das Gebälk unter dem Muschelgiebel trug das Grabgedicht (B).

Beschreibung und Zitat nach Schlegel.2)

Maße: H. ca. 310 (10 Schuh), B. ca. 125 (4 Schuh) cm.

Schriftart(en): Kapitalis.

© Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz; Forschungsbibliothek Gotha (Thomas G. Tempel (Repro)) [1/1]

  1. A

    ANNO DOMINI M D LVI X DIE MARTY OBYT R(EVEREN)DVS / IN CHR(IST)O PATER AC D(OMI)N(V)S D(OMI)N(V)S CRAFTOa) ABBAS / ECCL(ESI)AE HERSFELDENSIS C(VIVS) A(N)I(M)AE MISERERE / CHR(IST)Eb).

  2. B

    QVAMVIS DIFFICILI SERVARET TEMPORE REGNVMRVSTICA GENS STOLIDE DVM PARAT ARMA CRATO.HAS DVO LVSTRA QVATER TAMEN IMPIGER VRSIT HABENAS.TVTATVS MAGNI NOMEN ET ACTA VIRI.QVOD SCHOLA FERT REDITVS VRBIS PRIMARIA CERTOSEFFECTVM CONSTAT PRINCIPIS HVIVS OPE.CONDIDITc) EXTINCTVM MICHAEL LVDOVICVS HONORIADIECIT TITVLOS GRATVS VTRIQVEd) NOVOS.ANNO D(OMI)NI 1556 . OBIIT X DIE MARTIIe)

  3. C

    I(ESVS) N(AZARENVS) R(EX) I(VDEORVM)3)

Übersetzung:

(A) Im Jahre des Herrn 1556, am 10. Tag des März starb der ehrwürdige Vater in Christus und Herr, Herr Crato, Abt der Hersfelder Kirche. Seiner Seele erbarme dich, Christus!

(B) Wie schwierig auch die Zeit gewesen sein mag, so bewahrte doch Crato die Herrschaft, während das bäuerische Volk töricht die Waffen erhob, und er hat schließlich viermal zwei Lustren (40 Jahre) tatkräftig diese Leitung ausgeübt. Er behauptete für sich den Namen und die Taten eines großen Mannes. Es steht fest, daß die vorzügliche Schule der Stadt sicheren Gewinn bringt, bewirkt durch die Mittel dieses Fürsten. Den Verstorbenen begrub Michael, und Ludwig fügte beiden dankbar dem Ansehen neue Ruhmestaten hinzu.

Er starb im Jahre des Herrn 1556, am 10. Tag des März.

Versmaß: Vier elegische Distichen (B).

Wappen:
Hersfeld (Stift)/ Melles/MyleMelles/Myle4)

Kommentar

Abt Crato Melles (Kraft Myle) stammte aus Hungen (Lkr. Gießen),5) wo das Stift über Grundbesitz verfügte. Er war nach langer Zeit der erste bürgerliche Abt und außerdem der erste, der nicht aus dem unmittelbaren Einzugsgebiet des Stiftes kam. Er trat sein Amt 1516 in schwieriger Zeit an, als nach der mißglückten Vereinigung der Abtei mit Fulda unter Abt Volpert Riedesel von Bellersheim6) der hessisch-landgräfliche Einfluß in Stadt und Stift Hersfeld weiter anwuchs. Im Jahr 1517 erneuerte Melles zusammen mit dem Dekan und dem Konvent den Erbschutzvertrag mit dem hessischen Landgrafen. Zudem wurde festgelegt, daß die Abtei nicht mit einer anderen vereinigt werden dürfe. Damit sollte der Einfluß Hessens auf das Kloster gewahrt bleiben. Dem diente auch die Verfügung, ein neu gewählter Abt dürfe „den fursten zu hessen nitt zuwider“ sein.7) Im Jahr 1521 beauftragte dann Kaiser Karl V. neben drei geistlichen Fürsten auch Landgraf Philipp, das Kloster zu schützen.8)

