Inschriftenkatalog: Landkreis Hersfeld-Rotenburg

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 91: Hersfeld-Rotenburg (2015)

Nr. 48† Bad Hersfeld, Stiftskirche/Stiftsruine 13.–14. Jh.

Beschreibung

Bildbeischriften auf Tafeln aus Marmor, die sich links und rechts an der Wand des Ostchores befanden, unmittelbar hinter dem Treppenaufgang zum Chor.1) Die linke Tafel zeigte in der Mitte den thronenden Christus, der von Propheten umstanden war, die seine Ankunft vorhergesagt hatten. Die Szene wurde begleitet von der Inschrift (A), doch wird ihr genauer Anbringungsort von Brouwer nicht vermerkt. Die Verse der Inschrift (B) befanden sich umlaufend auf dem viereckigen Rand der Tafel.2) Auf der rechten Tafel thronte Christus in ähnlicher Weise, diesmal umgeben von seinen Jüngern. Auf der Bildfläche befand sich Inschrift (C), während die Verse von (D) wiederum auf dem Rand umliefen.

Nach Brouwer.

  1. A

    Ecce virgo concipiet et pariet filium et vocabitur nomen eius Emmanuel.3)

  2. B

    Patres bis seni divino pneumate pleniOrtum nascentis clauso de ventre parentisCernunt, effantur, praesignant, testificantur,Pectore, sermone, factis, scriptia) ratione.

  3. C

    Ecce nos reliquimus omnia et secuti sumus te, quid ergo erit nobis?4)

  4. D

    Quaerunt scituri, quae praemia sint habituriCuncta relinquentes mundi Christumque sequentes.Quos consessuros sibi censoresque futurosPromittit, mundo cum venerit ille secundo.

Übersetzung:

(A) Siehe, die Jungfrau wird empfangen, und sie wird einen Sohn gebären, und sein Name wird Emmanuel sein.

(B) Zwölf Väter, erfüllt vom göttlichen Geist, sahen im Herzen, weissagten in der Predigt, bezeichneten voraus in den Taten, bezeugten durch den Sinn der Schrift die Geburt des Kindes aus dem verschlossenen Bauch der Mutter.

(C) Siehe, wir haben alles zurückgelassen und sind dir gefolgt, was also wird uns zuteilwerden?

(D) Sie fragen, weil sie wissen wollen, welche Belohnung sie besitzen werden, die sie alle Dinge der Welt zurücklassen und Christus folgen. Und er verspricht, daß sie für ihn zu Gericht sitzen und Richter sein werden, wenn er zum zweiten Mal in die Welt kommen wird.

Versmaß: Zweimal vier Hexameter (B, D), leoninisch zweisilbig rein gereimt; Vers 3 und 4 der Inschrift (B) nach dem Prinzip der „singula singulis“ aufgebaut.

Kommentar

Die Thematik der Darstellung und der Inschriften liefert keine Hinweise für die Datierung, doch kann man davon ausgehen, daß die beiden Tafeln erst nach dem Brand der Klosterkirche 1037/38 geschaffen wurden. Das führt zu einem weiten Datierungshorizont, der sich zwischen 1144, als die wiederhergestellte Kirche geweiht wurde, und dem Ende des 16. Jahrhunderts bewegt, bevor das Kloster reformiert wurde. Aus der Verwendung gereimter Hexameter läßt sich jedoch ein differenzierterer Datierungsansatz gewinnen. In der Zeit vom 12. bis zum 15. Jahrhundert wurden in der weiteren Umgebung des Bearbeitungsgebiets vorwiegend gereimte Hexameter und Distichen verwendet.5) In den letzten 20 Jahren des 15. Jahrhunderts setzt dann die zögernde Verwendung ungereimter Distichen ein.6) In Trier mit seinem dichten Bestand an Inschriften des 13. Jahrhunderts ist zu beobachten, daß die reinen Hexameter die Distichen in dieser Zeit fast völlig verdrängen.7) Für Mainz,8) Kloster Eberbach (Rheingau-Taunus-Kreis),9) Rhein-Hunsrück-Kreis,10) und Worms11) lassen sich dann im 14. Jahrhundert ausschließlich gereimte Hexameterdichtungen feststellen, während Distichen fehlen. Da die beiden einzigen metrischen Inschriften in Hersfeld, die sich sicher dem 12. Jahrhundert zuweisen lassen, in gereimten Distichen abgefaßt sind,12) ist es wahrscheinlich, daß die vorliegenden Inschriften im 13. oder 14. Jahrhundert entstanden.

Textkritischer Apparat

  1. Nicht factis scriptis wie Schlosser.

Anmerkungen

  1. Brouwer, Fuldensium antiquitatum: „Chori vestibulo edito loco, ad quem gradibus aditur, ex candido marmore hinc et inde apud Odei ianuam adstructae tabulae quadratae veneranda imaginum sculptura.“
  2. Brouwer, Fuldensium antiquitatum: „Versus autem per tabulae marginem in quadrum excurrunt.“
  3. Jes 7,14.
  4. Mt 19,27.
  5. Vgl. dazu Auswertung gereimter Inschriften durch den Bearbeiter in DI 43 (Rheingau-Taunus-Kreis) Nrr. 103, 99 mit Anm. 5.
  6. Vgl. DI 70 (Trier I) Nr. 282 (1474); DI 2 (Mainz) Nr. 195 (1482); DI 12 (Heidelberg) Nr. 205 (1512); DI 29 (Worms) Nr. 282 (um 1479?), Nr. 317 (1488); DI 34 (Bad Kreuznach) Nr. 180 (1494); DI 38 (Bergstraße) Nr. 67 (1482); DI 43 (Rheingau-Taunus-Kreis) Nr. 274 (nach 1486).
  7. DI 70 (Trier I) Nrr. 171, 173, 174, 175, 176, 178, 185, 186, 189, 192, 193. Dagegen weisen nur Nr. 188 ein Distichon in Verbindung mit einem Hexameter und Nr. 190 ein Distichon in Verbindung mit neun Hexametern auf.
  8. Rüdiger Fuchs, Britta Hedtke, Susanne Kern: Mainz, Nr. 35, in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di002mz00k0003506; Rüdiger Fuchs, Britta Hedtke, Susanne Kern: Mainz, Nr. 36, in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di002mz00k0003604; Rüdiger Fuchs, Britta Hedtke, Susanne Kern: Mainz, Nr. 37, in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di002mz00k0003702; Rüdiger Fuchs, Britta Hedtke, Susanne Kern: Mainz, Nr. 38, in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di002mz00k0003800; Rüdiger Fuchs, Britta Hedtke, Susanne Kern: Mainz, Nr. 39, in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di002mz00k0003900.
  9. DI 43 (Rheingau-Taunus-Kreis) Nrr. 21, 63, 64, 66, 101.
  10. DI 60 (Rhein-Hunsrück-Kreis I) Nrr. 21, 28, 40, 47.
  11. DI 29 (Worms) Nrr. 97, 98.
  12. Hier Nrr. 19, 20.

Nachweise

  1. Brouwer, Fuldensium antiquitatum libri IV, 154 (A–D).
  2. Brouwer, Hrabani Mauri poemata de diversis 106 (Migne, PL 112, Sp. 1682) (B, D).
  3. Schmincke, Antiquitates Hersfeldenses 8.
  4. Schlosser, Schriftquellen 338 (A–D).

Zitierhinweis:
DI 91, Hersfeld-Rotenburg, Nr. 48† (Sebastian Scholz und Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di091mz14k0004806.