Inschriftenkatalog: Landkreis Hersfeld-Rotenburg

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 91: Hersfeld-Rotenburg (2015)

Nr. 89 Museumslandschaft Hessen Kassel, Hessisches Landesmuseum, aus Bad Hersfeld, Stiftskirche um 1480/90?, E. 15. Jh.?

Hinweis: Die vorliegende Online-Katalognummer ist im Vergleich zum gedruckten Band mit Ergänzungen und Korrekturen versehen. Sie finden diese am Ende des Artikels. [Dorthin springen]

Beschreibung

Sogenannter Hersfelder Altar in der Sammlung Alter Meister des Landesmuseums (Inv. Nr. GK 1076). Schon durch Bemerkungen im Inventar der Kasseler katholischen Elisabethkirche von 1814, in der hauseigenen Inventarisation von 1816 ff. (Inv. Nrr. 1602, 1603) und auch in einem Protokoll von 1749, das den Erwerb des Altars schon 1733 durch den späteren Landgrafen Wilhelm VIII. wahrscheinlich macht, sowie durch andere Nachrichten dürfte die Herkunft aus dem Stift Hersfeld gesichert sein.1)

Die Altartafeln auf von Leinen überzogenem Nadelholz zeigen innen in zweimal vier Szenen die Ereignisse der Passion um die Kreuzigung bis zum Pfingstwunder;2) der verlorene Mittelteil muß deshalb analog zu anderen Produktionen der Region eine wahrscheinlich plastische Kreuzigung mit weiteren Szenen bzw. Figuren geboten haben. Predella und Gesprenge sind ebenfalls verloren.3) Von dieser mit Gold betonten Seite unterscheiden sich die eher düsteren Außenseiten erheblich, die jeweils zweimal fünf Heiligenfiguren zeigen, oben links beginnend (nach der größtenteils akzeptierten Identifizierung bei Schneckenburger-Broschek):4) links Barbara, Katharina, Margarethe, Heilige (?), Juliana // Sebastian, Lul (Bischof, ?), Bonifatius (Bischof, ?), Hrabanus Maurus (Bischof, ?), heiliger Geistlicher // rechts Sturmius (?), Wigbert (?), Ottilie, Lioba (?), Elisabeth (?) // Mauritius, Gangolf, Laurentius, Cyrill, Florentius. Nur die fünf letzten sind mit noch lesbaren, Weiß auf dunklen Grund geschriebenen Beischriften identifiziert. Weder Reste noch maltechnische Hinweise zeigen an, daß ähnliche Namen bei den übrigen Figurenreihen gestanden haben könnten. Daher wurde vermutet, daß anläßlich der Übermalung der ursprünglichen grau in grau gehaltenen Außenseiten die vorhandenen Inschriften von einer anderen Stelle, höchstwahrscheinlich vom Rahmen, hierhin übertragen worden seien.5)

Auf mehreren Bildern der Innenseite befinden sich mindestens Andeutungen von Schrift, jedoch keine les- oder deutbaren Textpassagen, nämlich bei Pilatus im rechten Mantelsaum und im Medaillon auf der linken Brust (mehrere m), am Saum des Unterkleids der Maria, kaum in den Strahlen der Himmelfahrt, am oberen Saum des vorne rechts sitzenden Apostels beim Pfingstwunder. Kurrentschriften in den aufgeschlagenen Büchern (zugeschrieben Lul, Hrabanus Maurus, Geistlicher, Lioba, Elisabeth, identifiziert Florentius) konnten nicht gelesen werden.

Maße: H. 204, B. 350 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel.

  1. s(ancti) mavricys(ancti) gangolffis(ancti) lav[ren]ciis(ancti) cy[ri]llis(ancti) floren[c]iia)

Kommentar

Die genitivischen Beischriften, an dieser Stelle höchst ungewöhnlich, sollen möglicherweise die Existenz von Reliquien der betreffenden Heiligen in diesem Altar anzeigen. Von den fünf Heiligen finden sich nur Reliquien des Laurentius in den alten Altären der Hrabanus-Zeit (Nr. 3/III). Mauritius ersetzte einen unbekannten Thebäer, von dem das Stift angeblich einen ganzen Körper besaß; für Cyrill, wohl der Bischof von Trier, gab es ein um 1490 gestiftetes und 1502 erneuertes Vikariat; außer Gangolf stehen alle übrigen, meist als Bischöfe deklarierten Heiligen, in einer von Christoph Brouwer aufgestellten Reliquienliste.6)

