Inschriftenkatalog: Landkreis Hersfeld-Rotenburg

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 91: Hersfeld-Rotenburg (2015)

Nr. 55 Bad Hersfeld, Frauenberg/ Alter Kirchweg 36/37, Kapelle mit Beinhaus 1. V. 15. Jh.

Beschreibung

Gewändeteile im Mauerrest des Beinhauses, westlich der heutigen Jugendbildungsstätte. In eine teilweise gefestigte Mauer ist ein Gewände ohne Sturz eingefügt, das, nach der fugenlosen Verbindung von Sohlbank und Pfosten zu schließen, ein Fenster gewesen sein könnte; die Schwelle der zugemauerten Öffnung zeigt keine Abtretung. Es könnte sich daher auch um eine verschließbare Nische gehandelt haben. Auf der heutigen Ostseite erkennt man an den Seitenwangen einer Nische kniende Figuren in gotischen Maßwerkblendbögen aus rotem Sandstein, links stark zerstört, rechts besser erhalten und höher. Dort über dem Bogen eine kleinere, ebenfalls kniende Figur oder richtig im Kniefall (rechter Fuß auf der Bogenspitze aufgesetzt) verharrende Figur, deren Gesicht senkrecht aus der Bildebene schaut; man erkennt noch Augen, Locke und den schmalen Streifen eines Flügels, der aber auch als skapulierartiger Überwurf gedeutet wurde.1) Links davon, von unten nach oben zu lesen, ein Schriftrest.

Maße: H. (Fragm.) 61, B. (gesamt) 172, B. (Gewände) 17, Bu. 4,5–5 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versal der Majuskel, erhaben.

© Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Brunhild Escherich) [1/3]

  1. Miser(er)ea) [– – –]

Übersetzung:

Erbarme dich …

Kommentar

Der Text ist so gewiß nicht vollständig, denn entweder wird der Adressat der Fürbitte (Gott, Christus) angesprochen oder auch regelmäßig die vom Erbarmen profitierende Person (mei, nobis, sui) genannt. So läßt sich der Textzusammenhang auf Grabmälern, Fenstern, Skulpturen und anderem mehr nachverfolgen. Die Position der Inschrift im Verhältnis zur Ausrichtung der Knienden zeigt an, daß es sich hier nicht um den Beginn einer den präsumtiven Bogen eines Eingangs oder Fensters begleitenden Inschrift handelt. Die leichte Biegung am Wortende nach links steht dem nicht entgegen, da das Objekt stark verändert wurde.

Auf dem Frauenberg lag, wie man seit Vonderaus Grabungen von 1929 weiß, die erste Pfarrkirche von Hersfeld mit einem umgebenden Friedhof, der 1590 (Nr. 219) an den Fuß des Berges verlegt wurde. Im 12. Jahrhundert wurde die Pfarre in die Marktkirche (Stadtkirche) in der Stadt verlegt. Eine Kapelle – vom 14. bis 16. Jahrhundert soll es eine Frauenklause dort gegeben haben – existierte weiter, wie auch der Platz weiter für Bestattungen genutzt wurde.2) Darauf bezieht sich die Inschrift, die wohl als Incipit des Bußpsalms 51 (hier PsG 51,3) anzusehen ist, weil dieser regelmäßig bei Totenmessen und vor allem bei Prozessionen auf den Friedhof und an das Beinhaus gesungen wurde.3) Die Zuordnung zur Frauenklause bestätigen Frisurenteile der Dargestellten und bei den beiden unteren Figuren herabhängende Schleier. Die kleine Figur rechts oben stellt einen Engel dar (Ausfallschritt, ohne Kopfbedeckung).

