Inschriftenkatalog: Landkreis Hersfeld-Rotenburg

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 91: Hersfeld-Rotenburg (2015)

Nr. 92† Bad Hersfeld, Stiftskirche/Stiftsruine 1493

Hinweis: Die vorliegende Online-Katalognummer ist im Vergleich zum gedruckten Band mit Ergänzungen und Korrekturen versehen. Sie finden diese am Ende des Artikels. [Dorthin springen]

Beschreibung

Grabplatte des Abtes Wilhelm von Völkershausen, ehemals „epitaphium … in aede cathedrali visitur“, also in der Kirche. Die Nachzeichnung zeigt die Platte mit Umschrift zwischen Linien oder abgrenzendem Relief, im Feld die Figur des Verstorbenen im Ornat mit Mitra, Stab in der Rechten, Buch in der Linken; zu Füßen zwei Wappenschilde. Die Figur war von einer Architektur umfaßt, deren seitlicher Aufbau nur unvollkommen zu erkennen ist. Zu vermuten ist eine Fialenkonstruktion, die einen baldachinartigen Überbau trug; davon ist in der primitiven Nachzeichnung noch eine Linie von Spitzen zu sehen, die wie auch die Täler dazwischen mit Wiederkreuzen besetzt sind. Die Detailtreue läßt zu wünschen übrig, obwohl der Überlieferer sich darum bemühte, die Zeichnung mit Hilfe eines davon losgelösten Zitats und einer teilweise der Inschrift folgenden Umzeichnung zu verdeutlichen – leider weichen die Versionen mehrfach erheblich voneinander ab. Auch scheint die Verteilung des Textes auf die kurzen und langen Leisten in der Nachzeichnung nicht zu stimmen, denn nach dem breit angelegten Beginn reicht der Text bis zum Namen in die linke untere Ecke. Das kann so nicht stimmen, es sei denn, die textreiche linke Leiste wäre entgegen der Nachzeichnung zweizeilig ausgeführt gewesen.

Nach Schlegels Nachzeichnung, ergänzt mit Transkription und Zitat.

Schriftart(en): Kapitalis wie in der Nachzeichnung, Typ unbestimmt, aber Frühhumanistische Variante wahrscheinlich.1)

© Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz; Forschungsbibliothek Gotha (Thomas G. Tempel (Repro)) [1/1]

  1. ANNO MILLE(N)O NOVEMa) L Q/VATER X SEMISENOV(IR)G/IN(IS) [EVFEMIAE]b) PA/STOR AEDISc) VENERANDEd)GVIL/HELMVS VOLKERSHVS(E)NEXTAT TIBI NON EST LOCVSe) HIC IN AEVVMf)SP(IRITV)Sg) POTIVSh) VOLET ET HACi) SVRSVMk)

Übersetzung:

Im Jahre eintausend, neun (mal) fünfzig, viermal zehn und sechs halbe (1493), an (dem Festtag) der Jungfrau [Eufemia] (richtig am Tag nach Mariä Geburt, 9. September) (starb) der Hirte des ehrwürdigen Hauses Wilhelm (von) Völkershausen. Gewiß ist der Platz hier (dieser Platz) dir nicht auf ewig bestimmt, die Seele möge vielmehr nach oben fliegen.

Versmaß: Zwei Hexameter (Reime fraglich, der erste wohl leoninisch zweisilbig); zwei rhythmische Zwölfsilbler, unrein gereimt (?).

Wappen:
Stift HersfeldVölkershausen

Kommentar

Aufgrund der sich widersprechenden und in keiner Version stimmigen Überlieferung bleibt die Textrekonstruktion prekär und immer noch mit prosodischen Problemen behaftet. Immerhin nähert sie sich stark dem Zitat an, dem offenbar, wie die im Text identische Kopie der Schlegelhandschrift zu bestätigen scheint, eine Reflexion zugrundeliegt, mit der einige abwegige Lesevarianten ausgeschieden wurden. Zwar vermißt man einen Ausdruck des Sterbens, doch dürfte die Thematik der Leib-Seele-Trennung in den beiden letzten Versen verläßlich dokumentiert sein. An dieser Stelle wurden die Überlieferungsstränge nach metrischen und inhaltlichen Gesichtspunkten zusammengeführt.

