Inschriftenkatalog: Landkreis Hersfeld-Rotenburg

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 91: Hersfeld-Rotenburg (2015)

Nr. 93† Obersuhl (Wildeck), Evangelische Kirche 1496?

Hinweis: Die vorliegende Online-Katalognummer ist im Vergleich zum gedruckten Band mit Ergänzungen und Korrekturen versehen. Sie finden diese am Ende des Artikels. [Dorthin springen]

Beschreibung

Gußjahr und Bibelzitat auf der größten Glocke des Geläuts. Die Inschrift lief auf der Schulter um, und auf der Flanke waren Reliefs mit der Geburt Christi und der Kreuzigung angebracht. Als Worttrenner dienten Kreuze. Nach Lucae war die Inschrift in „sehr antiquischen Lettern“, also möglicherweise in gotischer Minuskel, ausgeführt, jedenfalls nicht in einer seiner Zeit geläufigen Kapitalis. Denn die abgezeichnete Kapitalis leitet Lucae ein mit „welche wir hier vorsätzlich in bekannten Buchstaben stellen“, also in besser lesbare übertragen haben. Das q ist als vereckter Minuskelbuchstabe gezeichnet. Trotzdem wäre auch eine eigenwillige Kapitalis oder eine Frühhumanistische Kapitalis in Betracht zu ziehen, da diese durch ihren Verfremdungseffekt Verständnisprobleme schufen und Lucae dem begegnen wollte, denn er gab etwa die gotischen Minuskeln der Glocke von 1481 in Braach (Nr. 72) in einer lateinischen Minuskel wieder, verfügte also über ein Instrument, um beide Schriftfamilien zu differenzieren und trotzdem lesbar zu bleiben. Beim einleitenden Buchstaben A schlägt anscheinend im Deckbalken die originale Form durch; andere Merkmale wiederzugeben verbot wohl der verfremdende Charakter der Schrift. Für die Ausführung der Inschrift in gotischer Minuskel könnte man in Anspruch nehmen, daß Lucae für die zweite Glocke in Obersuhl, die aus dem Jahr 1463 stammt, ebenfalls eine „Aufschrift von alten Charaktern“ angibt, was mit den „sehr antiquischen Lettern“ dieser Inschrift korrespondiert; jedoch gibt er dort diese Buchstaben als Nachzeichnung gotischer Minuskeln wieder. Im vorliegenden Fall scheint es sich eher um einen Transfer von Formen zu handeln, wenngleich die Verwendung einer Kapitalisvariante so früh erstaunt und noch mehr die Kombination mit einem Gußjahr in arabischen Ziffern. Die Charakterisierung als alte Buchstaben könnte ja von der falsch verstandenen Jahreszahl 1096 verursacht worden sein.

Wann die Glocke verlorenging, ist unbekannt. Da weder Gipper noch Wenzel sie in ihren Verzeichnissen aufführen, muß sie einige Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zerstört worden sein.

Nach Lucae.

  1. A signis ∙ caeli ∙ ne timuerea) ∙ q(uae)b) ∙ gentes ∙ timent1) ∙ quia ego vobiscum dominus Deus vester2) ∙ Anno Domini 1[4]96c)

Übersetzung:

Fürchtet euch nicht vor den Zeichen des Himmels, vor denen die Völker sich fürchten, denn ich, euer Herr und Gott, bin mit euch. Im Jahre des Herrn 1(4)96.

Kommentar

Lucae las die Jahreszahl 1096 und äußerte seine Verwunderung darüber, daß die Glocke älter war als der Turm, in dem sie hing – den Turm hatte er anhand einer angeblichen Bauinschrift auf 1119 datiert,3) was wegen der vorgeblich arabischen Ziffern nicht stimmen kann. Gegen eine Entstehung der Glocke im 11. Jahrhundert spricht die Formel Anno domini, die sich zwar schon in Inschriften des 11. Jahrhunderts vereinzelt nachweisen läßt, aber erst im 13. Jahrhundert regelmäßig gebraucht wurde.4) Zudem lassen sich arabische Zahlzeichen erst ab dem Ende des 14. Jahrhunderts in Inschriften belegen,5) auf Glocken noch später. Eine ursprüngliche Ausführung in lateinischen Zahlzeichen ist weniger wahrscheinlich, da Lucae sie bei seinen Inschriftentranskriptionen fast immer als solche wiedergibt; außerdem hätte er bei seiner Verwunderung über die Zeitstellung einen Rechenfehler geprüft. Vermutlich hat er in diesem Fall arabische Ziffern in gotischer Schreibweise gesehen und die schlingenförmige 4 für eine 0 gehalten.

