Inschriftenkatalog: Landkreis Hersfeld-Rotenburg

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 91: Hersfeld-Rotenburg (2015)

Nr. 126 Neukirchen (Haunetal), Evangelische Kirche 1522

Hinweis: Die vorliegende Online-Katalognummer ist im Vergleich zum gedruckten Band mit Ergänzungen und Korrekturen versehen. Sie finden diese am Ende des Artikels. [Dorthin springen]

Beschreibung

Geschnitzter Flügelaltar im Chor. Der heute in leuchtenden Farben gefaßte Mittelteil zeigt Christus (kleiner als die Assistenzfiguren) am Kreuz. Maria Magdalena umfaßt dem Betrachter den Rücken zukehrend den Kreuzesstamm, während oben beidseitig zwei Engel das Blut Christi auffangen. Ergänzt wird die Kreuzigungsgruppe (links Maria, rechts Johannes) um zwei weitere Heilige außen. Steine weisen die rechte Figur eindeutig als den Protomärtyrer Stephan aus, während die Identifizierung bei der linken – ein junger Mann mit Buch (linke Hand) und Schwert (rechte Hand) – nicht so eindeutig ist. Komplizierend wirkt, daß sich bei der Restaurierung durch den Kunstmaler Kösling im Jahr 1952 einige entstellende Fehler (Schwert statt Lanze des Georg, Kreuz statt Kelch auf dem Buch des Johannes, Lanze eines Reisigen im Paulus-Bild) einschlichen und bei der fraglichen Figur fälschlich ein Schwert zugegeben wurde, das auf dem Vergleichsfoto von 1931 nicht vorhanden ist.1) Steht dort also ein barfüßiger Apostel, in dessen Buch der Beginn des Glaubensbekenntnisses (B) schwarz auf goldenem Grund steht, oder nach der Identifizierungshypothese von Victor Sabo der heilige Laurentius, dessen Rost fälschlich durch ein Schwert ersetzt wurde? Diese Figur und der Diakon Stephan waren zwar ehemals durch Nimben hervorgehoben und sind somit über ihre Standorte hinaus parallelisiert; sie unterscheiden sich aber in der Kleidung, der vermeintliche Diakon Laurentius, der oft mit Stephan zusammen dargestellt ist, steht überdies wie Johannes barfuß. Diese formalen Unterschiede stützen nicht die Identifizierungshypothese Sabos, der auf den gemeinsamen Rang der beiden Diakone, ihre Beliebtheit beim Adel und ihre Qualität als „Protomärtyrer des Christentums“ abhebt, indem er sie als ersten und letzten Märtyrer stilisiert – Laurentius war definitiv nicht der letzte. Außerdem erklärt sich schlecht, warum gerade Laurentius ein Buch mit dem Incipit des Apostelcredos halten sollte. Zwar kommt die Wendung „Credo deum (verum Christum)“2) in der Laurentius-Legende (Heilung und Taufe des blinden Lucillus im Kerker) vor, doch die Wendung stimmt nicht mit dem Text der Inschrift überein, und auch die Aussage ist eine andere. Zudem kommen diese Szene und der Wortlaut eben so nicht in der Legenda aurea vor. Bei der Figur handelt es sich allerdings auch nicht um Petrus, der den Anfang des Credo spricht, da dessen Physiognomie in der Spätgotik schon sehr gefestigt ist. Petrus Martyr kommt ebenfalls nicht in Frage, der zwar als Kind und im Martyrium den Beginn des Glaubensbekenntnisses sprach, in dessen Darstellung aber nichts konkret auf das Martyrium und die Zugehörigkeit zum Predigerorden hinweist.

Der linke Flügel zeigt den heiligen Georg im Kampf mit dem Drachen, der rechte die Bekehrung des Paulus vor Damaskus. Auf die Rückwände der Flügel, also auf die im geschlossenen Zustand sichtbaren Felder, sind vier Passionsszenen gemalt: Christus betend am Ölberg, vor Kaiphas, vor Pilatus und die Dornenkrönung. Auf diesem letzten Bild ist neben einen der Schergen die Jahreszahl (A) in roter Farbe links auf die Wand gemalt.3) Zwei früher an den Seitenflächen des geschlossenen Altars angebrachte Bilder von Bonifatius und Elisabeth gelangten ins Pfarrhaus;4) sie gehören nicht zum ursprünglichen Programm.

Maße: H. 150, B. ca. 400 cm.

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis (B).

© Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Brunhild Escherich) [1/3]

  1. A

    1522

  2. B

    CRE/DO / IN // DE/VM

Kommentar

Der 1522 von einem unbekannten Meister geschaffene, gut erhaltene Flügelaltar bildet eine Besonderheit im Kunstdenkmälerbestand des Landkreises Hersfeld-Rotenburg. In der jüngsten Darstellung wurde er als Vorlage für die Kreuzigungsgruppe in der St. Michaelsrotunde in Fulda gesehen und zusammen mit dieser als Nachfolgewerk des Hersfelder Passionsaltars aus der Erfurter Schule.5) Deutliche Modernisierungsschritte sind an der modernen Gestaltung der Jahreszahl (A) und der Verwendung der Frühhumanistischen Kapitalis ablesbar. Die Buchstaben spiegeln deren maßgebliches Formenrepertoir in wenig gekrümmtem C, unzialem D, zweibogigem E, M mit weit ausgestellten Außenschäften und kurzem Mittelteil, R mit am Schaft ansetzender gerader Cauda.

Anmerkungen

  1. Vgl. Sabo 472–477, ebd. 474 eine Abb. des Zustandes vor der Restaurierung. Die Identifizierung als Petrus (mit Steinen) und Jakobus (mit Kelch) bei Haase, Geschichte unseres Dorfes 35, auch bei Kietzell, ist abwegig.
  2. Vgl. Nigel of Canterbury, The Passion of St. Lawrence. Epigrams and Marginal Poems, Edited and Translated by Jan M. Ziolkowski (Mittellateinische Studien und Texte 14) Leiden/New York/Köln 1994, 92 (Vers 381).
  3. Vgl. die ausführliche Beschreibung bei Sturm 275–277, bei Sabo 473–478.
  4. Nach Sturm 277.
  5. Vgl. Sabo 477–479, 485 f.

Nachweise

  1. Kietzell, Kirche von Neukirchen 50 (A).
  2. Sturm, Bau- und Kunstdenkmale des Fuldaer Landes II 277 (A).
  3. Dehio, Hessen 652 (A).
  4. Sabo, Buchonia 478 (A), 483 (B), Farbtaf. XX f. (Totale), XIX Bild 45 (B), 474 Abb. (Totale neu und alt), 483 Abb. (B).
  5. Dehio, Hessen I (2008) 682 (A).
Addenda & Corrigenda (Stand: 13. Oktober 2022):

Hinweis zu Kommentar und Nachweisen:

Die neueste ausführliche und alle Aspekte des Objektes umfassende Analyse des Neukirchener Altars findet sich in der Dokumentation des von der DFG 2012 bis 2015 geförderten Projektes „Mittelalterliche Retabel in Hessen“ (http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:16-artdok-35159), die zusätzlich zu Rate zu ziehen ist.

Dort wird die Beschriftung (B) nicht behandelt. Die hier vorgenommene Identifizierung der das Buch mit der Inschrift tragenden Figur folgt Sabo, Buchonia, während sie im Retabel-Projekt als Hl. Vitus/Veit identifiziert wird.

Zitierhinweis:
DI 91, Hersfeld-Rotenburg, Nr. 126 (Sebastian Scholz und Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di091mz14k0012609.