Die Amtszeit Abt Wilhelms von Völkershausen (1483–1493), der aus einer Familie mit Sitz bei Vacha (Wartburgkreis) stammte und am 15. Dezember 1483 gewählt worden war,2) gilt nicht als ganz so ereignisarm wie die vorangehender Äbte. Die früheren Spannungen des Stifts zur Landgrafschaft brachen insofern wieder auf, als der Abt anscheinend zusammen mit der Stadt einen hinterhältigen Angriff landgräflicher Truppen unter Heinz von Trinkhausen abschlagen mußte. Den hatte der Hofmeister Hans von Dörnberg (Nr. 77) lanciert, weil er den 1432 geschlossenen Erbschutzvertrag in einer schwierigen Zeit der Teilungen, Erbfolgespannungen und Vormundschaftsregierungen in den beiden Hessen absichern wollte.3) Die anhaltenden Probleme der Landgrafschaft konnten allerdings nicht über den prekären inneren Status des Stifts hinwegtäuschen; daher brachte Wilhelms Nachfolger Volpert Riedesel von Bellersheim (Nr. 211/JJJ) mit seinem Vorstoß, Hersfeld der Abtei Fulda anzugliedern, Bewegung in die schwierige Lage; eine Bereinigung erreichte er jedoch nicht.4)

Hinsichtlich des Todestages fallen einige Ungereimtheiten der Überlieferung ins Auge, da die Zeilen 2 und 3 unvollständig erscheinen und gegenüber dem Bezug zum Eufemientag (16. September) eine Relation zum Tag Mariä Geburt zu fordern ist. Ein Tag danach, am 9. September 1493 starb Abt Wilhelm von Völkershausen in Göllingen (Tochterkloster von Hersfeld) gemäß einem Hersfelder Kopiar, in dem auch die schnell folgende Wahl des Nachfolgers am Tag vor Kreuzerhöhung (13. September 1493) verzeichnet ist,5) mithin Zählfehler auszuschließen sind. Der demnach zwingende Bezug zu Mariä Geburt, „nativitas BMV/S. Mariae“, läßt sich zumal mit der Auflage eines Reims zum Versende kaum rekonstruieren, unterläge auch einer schwierigen Kürze, so daß man sogar vermuten muß, daß der sperrige Name ans Ende eines Hexameters rückt und zwischen ihm und dem Jahr mehr fehlt, als die Überlieferung erschließen läßt.

Das Monument Abt Wilhelms von Völkershausen steht in mehrerlei Hinsicht am Beginn umfassender Neuerungen in der Denkmalstruktur des Hersfelder Raumes, obwohl die Dokumentation Schlegels mit Problemen behaftet ist. So wird man gegen eine Realisierung des Textes in Kapitalis die in den Varianten zutage tretenden Leseprobleme anführen können, die auch bei der Annahme einer Frühhumanistischen oder noch experimentellen Variante nicht ausgeräumt sind. Passen würde zur Zweilinienschrift jedoch die moderne Textstruktur, also die Abwendung vom bis dahin zumeist genutzten Anno domini-Formular einschließlich der Lösung von mittelalterlichen Reimschemata; in diesen Zusammenhang gehört auch das moderne Thema der Leib-Seele-Trennung.

Der lückenhafte Bestand der Hersfelder Inschriften erschwert zwar die Beurteilung der Schriftverwendung, doch werden immerhin die konsistent lang anhaltende Realisierung der Minuskel und die verspätet einsetzende Verwendung der Kapitalis deutlich, so daß die Nachzeichnung für sich allein nicht als Beleg für eine wie auch immer geartete Kapitalisvariante gelten kann, zumal die Zitate unverdächtiger Grabplattentexte des 15. Jahrhunderts ebenfalls die gewiß vorauszusetzende Minuskel in einer Zweilinienschrift wiedergeben. Hier ist jedoch darauf hinzuweisen, daß die Zeichnungen zweier unmittelbar vorausgehender Abtsgrabplatten, die für Ludwig Vizthum von Eckstädt (Nr. 71) und Dammo Knoblauch (Nr. 75), die Minuskeln und ihre Versalien so gut nachvollziehen lassen – beim Zitat der Texte jedoch wie immer in Zweilinienschrift – , daß ein Durchbrechen dieses Systems ausgeschlossen erscheint und den Zeichnungen zu vertrauen wäre. Kein Gegenargument wäre die Diskrepanz von modernem Text und traditioneller Minuskelschrift, denn die Aufnahme neuer sprachlicher Erscheinungen in die Grabschriftgestaltung scheint in weiten Bereichen der Übernahme bildlicher, konstruktiver und paläographischer Neuerungen vorauszugehen. Ein treffendes Beispiel dazu ist das Epitaph Rommersheim von 1474 in der Trierer Simeonskirche (Porta Nigra),6) dessen gotische Architektur und Minuskel mit den reimlosen und darum modernen Distichen kontrastieren.

