Inschriftenkatalog: Landkreis Hersfeld-Rotenburg

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 91: Hersfeld-Rotenburg (2015)

Nr. 42† Bad Hersfeld, Rathaus, Weinstraße 16 1389

Beschreibung

Glockenrede auf der sogenannten Sturm- und Feuerglocke. Die Glocke hing bis 1942 im Dachreiter des Rathauses und mußte dann zum Einschmelzen abgegeben werden.1) Die Inschrift lief auf der Schulter um. Auf der Flanke befand sich das Relief der in einem Buch lesenden Maria. Die Lesungen von Schoof und unabhängig davon von Hörle dürften nicht stimmen. Bei Schoof, der die Inschrift als rätselhaft bezeichnete, erschließt sich ein Sinn auch nicht annähernd. Bei Hörle (I) befremden einzelne Wörter. Deshalb wird eine hypothetische Rekonstruktion des Textes (II) angeboten.

Maße: Nach Hörle (I), Rekonstruktion (II).

Schriftart(en): Gotische Majuskel.

  1. I

    + SIT ∙ MEA ∙ VOX ∙ GRATA ∙ PVGIL ∙ ELIZABET ∙ QUE ∙ BEATA ∙A(NNO) D(OMINI) M CCC LXXXIX +a)

  2. II

    + ESTb) ∙ MEA ∙ VOX ∙ GRATA ∙UYGIL ∙ ELIZABET ∙ QUE ∙ BEATA ∙A(NNO) D(OMINI) M CCC LXXXIX +

Übersetzung:

(I) Meine Stimme sei angenehm. Elisabeth, die heilige Kämpferin. Im Jahre des Herrn 1389.

(II) Meine Stimme ist/sei angenehm und die hl. Elisabeth die Wächterin. Im Jahre des Herrn 1389.

Versmaß: Hexameter, leoninisch zweisilbig rein gereimt.

Kommentar

Zwar reimte man bei den wenigen mit EST MEA VOX GRATA eingeleiteten Glocken zumeist auf VOCATA,2) um den Namen der Patronin anzuschließen, oder man wählte mit VOX MEA SIT GRATA TIBI VIRGO MARIA BEATA eine zweite der Lesung Hörles noch näher stehende Version,3) doch verläßt die rekonstruierte Version der Inschrift (II) den entsprechenden Kontext bewußt. Das ist gut nachvollziehbar, weil diese Glocke auf dem neuen Rathaus hing und die Wachtfunktion4) keine zehn Jahre nach dem Konflikt der Vitalisnacht (Nr. 40) eine besondere Rolle spielte; damals sollte die Stadt in einem perfiden Überraschungsangriff einer Koalition von Rittern und Stiftstruppen bezwungen werden. Diese Deutung ist deshalb naheliegender als die Lesung Hörles mit dem seltenen und bei einer Heiligen wie Elisabeth anstößigen Wort PVGIL (Faustkämpfer, Boxer) als dezidiert männliche Bezeichnung5). Die Wahl der Patronin geschah offensichtlich mit Blick auf die hl. Elisabeth, die Hausheilige der Landgrafen, die als Bündnispartner gegen den Abt, den alten Gegner in der Vitalisnacht und in vielen anderen Konflikten, gelten dürfen.

Für diese Lesung samt Deutung ist nicht das Incipit entscheidend, dessen Verlesung nicht leicht erklärt werden kann, sondern die Notwendigkeit, ein zweisilbiges Wort mit zwei kurzen Silben ohne längende oder verschleifende Wirkung einzusetzen. In der Tat scheint die Schoofsche Lesung (Anm. a) den neuen Vorschlag zu stützen, da sie dem mit pygil (PYGIL) nahe kommt und die kaum zu verlesende seltene Endung IL stützt. Das L der Majuskel ist ein charakteristischer Buchstabe, der nur durch einen massiven Gußfehler zu verderben ist, während V, so wird man Hörles U sehen dürfen, und Y im Zweifelsfall sehr ähnlich aussehen; das P wurde in den Lesungen dem VGIL vielleicht nur deshalb vorangestellt, weil kein anderes Wort als PVGIL die entsprechende Buchstabenfolge aufweist. Die Lesung könnte durch eine seitenverkehrte Version der Unzialvariante U provoziert worden sein.

Textkritischer Apparat

  1. Die Lesung bei Schoof: „sim mea vox grema (?) pygil Elisabetha qua Behma a(nno) d(omini) N CCC L XXXIX“.
  2. SIT ist natürlich nicht auszuschließen, vgl. Kommentar.

Anmerkungen

  1. Wiegand, Kulturdenkmäler 197; erw. bei Frank, Rathaus 27 f.; Kempe, Geläut 18 und Kempe, Glocke 20 führt dazu an, wegen Übereifer und unterlassener Prüfung sei die Ratsglocke sehr früh abgegeben und anders als die Glocken der Stadtkirche nicht mehr gerettet worden.
  2. Die oft verlesene Glocke von 1404 in Hexham (United Kingdom, Northumberland) ist ein häufig zitiertes Beispiel, auch die von Goedereede (Niederlande, Prov. Südholland) von 1518. Hingewiesen sei auch auf EST MEA/SVA VOX BAM BAM …, vgl. künftig DI Wetterau I, in Vorbereitung, zu Butzbach 1453.
  3. Vgl. Hinweise in DI 64 (Querfurt) Nr. 85, Anm. 4.
  4. Die Wachtfunktion von Glocken schlug sich vor allem in ihren monologischen Funktionsbeschreibungen nieder, aber auch konkreter etwa 1262 in Aachen, vgl. DI 32 (Aachen, Stadt) Nr. 9, und 1549 in Trier, vgl. DI 71/1 (Trier II) Nr. 447.
  5. Zumindest schwierig nachzuvollziehen ist die Deutung von PUGIL als Umschreibung des Klöppels, so Ziegler. Die Übersetzung ebd.: „Es sei meine Stimme willkommen als Kämpferin für Elisabeth, die da selig ist.“ übersieht die Schwierigkeit einer Jambenkürzung (quae statt -que).

Nachweise

  1. Schoof, Hess. Glockenstudien I 313.
  2. Schoof, Rathaus 50 („rätselhafte Inschrift“).
  3. Hörle, Hersfelder Inschriften (vor 1513) 126.
  4. Kempe, Geläut 18.
  5. Ziegler, Hersfelder Rathaus 17.

Zitierhinweis:
DI 91, Hersfeld-Rotenburg, Nr. 42† (Sebastian Scholz und Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di091mz14k0004202.