Trotz Versal und langem s ist die Schrift in ein Zweilinien-Schema gezwängt, dabei aber e und s deutlich unterschieden, allerdings sind diese Minuskeln sogar leicht größer als der Versal. Während die wenigen erhabenen Minuskeln angesichts des Buchstabenbestandes eher unauffällig bleiben (das i oben verstümmelt), gibt das symmetrische unziale M mit Innenschwellung, unten geschlossenen Bögen und Nodus am Schaft durchaus einen datierenden Hinweis auf frühestens die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts, als mit den erhabenen Minuskeln der Pestinschrift von ca. 1360 (Nr. 34) und der Innenschwellung beim D strukturell ähnliche Phänomene vorkommen; auf dem Frauenberg sind die Minuskeln aber nicht so breit liniert und verfügen über regelmäßige Brechungen, sind also sicher jünger.

Über die Frauenklause ist wenig bekannt, so daß man die Stiftung einer Vikarie im Jahre 14224) gern mit Gründungsphantasie befrachtet. Damals wurde angeblich die Stiftung der Michaelskapelle auf dem Marienberg bei Hersfeld bestätigt und samt anderer Vikarien bestimmten Vorschriften unterworfen.5) Es handelt sich aber wirklich nur um die Stiftung einer Vikarie ebendort.6) Die Michaelskapelle, die man in enger Verbindung zum Beinhaus und wohl auch zu dem vorliegenden Baurest sehen muß, dürfte selbst also älter gewesen sein. Auf dem Körper der rechten größeren Figur glaubt man rechts der zusammengelegten Hände noch die Ziffern 14, die 4 in arabisch-gotischer Schreibweise, und rechts davon noch Ziffernreste (kleine 0 und drei Quadrangel? für 3?) zu sehen. Das reicht nicht aus, um eine Datierung nach 1400 abzusichern, zumal auch die manieristische Mischung der Schriften wenig zu einer Eingrenzung beitragen kann. Der oben vorgeschlagene Zeitkorridor gibt also den eher engeren Datierungsrahmen an, den man aber aufgrund der Faltenlagen und der stabilen Frauenfiguren7) kaum ins 14. Jahrhundert ausdehnen kann.

Textkritischer Apparat

  1. Nur misere Wiegand; über dem r ist eindeutig ein Kürzungszeichen (s-förmiger Haken) zu sehen.

Anmerkungen

  1. So Bezzenberger 55.
  2. Alles nach Wiegand 202, dort auch mehr zu Veränderungen seit dem 19. Jahrhundert.
  3. Vgl. Pauly, Stifte 339 zur Prozession der Fabrikbruderschaft von Liebfrauen in Oberwesel am Morgen des Bruderschaftstag, an dem nahe des Beinhauses der Psalm „Miserere“ (PsG 51) und am Haus selbst die Oration „Deus in cuius miseratione animae fidelium requiescunt“ angestimmt wurde. In St. Marien in Trier-Pfalzel zog die Stiftsprozession an Allerheiligen zum Friedhof und zum Beinhaus, wo während der Asperges u. a. der Bußpsalm „Miserere“ gesungen wurde, vgl. Heyen, St. Marien-Stift 232.
  4. Vgl. unpräzise Wiegand 202. Meist wurde übersehen, daß Hafner, Frauenberg 2 f. und ders., Kirchliche Verhältnisse 147 aus den Schriftquellen dazu eine Einschränkung dergestalt erwog, daß es sich um Pfründner beiderlei Geschlechts gehandelt habe, also nicht zwingend um eine länger existierende klosterähnliche Gemeinschaft.
  5. Vgl. HStA Marburg, Best. Urk. 56, Nr. 845.
  6. Vgl. ebd. Nr. 844.
  7. Frau Dr. Susanne Kern, Mainz, ist für nützliche Hinweise zu den Figuren zu danken.

Nachweise

  1. Bezzenberger, Beinhaus 55 mit Umzeichnung und Abb. S. 54.
  2. May, Hersfelder Inschriften 30 u. 25 (Abb.).
  3. Wiegand, Kulturdenkmäler 203 mit Abb. S. 204.

Zitierhinweis:
DI 91, Hersfeld-Rotenburg, Nr. 55 (Sebastian Scholz und Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di091mz14k0005507.