Die Leseprobleme des Gewährsmannes wären dann doch dem Zustand der Platte und gegebenenfalls einer schwierigen und ihm vor allem ungewohnten Frühhumanistischen Kapitalis zuzuschreiben, ohne daß man aus Schlegels Buchstaben irgend etwas zum Typ der Kapitalis herausfinden könnte – zweibogige E sind nur die Schnellschreibversion des Schreibers. Eine Kapitalis, gleich welcher Ausprägung stellt 1493 in Hersfeld eine Besonderheit dar, da im Umkreis nur zwei vermutete Frühhumanistische Varianten (Nrr. 93, 105) und erst 1508 eine beurteilbare (Nr. 107) bekannt sind, und das auf zwei Glocken und einem Glas. Eine schon entwickelte, aber beileibe nicht klassizierende Kapitalis setzt erst ab 1519 (Nr. 124) ein, nachdem schon 1516 für die Grabplatte Abt Ludwigs von Hanstein (Nr. 113) eine Kapitalisvariante angezeigt wurde.

Vollends von den bisherigen Denkmälern weicht die Abbildung der Abtsfigur in einer architektonischen Rahmung ab, die auch bei dem konventionelleren Text des zweiten Nachfolgers Ludwig von Hanstein (Nr. 113) erhalten blieb.

Nachteilig für die Beurteilung der neuen Entwicklung macht sich die Lücke bemerkbar, die durch das Fehlen eines Monuments für den resignierten Abt Volpert Riedesel von Bellersheim (Nrr. 98, 211/JJJ)7) und die lange Sedenz Abt Crato Melles' (Nr. 145 f.) entstand. Der vergleichsweise karge Inschriftenbestand der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts stört jedwede verläßliche Beobachtung zum Eingang der Renaissance im Hersfelder Raum, doch sind die wenigen Beobachtungen zu einer verzögerten Aufnahme neuer Ideen durchaus konsistent. Die einen Großteil der entsprechenden Denkmäler bewahrenden geistlichen Häuser könnten dieses geringere Tempo verursacht haben, wie auch der Bestand in Fulda zeigt.8) Das Monument Völkershausen scheint dann eine ungeklärte progressive Variante zu sein.

Textkritischer Apparat

  1. Kein Zahladverb, NOVIES oder NOVENI wären metrisch schädlich.
  2. Hier muß ein Überlieferungsfehler Schlegels oder ein grober Erinnerungsfehler bei der Herstellung vorliegen, denn der Amtswechsel zu Volpert Riedesel von Bellersheim ist nach einem Hersfelder Kopiar gut dokumentiert, vgl. unten bei Anm. 5.
  3. Prosodisch bedenklich, metrisch gedehnt(?). Die Kopie verzeichnet korrigierend zwischen D und E ein kleines a, als sei das aus einer Kürzung entstanden.
  4. So in Nachzeichnung und Zitat; diese Schreibweise noch knapp zeitgemäß, steht aber in Kontrast zur modernen Poesie.
  5. In der Nachzeichnung V und S verschränkt.
  6. So nach dem Zitat, auch so in Kopie übernommen. Die Zeichnung hat hier HIC IN ERV(M)S, woraus die begleitende Umschrift CINERVM erschloß. Diese Umschrift ist jedoch überhaupt bedenklich, da sie das X der Jahreszahl mit in umsetzte.
  7. So die Nachzeichnung, im Zitat und der Kopie SED POTIVS, die Umschrift gab ohne Berücksichtigung der drei S der Nachzeichnung CINERVM POTIVS, siehe aber bei Anm. c.
  8. Nicht in Nachzeichnung, vgl. ante.
  9. In der Nachzeichnung nur HA.
  10. Im Überblick der Überlieferung ergeben sich folgende Textverläufe: 1. Nachzeichnung: LOCVS HIC IN ERVS SPS VOLET ET HA SVRSVM; 2. Umschrift: CINERVM POTIVS VOLET ET HAC SVRSVM; 3. Zitat: HIC IN AEVVM SED POTIVS VOLET ET HAC SVRSVM.