Für die Identifizierung des ursprünglichen Altarstandorts konnten alte und jüngere Nachrichten genutzt werden. Schon unter Hrabanus Maurus sind für den Hauptaltar die Weihe auf Christus und die dort niedergelegten Christusreliquien überliefert; weitere Christusreliquien sind unter Hrabanus nur noch für den Kreuzaltar bezeugt (Nr. 3/I, VIII). Das Christus-Thema kann deshalb eigentlich nur bei diesen beiden Altären behandelt werden. Wahrscheinlich handelt es sich bei dem vorliegenden Retabel also um die jüngere Ausgestaltung des Hauptaltars, der in der Kirchenachse stand.7)

Eine eingehende stilistische, auch die Unterzeichnungen mit einbeziehende Untersuchung löste den Hersfelder Altar aus dem unmittelbaren Umfeld der Werkstatt des sogenannten Meisters des Erfurter Regleraltars, also des Flügelaltars in der ehemaligen Stiftskirche des Ordens der Regulierten Augustiner-Chorherren (Reglerkirche).8) Deshalb und wegen der Verwendung von Stichen Schongauers wird der Hersfelder Altar, dessen Meister anscheinend sonst noch nicht erfaßt wurde, um einiges später, also ca. 1480 bis 1490 datiert.9)

Die in der neuen Forschung zum Hersfelder Altar als „dornspitzige Textura“10) bezeichnete Schrift weist die in bestimmten Medien, nämlich bei Malerei und Gravur in Metall, häufiger und prägnanter gehandhabte Einbuchtung an Quadrangeln und Brechungen auf, wodurch an den Ecken dornartige Spitzen entstehen. Sie geben der Minuskel ein auffälliges Gepräge, ohne sich nur durch dieses Merkmal für eine Datierung zu eignen. Die lange Anwendung dieser Schriftvariante gerade in der Malerei läßt zwar die Hypothese, diese Namen seien 100 Jahre nach der Entstehung des Altars an ihre Stelle übertragen worden, zu, doch müßte es sich dann um eine bewußt altertümlich ausgeführte Kopie handeln, die in der unter dem modernen Abt Joachim Roell (Nrr. 274 f.) bewerkstelligten Innenrenovierung der Hersfelder Stiftskirche befremdet. Die Buchstaben sind zu schlecht erhalten, um eine verläßliche Differenzierung zwischen Ende 15. und Ende 16. Jahrhundert vorzunehmen, zeigen freilich in keiner Weise Tendenzen der Modernisierung, denen man sonst auch bei dieser Variante begegnet – und das ist mindestens verdächtig. Die außergewöhnliche Bezeichnung der Heiligen im Genitiv dürfte keine Folge einer unzulänglichen Kopie sein.

Textkritischer Apparat

  1. Die Lesungen bei Schneckenburger-Broschek sind durchweg unvollständig oder entstellt; in keinem Falle kommt die genitivische Konstruktion zum Ausdruck, die an dieser Stelle höchst ungewöhnlich ist und eigentlich zum Reliquienkatalog gehört, vgl. unten. In „Mittelalterliche Retabel in Hessen“ ist diese Konstruktion ebenfalls nicht berücksichtigt, siehe dazu bei DIONYS.

