Inschriftenkatalog: Landkreis Hersfeld-Rotenburg
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 91: Hersfeld-Rotenburg (2015)
Nr. 109 Kerspenhausen (Niederaula), Evangelische Kirche 1512
Beschreibung
Baujahr auf dem Scheitelstein des Turmfensters der Südseite. Der aus einem Stück gearbeitete obere Abschluß des Lanzettfensters (Spitzbogen mit Maßwerk) trägt außen beiderseits des Bruchs Buchstaben und zentral links des Scheitels eine Jahreszahl in gotischen Ziffern. Als Worttrenner beim rechten Wort dienen Quadrangel mit paragraphzeichenförmig ausgezogenen Zierstrichen.
Schriftart(en): Kapitalis, griechische mit Unzialformen bzw. kursiven Elementen, ggf. denen der Frühhumanistischen Kapitalis.
ΠOσTOIδIε 1512 ∙ PAΘε[σ]IN[ε]a) ∙
Textkritischer Apparat
- Wegen Beschädigungen und verwischter Kontur ist der Buchstabe in der Mitte als Sigma oder ggf. gerundetes Delta oder sogar als wenig geglücktes Phi zu lesen. Der letzte Buchstabe unterscheidet sich von dem des linken Wortes und wirkt wie ein zerbrochenes L, das aber wohl leicht als Lambda hätte geschrieben werden können – Sinn ergäbe das nach N nicht. Umschrift POSTOIDIE 1512 RATHESINE.
Anmerkungen
- Vgl. Kemp und Dehio.
- Auf diese Möglichkeit wies dankenswerterweise Prof. Dr. Klaus Hallof, Berlin, hin.
Nachweise
- Kemp, Kulturdenkmäler II 689 (nur Jz.).
- Dehio, Hessen I (2008) 502.
Zitierhinweis:
DI 91, Hersfeld-Rotenburg, Nr. 109 (Sebastian Scholz und Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di091mz14k0010907.
Kommentar
Die Inschrift kann sich wegen des erhöhten Anbringungsortes oben im Fenstergewände nur auf eine mit dem Turmkomplex in Zusammenhang stehende Baumaßnahme beziehen. Bisher wurde die Bauzahl nicht kommentiert1) und auf eine bestimmte Maßnahme oder einen bestimmten Zeitpunkt bezogen, eben weil die begleitenden Buchstaben rätselhaft blieben.
Die zweifelsfrei griechischen Buchstaben dürften aber keinen griechischen Text wiedergeben, sondern müssen als Rätselaufgabe des Bauherrn gelten. Es könnten darin Passagen auf Latein (POST, DIE) oder Deutsch (RATE) enthalten sein, die nicht notwendigerweise in grammatisch korrektem Zusammenhang stehen. Nicht sehr wahrscheinlich, aber doch denkbar wären heute nicht mehr erkennbare Kürzungen. Überhaupt bezieht die Inschrift ihre Formen nicht aus einem einzigen Repertoire, da mehrfach unziale und kursive bzw. vergrößerte Minuskelformen integriert sind und das zweibogige E, hier Epsilon, und das retrograde N/Ny durchaus zu zeitgenössischen Verfremdungseffekten genuin lateinischer (oder deutscher) Inschriften gehören.
Der Beginn des zweiten Wortes (PAΘε / RATE) ist vielleicht als Aufforderung zur Lösung des Rätsels zu verstehen.2) POSTRIDIE mit einem verunglückten Minuskel-rho zu lesen, geht angesichts des äußerlich nicht beeinträchtigten Buchstabens über akzeptable Deutungsfreiheiten hinaus; außerdem fehlt dann immer noch der Bezugspunkt. Auch Versuche zu gematrischen oder numerologischen Deutungen schlugen fehl, zumal dann ein innerer Bezug zwischen Zahl und Wortbedeutung vorauszusetzen wäre, den man um das Jahr 1512 auch einem gebildeten Ortsgeistlichen kaum zutrauen möchte.