Anmerkungen

  1. Die Großbuchstaben in Schlegels gezeichneter Überlieferung sind hier nicht mehr zwingend als bloße Hervorhebung bzw. Zitiermanier zu verstehen und bestätigen wahrscheinlich eine Zweilinienschrift. Da diese Übertragungsweise auch für ältere Inschriften des 15. Jahrhunderts für die Zitate im Text benutzt wurde, bei denen man zwingend von einer Minuskelschrift ausgehen muß, gilt die Beobachtung einer groben Schriftcharakterisierung nur für Zeichnungen. Kürzungen könnten Gesehenes wiedergeben; U und V wurden hier nicht normalisiert.
  2. Vgl. Krafft, Hersfelder Äbte 29 nach Lehnregister (HStA Marburg, L 31, fol. 12r).
  3. Demme, Nachrichten I 42. Abt Wilhelm nicht in der Liste bei Unger, Hersfeld 609, vgl. auch bei Nr. 211/III.
  4. Vgl. Unger, Hersfeld 597; Breul-Kunkel, Herrschaftskrise 71–114; siehe auch bei Ludwig von Hanstein (Nr. 113).
  5. Vgl. Krafft, Hersfelder Äbte 30 f. nach HStA Marburg, K 251, fol. 2v.
  6. DI 70 (Trier I) Nr. 282.
  7. Zu der konventionellen Grabplatte Volperts († 1540) vgl. Sturm, Bau- und Kunstdenkmale der Stadt Fulda 980 m. Abb.
  8. Wie Anm. 7, 980 f. m. Abb. auch zur Platte von Volperts Nachfolger als Propst vom Neuenberg Philipp von Rückingen († 1551).

Nachweise

  1. Schlegel, Abbatia, fol. 159r (Nachzeichnung und teilweise jener folgende Transkription/Umschrift), fol. 157v (Zitat).
  2. Schlegel, Abbatia (Hs. Gießen) 362 (Zitat wie ante).
Addenda & Corrigenda (Stand: 04. August 2022):

Hinweis zu Inschrift, Übersetzung u. a. m.:

Aus der Nachzeichnung und darunter vorgenommenen Rekonstruktionen Schlegels erarbeitete Dr. Edgar Siedschlag, Witzenhausen, einen neuen Text, der metrisch, prosodisch und inhaltlich überzeugt:

Inschrift:

  1. ANNO MILLE(N)O NOVEMa) L Q/VATER X SEMISENO V(IR)G(IN)IS EN MARIAEb) PA/STOR CEDISc) VENERANDEd) GVIL/HELMVS VOLKERSHVS(E)N EXTAT TIBI NON [MENS] EST LOCVSe) HIC CINERV(M)f) SOSPESg) VOLET ETH(ER)Ah) SVRSVM

Übersetzung:

Im Jahr 1493 (tausend und neun Fünfziger, viermal zehn und sechs halbe), am Tag der Jungfrau Maria scheidest du, ach, von uns, verehrungswürdiger Hirte, Wilhelm von Völkershausen. Zeigt sich da nicht dein Geist (deine Seele)? Hier ist der Platz sterblicher Reste, er fliege wohlbehalten hinauf zum Himmel.

Versmaß: Vier Hexameter (der erste zweisilbig rein, der vierte einsilbig gereimt, die mittleren Verse nur in Anklängen).

Textkritischer Apparat

    ...
  1. EVFEMIAE Schlegel.
  2. AEDIS mit undeutlicher Verbesserung bei A in Schlegels Nachzeichnung.
  3. Anm. d. entfällt.
  4. Hier wird man doch das verwirrende IN AEVVM der Zeichnung zugunsten von CINERV(M) in der Umschrift ablehnen müssen.
  5. In der Nachzeichnung S SPS. Dessen Auflösung zu SP(IRITV)S könnte sich auf einen verbreiteten Usus stützen und ergäbe mit VOLET ETH(ER)A SVRSVM einen akzeptablen Halbvers, dessen Anschluss zum vorderen Teil freilich wegen des fehlenden Halbfußes nicht stimmt. Dieser Ansatz würde sich im Gegensatz von CINERES und SPIRITVS immerhin mit der verbreiteten Leib-Seele-Trennung in Grabschriften verbinden lassen. In der undeutlichen Umschrift möglicherweise POTIVS – nicht weiterführend.
  6. In der Nachzeichnung nur ET HA, in der Umschrift dasselbe mit einem Kürzungszeichen(?).

Zitierhinweis:
DI 91, Hersfeld-Rotenburg, Nr. 92† (Sebastian Scholz und Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di091mz14k0009207.