Von einer grammatisch richtigen Variante und einer unbedeutenden Umstellung absehend, beruht die Inschrift wohl nur mittelbar auf einer das Jeremias-Zitat verarbeitenden Auseinandersetzung mit unwetterabwehrenden Verhaltensweisen bzw. Zaubereien im Policraticus des Johannes von Salisbury:6) „A signis caeli ne timueritis, quae timent gentes, quia ego vobiscum dominus deus vester“. Einerseits nahm der Autor Abstand von dem Glauben an die Unwetter und ihre Folgen abwehrende Wirkung äußerlicher Machenschaften; man könnte dazu Glockenläuten und auf Unwetter bezogene Inschriften rechnen. Salisbury verweist vielmehr auf die inneren Werte als Schutz wie „si fidem crucis servet in pectore“. Den mit der Inschrift übereinstimmenden Text führt Salisbury für die schützende Wirkung von Gottvertrauen an. Der Text der Inschrift bzw. Ähnliches findet sich auch im Zusammenhang apotropäischer Formeln wieder.7) Mag hier zwar Salisburys Policraticus, obschon 1479/81 gedruckt, kaum direkt als Quelle in Frage kommen, so läßt doch die Ausnahmestellung des Textes als Glockeninschrift eine Verwendung moderner kapitaler Schriftvarianten möglich erscheinen. Dem steht entgegen, daß Kapitalisvarianten im Glockenguß fast überall erst nach 1500 vorkommen. Aus dem verbreiteten Wetterbannformular der spätgotischen Glocken fällt der Text heraus. Der Text ist auch zum Jahr 1496 auf einer erhaltenen Glocke in Retterode (Stadt Hessisch Lichtenau, Werra-Meißner-Kreis) und in Rauischholzhausen (Gemeinde Ebsdorfergrund, Lkr. Marburg-Biedenkopf) belegt.8)

Textkritischer Apparat

  1. Sic. In der Vulgata heißt es „nolite metuere“. Entweder wählt man diese Konstruktion, oder man folgt dem Zitat „ne timueritis“, vgl. unten.
  2. Nicht A wie im Druck von Lucae, sondern Minuskel mit Kürzungsstrich.
  3. Lucae gibt 1096, vgl. dazu den Kommentar.

Anmerkungen

  1. Jer 10,2 (A signis – timent).
  2. Die Ergänzung des Jeremias-Zitats bei Johannes von Salisbury, Policraticus I cap. 13, siehe folgende Anm.; das „ego vobiscum“ in Mt 28, 20, im Zusammenhang mit der Furcht des Menschen in Agg 1,13 u. Jer 42,11.
  3. Lucae 425 (207).
  4. Glaser/Bornschlegel, Datierungen 528.
  5. Glaser/Bornschlegel, Datierungen 532 f.
  6. Johannes von Salisbury, Policraticus de nugiis curialium I 13, ed. J. A. Giles, in: Joannis Salisberiensis postea episcopi Carnotensis opera omnia III. Oxford 1848, 57.
  7. Vgl. etwa Croker, Catalogue of Rings 12 nach Thiers, Traité des superstitions 351 in Zusammenhang mit Ananizapta: „… vobiscum dicit dominus“.
  8. Vgl. DI Altkreis Witzenhausen, in Vorbereitung. – Mittlerweile erschienen DI 87 (Werra-Meißner-Kreis I, Altkreis Witzenhausen) Nr. 16.

Nachweise

  1. Lucae, Kleinod 426 (208).
Addenda & Corrigenda (Stand: 04. August 2022):

Hinweis zur Beschreibung: Der einleitende Buchstabe A mit breitem Deckbalken kommt mehrfach auf der Glocke in Hessisch-Lichtenau-Retterode (siehe bei Anm. 8 – Ergänzung) vor, und zwar neben einer zeitgemäßen Minuskel.

Zitierhinweis:
DI 91, Hersfeld-Rotenburg, Nr. 93† (Sebastian Scholz und Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di091mz14k0009307.