Inschriftenkatalog: Landkreis Hersfeld-Rotenburg

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 91: Hersfeld-Rotenburg (2015)

Nr. 90 Bad Hersfeld, Stiftskirche/Stiftsruine 1491, E. 15.–A. 16. Jh., 16.–17. Jh.?

Beschreibung

Datum und Namen auf einem Quader aus rotem Sandstein, innen in der linken Fensterlaibung der Turmstube des Westturms, zweiter Quader von unten.1) Die Jahresangabe (A) steht in Konturschrift über drei Wappenschilden. Darüber (B) und darunter (D) befinden sich eher graffitiartige Buchstaben; jedenfalls kann man sie wegen der eingetieften und flüchtigen Kerbe, auch wegen der beträchtlichen Größenunterschiede der Buchstaben nicht zwingend zur Konturschrift zählen, das darüberstehende S mit Minuskeln (B) keinesfalls; oben rechts ging ein Wort (C) verloren, das mit demselben Majuskel-M begann wie in (A). Von dem Quader darunter ragt ein lateinisches Kreuz in das untere Viertel des vorliegenden Quaders; unter den Armen Buchstabenreste (E), die sich auf dem Quader darunter möglicherweise fortsetzten. Nicht ganz abwegig ist die Überlegung, hier könnten stark gekürzt die Namen Mariä und Johannis gestanden und sogar rudimentäre Figuren bezeichnet haben – dann wäre das Ganze eine Kreuzigungsgruppe gewesen. Als Worttrenner dienen in (A) Quadrangel, größtenteils ebenfalls in Kontur, und unspezifische Punkte. Auf der Frontseite des Quaders, also zum Raum hin, stehen inmitten tiefer Scharten locker übereinander die Buchstaben A, H und E (4,5– 5,5 cm groß), am unteren Rand ein Name (Nr. 139).

Maße: H. 38, B. 41, Bu. 4 (A), 2 (B), 2–3 (C) cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien (A, B); jüngere Minuskel mit Versalien (D–E).

© Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Thomas G. Tempel) [1/1]

  1. A

    Mo c∙c∙c∙co ∙ xc ∙ i ∙ i[a]ra)

  2. B

    S[ich…] V

  3. C

    M[– – –]

  4. D

    Io(hanne)s ho(n)[ge(n)]b)

  5. E

    M[– – –] // Io(hann)es // H[o– – –]c)

Wappen:
Stadt Eschwege2); unbekannt3); Stift Hersfeld

Kommentar

Der ganze Raum bot Gelegenheit, Inschriften – vor allem spätmittelalterliche – und jüngere Graffiti anzubringen, die zumeist von den Zöglingen der Klosterschule, welcher der Raum als Karzer diente, stammen. Auch die älteren Inschriften stehen häufig mit zeitnahen und jüngeren Graffiti zusammen auf einem Quader. In ihrer handwerklichen Ausführung und den beigegebenen Wappen übertrifft die Inschrift (A) den Charakter eines Graffito, wenngleich eine ähnliche Absicht, nämlich die Anwesenheit einer Person zu dokumentieren, vorgelegen haben mag. Hier wird man zusätzlich an eine Information zu Bauaktivitäten denken müssen (vgl. Nr. 98). Außerdem boten die Gewände des Fensters und die Gurte des Kreuzgewölbeträgers Raum für persönliche „Einträge“ nicht nur zufälliger Besucher, sondern gegebenenfalls auch von solchen, die in der als Gefängnis dienenden Stube des Wendelsteins einsaßen,4) oder am Bau arbeiteten. Der Name Johannes Hongen (Hungen) kommt somit mindestens viermal vor (Nrr. 355 f.), sofern man nicht in (E) auch noch Reste dieses Namens sieht, dessen Kürzungen aber mit jenen anderen nicht konform sind. Den Wechsel von antiquaähnlichen runden Buchstaben mit eckigem g wird man nicht für eine Frühdatierung nutzen können, sondern den Namen Hongen hier und anderweitig in einen größeren Zeitrahmen stellen müssen.