Anmerkungen

  1. Vgl. umfangreiche Belegsammlung bei Schneckenburger-Broschek, zu ergänzen nach der freundlicherweise im voraus zur Verfügung gestellten Datensammlung des DFG-Projekts „Mittelalterliche Retabel in Hessen“.
  2. Man beachte die Leserichtung, die jeweils unten links beginnt: Jesus gefangen vor Pilatus; Geißelung; Dornenkrönung; auf dem Weg nach Golgatha mit Veronika / verlorene Kreuzigung / Grablegung; Auferstehung; Himmelfahrt; Pfingsten. Eine detailreiche Beschreibung bei Schneckenburger-Broschek und „Mittelalterliche Retabel in Hessen“.
  3. Vgl. die ausführliche Diskussion mit Belegen bei Schneckenburger-Broschek 183 f.
  4. Neben Figuren mit eindeutigen Beizeichen und solchen ohne finden sich fünf in Pontifikalkleidung, von denen der segnende Bischof links unten als Bonifatius, Gründer der ersten Ansiedlung, und die übrigen als ebenfalls mit dem Stift in enger Beziehung stehende Ordinierte verstanden werden. Etliche der genannten und mutmaßlich dargestellten Personen lassen sich in den Altartituli des Hrabanus Maurus (Nr. 3) wiederfinden, sei es als Patrone oder über ihre Reliquien, oder ihnen waren jüngere Altäre bzw. Vikariate (Cyrillus, Elisabeth) zugeeignet. Andere wie Ottilie oder Lioba (Altar der Nordapsis, Nr. 3/V) stehen dem Orden nahe, die hl. Elisabeth dem landgräflichen Schutzherrn.
  5. Vgl. Wiedemann, Hersfelder Altar 108.
  6. Brouwer, Fuldensium antiquitatum liber II, 153; vgl. auch Schwarz, Hersfelder Pfaffensturm 17. Die Brouwersche Liste enthält neben Cyrillus noch drei Namen, die im Trierer Paulinusfund, vgl. DI 70 (Trier I), Nr. 89, vorkommen, nämlich Constantius und Iustinus, ggf. auch Iovinianus bei Brouwer statt Iovianus, und außerdem noch Thebäer in beiden.
  7. Ausführlich diskutiert bei Schneckenburger-Broschek 183.
  8. Ausführlich diskutiert ebd. 184–186, zur Forschung auch ebd. 162. Zur Kirche und zum Altar vgl. Meißner, Reglerkirche (2011), durchaus kritisch rezensiert von Rainer Müller: Rezension von: Karl-Heinz Meißner: Die Reglerkirche in Erfurt und ihr Altar, Berlin: Lukas Verlag 2011, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 5 [15.05.2013], URL: http://www.sehepunkte.de/2013/05/21820.html, wo anders als bei Schneckenburger-Broschek 185 bezweifelt die Wirksamkeit der Regler-Werkstatt bis 1490 angenommen wird.
  9. Überblick über die Datierungsansätze bei Schneckenburger-Broschek, Altdeutsche Malerei 161, Anm. 2. Ergänzend sei mitgeteilt, daß Wiedemann, Hersfelder Altar 100 mit Fischel auf um oder nach 1480 datiert, Richter, Hersfelder Altar, in: Schatzkunst 800–1800, 78 auf um 1480; Meißner, Reglerkirche 97 auf um 1480/89.
  10. Schneckenburger-Broschek, Altdeutsche Malerei 163 sekundär nach Muzika, Schrift 391 f., dieser Typ ist gleichzusetzen mit dem in Stromer, Gespornte Lettern.

Nachweise

  1. Holtmeyer, BuKdm. Cassel-Stadt I, Taf. 152–154.
  2. Bramm, Hersfelder Altar (Abb.).
  3. Schneckenburger-Broschek 162–186, 163 Zitate, 168 f. Zitate, Abb. 112 (Inschriften).
  4. „Mittelalterliche Retabel in Hessen“, online-Edition, vgl. https://www.uni-marburg.de/de/fb09/khi/forschung/forschungsprojekte-detailseiten/dfg-forschungsprojekt-mittelalterliche-retabel-in-hessen (Stand: 04.08.2022), bearbeitet von Karina Steege, vgl.: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/3483/1/Hersfeld_Altarfluegel_20843540.pdf, Zitat der Beischriften S. 7 und umfangreiche weitere Literatur zum Altar (Stand 27.7.2021).
Addenda & Corrigenda (Stand: 04. August 2022):

Hinweis zu Kommentar und Nachweisen:

Die neueste ausführliche und alle Aspekte des Objektes umfassende Analyse des Hersfelder Altars findet sich in der Dokumentation des von der DFG 2012 bis 2015 geförderten Projektes „Mittelalterliche Retabel in Hessen“ (http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:16-artdok-34830), das zusätzlich zurate zu ziehen ist.

Dort wird die Beschriftung im Kapitel „Ikonographie“ des rechten Flügel zwar behandelt, doch nicht als Zitat der Namenbeischriften, sondern nur deren Inhalt per Identifizierung der Heiligen durch die Namen im Genitiv; damit könnte das Vorhandensein entsprechender Reliquien angezeigt sein.

Weiterführende Literatur in Auswahl: Richter, Thomas, Kat. Nr. 23: Hersfelder Altar, in: Richter, Thomas und Schmidberger, Ekkehard (Hg.): Schatzkunst 800 bis 1800. Kunsthandwerk und Plastik der Staatlichen Museen Kassel im Hessischen Landesmuseum Kassel, Wolfratshausen 2001, 78-81. Wiedemann, Ursula, Ein besonderer Anziehungspunkt unseres Museums. Der Hersfelder Altar, in: Bad Hersfelder Jahresheft, Bd. 87 (1987), 97–108.

Zitierhinweis:
DI 91, Hersfeld-Rotenburg, Nr. 89 (Sebastian Scholz und Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di091mz14k0008904.