In der Folgezeit verschärften der konfessionelle Konflikt und der Bauernkrieg die Situation. Die Reformation in Hessen und auch in der Stadt Hersfeld entzog dem Stift langfristig das Hinterland als Rekrutierungsgebiet und wichtige Einkünfte; einzelne Positionen wie die Propstei Cornberg wurden besetzt und in die Landgrafschaft inkorporiert.9) Melles selbst stand der neuen Lehre aufgeschlossen gegenüber, empfing Martin Luther auf der Durchreise 1521 von Worms, bat ihn um eine Predigt in der Stiftskirche10) und ließ früh lutherische Prediger zu.11) Schon 1520 hatten der Stadtpfarrer Heinrich Fuchs und ab 1523 der Kaplan Melchior Ring in Hersfeld reformatorisches Gedankengut verbreitet, ohne daß der Abt dagegen eingeschritten wäre. Schließlich förderte Abt Crato Melles auch Balthasar Raid (Nr. 158), der sich zunächst als Kaplan und dann ab 1538 als Stadtpfarrer in Hersfeld für die Reformation einsetzte.12)

Im Jahr 1525 erreichte der Bauernkrieg Hersfeld, worauf die zweite Zeile des Grabgedichts Bezug nimmt. Die Stadt schloß sich den Bauern an, und Abt und Konvent suchten Zuflucht in der Burg Eichhof. Landgraf Philipp kam dem Abt zu Hilfe, und die Stadt verlor wegen ihrer Beteiligung am Aufstand Freiheiten und Rechte. Da Philipp das stiftische Gebiet praktisch von den Aufständischen zurückerobert hatte, betrachtete er sich nun als dessen Herr. Einen Teil erhielt der Abt zwar zurück, doch ließ der Landgraf keinen Zweifel an seiner Oberhoheit. Zu einem endgültigen Ausgleich zwischen Abt und Landgrafen kam es allerdings erst 1550, als die landgräfliche Nutzung als Pfand für die ausgebliebene Aufwandsentschädigung weiter festgeschrieben wurde. Doch wichtige Weichenstellungen waren nun längst vollzogen. Hersfeld hatte seit einer Generation einen hessischen Schultheißen, der auch für den Stiftsanteil tätig wurde, und Philipp führte im gesamten Gebiet des Stifts Hersfeld die Reformation ein. Die Stiftskirche wurde noch 1525 geschlossen. Abt und Konvent hielten zwar weiter Gottesdienst nach katholischem Ritus, doch unter Ausschluß der Öffentlichkeit13)

Gegen Ende seines Abbatiats nahm Abt Crato Melles seinen aufstrebenden Günstling Michael Landgraf (Nrr. 179 f.) zum Koadjutor cum spe an. Die besondere Erwähnung der beiden Nachfolger Michael Landgraf und Ludwig Landau (Nrr. 213 f.) im Grabgedicht deutet darauf hin, daß sie an der Organisation des Begräbnisses bzw. an der Aufstellung des Epitaphs für Abt Crato beteiligt waren.

Was genau mit HONORI und den TITVLI NOVI gemeint war, ggf. die vorerwähnte Klosterleitung und Schulstiftung, ist kaum festzustellen, da die Biographien der Äbte bisher allesamt nur knapp aufgearbeitet sind. Klar sind hingegen die Karriereschritte der beiden, da Ludwig Landau dem neuen Koadjutor und präsumtiven Abt Michael Landgraf nach Cratos Tod in dessen Dekanat – das war so absehbar – folgen würde bzw. tatsächlich folgte. Gegebenenfalls nahm der Text das schon auf, wenn man das Epitaph nach den Amtswechseln datiert, was höchstwahrscheinlich richtig ist. Möglicherweise deutet diese Passage sogar eine späte Entstehung des Epitaphs an, bei der Ludwig Landau eine größere Rolle gespielt haben könnte, zumal aus seiner eigenen Amtszeit die dichteste Folge von repräsentativen Skulpturen und Inschriften in Hersfeld und eine enge Verbindung zum Bildhauer Valentin Hep bekannt ist. Seine Signatur, die seit 1570 im Hersfeldischen verbreitet war, ist aber hier nicht vorhanden.

Die „vorzügliche Schule“ im Grabgedicht kann sich noch nicht auf das Gymnasium in Hersfeld beziehen, das nach zögerlichen Anfängen erst 1570 etabliert wurde (Nr. 211/MMM), wohl aber auf dessen Vorgänger, die alte Klosterschule, es sei denn, das Epitaph entstand sehr spät, und der Text zur Schule erfuhr eine zeitliche Verzerrung.