Nur der Versal M der Jahreszahl entstammt der gotischen Majuskel und ist mit den Merkmalen des 14. Jahrhunderts versehen, in (A) ist er wie der Rest der Zeile in Kontur geschrieben, auch das ein Umstand, der eher zwei oder sogar mehr Schreibaktionen auf dem Quader vermuten läßt; außerdem stimmen die Minuskeln unter den Wappen nicht zu den Brechungen der ersten Zeile, und dort und weiter unten stehen weitere gerundete Minuskeln neben kapitalen Versalien. Das einzelne V gleicht dem Anfangsbuchstaben des Namens auf der linken Seite des Quaders (Nr. 139).

Die Einzelbuchstaben der Frontseite wirken zwar alt,5) könnten sogar romanisch sein, doch kehrt zumindest ihr Duktus in anderen Inschriften (Nr. 98) wieder.

Textkritischer Apparat

  1. Sic! Die von Hörle entsprechend einem Graffito vorgeschlagene i(n)s(c)r(ipsi) oder i(n)s(c)r(ipsit) sind aus den vorhandenen Buchstaben nicht herauszulesen – eine Kürzung dieser Art ist nicht geläufig und wäre keinem Betrachter einsichtig oder erschließbar.
  2. Die erkennbaren Buchstaben entsprechen nicht den gängigen Kürzungen für Johannes wie in Io(hann)es. Die Lesung i(n)s(c)r(ipsit) Io(hanne)s ho[c] überreizt die Kürzungsgewohnheiten und dürfte wegen der Schriftunterschiede nicht zu (A) gehören. Die Auflösung zu „Johannes Hongen“ bei Hörle, freilich ohne Angabe des Buchstabenbestands, mag ohne guten Quellenbeleg nicht ohne weiteres überzeugen, zumal es den Namen noch an drei weiteren Stellen gibt (Nrr. 355 f.). Für die vorgelegte und darin mit Hörle konforme Lesung der undeutlichen Schrift sprechen aber die Buchstabenformen, ihre schwankende Größe, die Abkürzungsweise und die Sonderform des schleifenförmigen s. Diese Zeile gehört wegen der moderneren Schriftausformung nicht mehr zum Jahr 1491, sondern ist wohl nicht vor der Mitte des 16. Jh. vorstellbar, höchstwahrscheinlich aber sehr viel jünger. Einen eigenartigen Kontrast bilden kapitales I, kleines fast kreisrundes o und das geschlossene, aber anscheinend auch hier vereckte Schleifen-s, das mehrfach in Kombination mit Varianten der übrigen Buchstaben vorkommt.
  3. Weder Kürzungsweise noch das kapitale H entsprechen den Graffiti von Johannes Hongen, siehe Nachweise bei Anm. b.

Anmerkungen

  1. Christian Bauer (Reversio, Bad Hersfeld) sei für die erste photographische Dokumentation der Inschrift herzlich gedankt.
  2. Doppeltürmige Burg bzw. betürmte Stadtmauer mit offenem Tor; zwischen den Türmen schwebt eine dreiblättrige Pflanze, wohl Waid wegen der in Eschwege bedeutenden Färbereien, vgl. Siebmacher, Städte 137 mit Taf. 16.
  3. Eine Müllerhaue?, symmetrisch begleitet von vier (je zwei auf jeder Seite) nicht genau zu erkennenden Zeichen.
  4. Wiegand 134 nach Ziegler, Territorium – angeblich zeitweilig Gefängnis des Niedergerichts Niederaula.
  5. Besonders das unziale E erinnert an frühe Majuskeln, nicht hingegen das spitze(!) A mit geknicktem Mittelbalken, ambivalent ist das H mit Ausbuchtung unten.

Nachweise

  1. Hörle, Hersfelder Inschriften (vor 1513) 140 (A, D mit Nachzeichnung).
  2. Wiegand, Kulturdenkmäler 135 (erw.).

Zitierhinweis:
DI 91, Hersfeld-Rotenburg, Nr. 90 (Sebastian Scholz und Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di091mz14k0009007.