Inschriftenkatalog: Landkreis Hersfeld-Rotenburg

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 91: Hersfeld-Rotenburg (2015)

Nr. 19 Bad Hersfeld, Museum, aus Stiftskirche/Stiftsruine         1144?/ 1. H. 12. Jh.

Beschreibung

Mahninschrift. Die Tafel aus gelbgrauem Sandstein war auf der rechten Seite des Westchors angebracht und steht heute im Museum (Inv. Nr. D 89/60). Der Stein ist oben, unten und an der linken Seite beschnitten, wodurch der größte Teil des Textes verlorenging. Die gesamte Inschrift wurde jedoch von Christoph Brouwer 1617 im Anhang zu seiner Edition der Gedichte des Hrabanus Maurus gedruckt. Als Worttrenner dienen halbkugelig vertiefte Punkte.

Ergänzt nach Brouwer.

Maße: H. (Fragm.) 34, B. 58, Bu. 4 cm.

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

  1. [SICVT AGRI FLORES SIC MVNDI CONSTAT HONORESTEMPORE STARE BREVI CONDITIONE LEVI1)MVNDVS TRANSIBIT SED NON OMNINO PERIBITEIVS MVTATVS IN MELIORA STATVSPORRO DIVINA CVRA SVNT CONDITA BINAANGELVS AC ANIMA FOEDE]RE [FIN]IT[IMA][VTRAQVE FINE CARENT SED F]INI CETERA ∙ PARENT ∙ /[QVAE MARIS VNDA TEGIT T]ERRA ∙ VEL ∙ AVRA ∙ VEHIT ∙ /[HINC HOMO DISCERNE] QVID SIS ∙ PACISQ(VE) SVP(ER)NE /[TENDENS AD PATRIA]M QVERE ∙ TENEQ(VE) VIAM /[CORPORE CASVRVS A]NIMA NV(N)QVA(M) MORITVRVS[IVNCTA SPE FIDEI DILIGE DONA DEI]

Übersetzung:

Es ist bekannt, daß so wie die Blumen des Feldes auch die Ehren der Welt nur kurze Zeit in vergänglichem Zustand bestehen.1) Die Welt wird vergehen, aber sie wird nicht völlig zugrunde gehen, weil ihr Zustand zum Besseren gewendet worden ist. Ferner sind durch die göttliche Fürsorge zwei Dinge gegründet worden: Der Engel und die ihm durch den Bund (das Neue Testament) nahe Seele; beide haben kein Ende, aber das übrige, das die Flut des Meeres und die Erde bedeckt oder die Luft trägt, gehorcht dem Ende. Erkenne daraus, Mensch, was du bist, und strebe zum Vaterland des himmlischen Friedens, und suche und halte den Weg. Körperlich zwar hinfällig, wirst du durch deine Seele niemals sterben. Liebe das mit der Hoffnung des Glaubens verbundene Geschenk Gottes!

Versmaß: Sechs elegische Distichen, leoninisch zweisilbig rein.

Kommentar

Die rein kapital geprägte Inschrift zeigt überwiegend gleichstrichige Buchstaben. Die Sporen an den Schaft- und Balkenenden sind selten als Dreiecke (nur bei E) ausgeführt, sondern meistens als kleine im rechten Winkel angesetzte Striche gebildet. Das weit geöffnete A ist teils spitz, teils trapezförmig und trägt einen nach beiden Seiten überstehenden Deckstrich. Die Balken des E sind gleich lang, der Mittelteil des M reicht bis zur Zeilenmitte, und O und Q sind nur annähernd kreisrund. Das R zeigt eine geschwungene Cauda.

Mit der Bauinschrift aus Braach von 1133 (Nr. 20) liegt datiertes Vergleichsmaterial aus dem Bearbeitungsgebiet vor, das vom Schriftduktus her ähnlich ist. Hier wie dort wurden nur Buchstaben der Kapitalis benutzt, trapezförmiges und spitzes A stehen nebeneinander, und die Buchstaben sind im Wesentlichen gleichstrichig. In Braach sind die Sporen allerdings als Dreiecke gebildet. Inschriften aus anderen Regionen sind für eine engere Datierung des Hersfelder Fragments nur bedingt aussagefähig. Die kurze Inschrift für den 1119 verstorbenen Lorscher Abt Benno weist zwar einen Unzialbuchstaben auf, zeigt aber eine ähnliche Buchstabencharakteristik und Sporenbildung wie das Hersfelder Fragment.2) Gut vergleichbar mit der Hersfelder Inschrift ist auch die nicht lange vor 1132 entstandene Inschrift des Juliana-Reliefs im Wormser Dom. Sie enthält keine Unzialbuchstaben und weist ähnliche Formen bei A und M auf.3) Auch der gesamte Schriftduktus und die Form der Sporen gleichen der Ausführung des Hersfelder Steins. Das ebenfalls von Kapitalisbuchstaben geprägte Schriftbild der Trierer Weiheinschrift aus St. Paulinus von 1148 besitzt zwar einen insgesamt ähnlichen Duktus, doch ist das A hier stets trapezförmig, und die Sporen sind als Dreiecke gebildet; die Schrift dieser Inschrift gilt allerdings als retardierend.4) Die Parallelen zu dem Vergleichsmaterial aus der 1. Hälfte des 12. Jahrhunderts erlauben es, die Inschrift ebenfalls in diesen Zeitraum einzuordnen. Da der Westchor als letzter Teil der neuen Basilika zwischen etwa 1100 und 1144 errichtet wurde,5) dürfte die Inschrift spätestens 1144 nach der endgültigen Fertigstellung der Kirche ausgeführt worden sein.

Der Westchor diente als Laienchor. Adressaten der Mahninschrift waren demnach die Laien, deren Frömmigkeit gefördert werden sollte. Auf der gegenüberliegenden Seite des Chores befand sich eine weitere Mahninschrift (Nr. 20), die thematisch und durch die Textstruktur mit dieser Inschrift verknüpft ist.

Anmerkungen

  1. Anspielung auf Jes 40, 6 f.: „omnis caro faenum et omnis gloria eius quasi flos agri / exsiccatum est faenum et cecidit flos quia spiritus Domini sufflavit in eo vere faenum est populus.“.
  2. DI 63 (Odenwaldkreis) Nr. 1 mit Abb. 1 und 2.
  3. DI 29 (Worms) Nr. 18 mit Abb. 7.
  4. DI 70 (Trier I) Nr. 136 mit Abb. 80; Fuchs, Weiheinschriften 34–36 mit Abb.
  5. Ludwig, Stiftsruine 28 f.

Nachweise

  1. Brouwer, Hrabani Mauri poemata de diversis 105 (Migne, PL 112, Sp. 1681).

Zitierhinweis:
DI 91, Hersfeld-Rotenburg, Nr. 19 (Sebastian Scholz und Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di091mz14k0001908.