Textkritischer Apparat

  1. GRAFTO Hs. 166 a.
  2. Anders als im lateinischen Text davor hier teilweise griechischer Buchstabenbestand XPE mit Kürzungsstrich darüber. Görlich hat diese Inschrift aus einer ungenannten Quelle, aber mit IN XTO PATER und von ihm bemängeltes MISERERI.
  3. CONDITI Hs. 166 a.
  4. Bei Schlegel marginal VTERQVE.
  5. Diese Zeile nicht im Zitat, wo die Grabinschrift folgt, nur in der Nachzeichnung einigermaßen mittig gestellt.

Anmerkungen

  1. Den Hinweis auf die Handschrift ist dem freundlichen Hinweis von Dr. Otfried Krafft, Fachgebiet Mittelalterliche Geschichte, Universität Marburg, zu verdanken.
  2. Kürzungen und Arrangement, nicht jedoch der Zeilenfall von Inschrift (A), folgen Schlegels Nachzeichnung, deren Schriftcharakter und Kürzungen übernommen wurden; eine Normalisierung von U und V wurde nicht vorgenommen.
  3. Nach Joh 19,19.
  4. Zum Wappenbild vgl. bei Nr. 131. Das Wappen nach der Tingierung der Nachzeichnung schräggeteilt, anscheinend von Rot und Schwarz, der Schrägbalken silbern, die Rauten schwarz, die begleitenden Monde in verwechselten Farben.
  5. Vgl. Görlich, Bürger aus Hungen.
  6. Vgl. vor allem bei Nr. 113. Noch als Konventuale hatte Crafto dem Fuldaer Abt als einziger die Huldigung verweigert, vgl. Ziegler, Mitra und Krummstab 20, auch zum folgenden.
  7. Demme, Nachrichten I 48 und Beilage 69.
  8. Unger, Hersfeld 598.
  9. Unger, Hersfeld 598; Demme, Nachrichten I 48–53.
  10. Demme, Nachrichten I 48; Görlich, Schon 1521; auch folgende Anm. In Hersfeld hängt heute eine Gedenktafel an diese Predigt Luthers; den Aufenthalt Luthers in der Residenz des Abtes im Eichhof verewigt das sogenannte „Lutherzimmer“.
  11. Vgl. Dickel, Luther.
  12. Unger, Hersfeld 600.
  13. Demme, Nachrichten I 49–53 mit Beilagen 71 und 76.

Nachweise

  1. HStA Marburg, H 166 a.
  2. Schlegel, Abbatia, fol. 171r (Nachzeichnung).
  3. Schlegel, Abbatia (Hs. Gießen) 382 (Zitat).
  4. Görlich, Bürger aus Hungen 36 (A, mit Übersetzung).
  5. Görlich, Schon 1521, 59 (A).
Addenda & Corrigenda (Stand: 13. Oktober 2022):

Hinweis zu Text, Übersetzung und Folgerungen:

Dr. Edgar Siedschlag, Witzenhausen, regt eine Korrektur der Übersetzung zum 3. Distichon in (B) an:

„Dass eine hervorragende städtische Schule verlässliche Einkünfte bringt, wurde, wie feststeht, durch die Mittel dieses Abtes bewirkt.“

Dr. Edgar Siedschlag, Witzenhausen, regt eine Korrektur der Lesung und Übersetzung zum 4. Distichon in (B) an:

Lies VTERQUE statt VTRIQVE!

Neue Übersetzung von R. Fuchs nach Anregung von E. Siedschlag: „Dankbar beide, begrub Michael den Verstorbenen, schuf ihm zur Ehre Ludwig eine Grabinschrift, wie es sie bisher nicht gab.“

Durch die neue unzweideutige Deutung des Distichons zur „städtischen“ Schule und des letzten Pentameters (Grabmal durch Ludwig Landau gestellt) wird eine Spätdatierung des Monuments nach 1570 (Etablierung der Schule) wahrscheinlicher, jedoch nicht zwingend, da beide an diesen Projekten beteiligten Nachfolger schon kurz nach Abt Cratos Tod in die entsprechenden Positionen gerückt waren und erste Pläne zur Schulgründung länger zurückliegen.

Zitierhinweis:
DI 91, Hersfeld-Rotenburg, Nr. 146† (Sebastian Scholz und Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di091mz14k0014605.